Anwesend sein

Anwesend sein

Versuch über den mütterlichen Raum im Tanz

Versuch über den mütterlichen Raum im Tanz

Autor: Cornelia Freise
Kategorie: Mann/Frau
Ausgabe Nr: 63

Der Raum ist eine weibliche Dimension, die in unserer Kultur des aktiven Tätigseins wenig beachtet wird. Den Raum zu halten bedeutet, aufmerksam anwesend zu sein und dem oder der anderen die inneren Prozesse zu ermöglichen, die eine Bewusstwerdung und Heilung bewirken können. Im Tanz und im Halten kann sich der mütterliche Raum ohne Bewertung offenbaren.

Es gibt einen heiligen Raum in jeder Beziehung. 

Diesen Raum zu fühlen und ihm zu erlauben, still zu bleiben – leer von
unseren Gedanken, Wünschen, unserer Furcht und Erwartung
– führt uns in das tiefe Geheimnis des Lebens.

Raum zu
würdigen und zu respektieren ermöglicht dem Leben, sich
selbst zu erneuern. Es ist dieser Raum, wo Heilung und
Transformation geschehen können.

Das Weibliche ist die
Hüterin des Heiligen Raumes. 

Angela Fischer

Raum an sich

Der Raum ist eine wenig geschätzte Größe in unserer Kultur. Wir füllen und benutzen ihn weitgehend unbewusst. Ob es sich dabei um innere oder äußere Räume, unseren Körperraum oder die ganze Erde als Raum handelt, ist nur ein gradueller Unterschied. Unser Verhältnis zum Raum ist heutzutage von dem Begriff Zugriff geprägt. Wir greifen darauf zu, auf die inneren Ressourcen und die äußeren, um unseren Gestaltungswillen durchzusetzen. Dem liegt eine Bewusstseinshaltung zugrunde, die im Tun das Maß der Dinge sieht. Sie ist sehr häufig unbewusst für die Potenz des Raumes und seine Eigenheiten.

Raum ist eine innere und eine äußere Dimension, eine Tiefe und eine Oberfläche. In der heutigen Zeit wird fast nur noch die äußere Ebene beachtet. Dekoration und Oberflächengestaltung spielen eine ungleich größere Rolle als noch vor einigen Jahrzehnten. Sie werden häufig gewechselt im Lauf der Jahreszeiten, sind aber nicht mehr von deren Sinn geprägt, sondern werden von Moden regiert. So wird der Raum nicht mehr von innen her erfasst und erfühlt. Folglich kommt es zu Grenzüberschreitungen auf verschiedenen Ebenen zwischen Menschen untereinander und ihrer Mitwelt, die selten als solche wahrgenommen werden. Das passiert zum Beispiel, wenn der Abbau von Erdöl aus den Teersanden ganze Landstriche völlig verödet zurücklässt, die teilweise eine Größe von Ländern haben.

Weiblicher Körper im Tanz

Halten und Hüten

Raum ist eine weibliche Kategorie. Er hat mit Halten zu tun. Ein Zimmer oder ein Haus hält uns, ermöglicht es uns zu entspannen, zu schlafen, zu kochen, das Leben zu genießen, ohne den Elementen ausgesetzt zu sein. Der Körper erlaubt es dem Geist und der Seele hier auf der Erde Erfahrungen zu machen. Er ist der Ort um anzukommen und da zu sein in dem, was wir Leben nennen. Wir kommen durch einen weiblichen Körper in diese Welt, der unserer Seele durch sein Dasein ein Kleid webt. Die Erde ist im Weltraum der Ort, wo das alles möglich ist, weil sie über unzählige Jahrmillionen den Lebensraum so entwickelt und bereitet hat, dass der andauernde Prozess der Schöpfung hier stattfinden und menschliches Bewusstsein sich verkörpern kann.

Das Halten und das Warten sind kulturell unterschätzte Qualitäten, denen nur nachrangige Wertigkeit zugestanden wird. Beide haben mit Ruhe zu tun: Wachsen lassen und Loslassen durch Öffnen, ohne Tun oder Bewegung im Sinne von Aktivität. Der mütterliche Raum ist vom Dasein geprägt und auf das Dasein ausgerichtet. Halt(en) bezeichnet unter anderen Bedeutungen in der deutschen Sprache einen Stopp. Das heißt, im Moment an dem Ort auf der Erde, wo wir uns gerade befinden, anzudocken und daraus Ruhe zu schöpfen.

Tanz, Körper und müttlericher Raum

Wir können eine Festigkeit in der Erdung finden. Meist ist das ein unbewusster Vorgang, der sich in uns und im Körper vollzieht, ein Innehalten. In diesem Augenblick sinkt etwas in uns nach unten. Übermäßige Spannung wird abgegeben. Das Spürbewusstsein in den Zellen erlaubt ein Ankommen und Loslassen, das uns erleichtert. Des weiteren ist es möglich, dass sich andere Bewusstseinsschichten in uns öffnen und innere Dimensionen zugänglich werden.
Bei diesem Vorgang wirken in uns viele verschiedene Elemente zusammen, die ich im Folgenden näher betrachten möchte. Zunächst möchte ich klar stellen, dass ich nicht nur den Körper als solchen im Blick habe, sondern das Zusammenspiel zwischen dem physischen Körper und dem energetischen Körper. Auch wenn diese Ebenen nicht getrennt werden können, ist es zur genauen Schau auf ihre Wechselwirkungen nötig, diese zunächst einzeln in Blick zu nehmen. Ich möchte verschiedene Körperregionen untersuchen.

Körperliches Halten der Aufmerksamkeit

Beginnen wir mit den Füßen. Sie sind der Ort, wo unser Körper den Erdboden berührt. Zur Fortbewegung stellen wir einen Fuß vor den anderen. Nachdem wir als Kinder das Gehen erlernt haben, messen wir in der Regel diesem Phänomen nicht mehr viel Aufmerksamkeit bei, wir nehmen es als selbstverständlich hin. Wir benutzen unsere Muskeln und beachten die Füße nur, wenn sie beispielsweise kalt sind, wehtun oder wir uns fragen, welche Schuhe wir anziehen wollen. Das ist eine äußere Herangehensweise an diesen Körperort.

Der Körper kann aber auch als ein Energiefeld wahrgenommen werden, das den physischen Körper umschließt und durchdringt. In diesem Feld gibt es Bereiche, die mehr oder anders Energie bündeln als andere, genau wie es unterschiedliche Körperfunktionen mit spezifischen Fähigkeiten an bestimmten Orten gibt. Der Vorderfuß hat die energetische Aufgabe, die Erde zu greifen und zu umfassen, was ich als weibliche Funktion einordne, weil es mit dem Ausbreiten und Umschließen zu tun hat. Der Hinterfuß erfüllt die Funktion, uns fest und punktuell zu verankern, eher eine männliche Qualität. In den Füßen befinden sich Energiezentren, die das Herzchakra spiegeln und hinunter in die Erde gehen. Das Auftreten mit den Füßen ist somit eine mehr oder weniger bewusste Bejahung des Moments. Es erdet unser Sein und bestärkt das Ja-Sagen im Körper. Wenn wir bewusst auftreten, indem wir uns an den heiligen Grund unseres Hierseins auf der Erde erinnern, ist die lösende Wirkung des kurzen Innehaltens innerhalb eines Schrittes umso wirkungsvoller. Ein beherztes Dasein (im Moment) mit der Erde.

Cornelia Freise - Tanzen und müttlerlicher Raum

Im Folgenden möchte ich eine Erfahrung beim Tanzen teilen, die eine Teilnehmerin an einem Wochenendseminar machte. Sie verdeutlicht, wie eine Intervention an den Füßen eine tiefere Dimension für die Tanzende öffnete. Über den Körperraum, den sie in dem Augenblick bewusst spürte und bewohnte, erhielt sie einen Zugang zum symbolischen Raum der Imagination, zur Welt der Bilder. Ihr wurde eine Erlebnistiefe geschenkt, die sie tief berührte und von innen nährte.

Während wir den ganzen Körper schüttelten, kam die Leiterin des Seminars zu mir und steckte jeweils einen Finger zwischen meinen großen und den zweiten Zeh. Im ersten Moment tat es mir weh. Ich dachte, »was macht sie da«? Plötzlich wurde in mir ein Schalter umgedreht. Bis zu diesem Moment war meine Absicht beim Schütteln in Richtung loslassen, Blockaden auflösen und so weiter gegangen. Auf einmal stieg tief aus meinem Innersten ein Lachen auf und es war reine Freude zu schütteln. Das Lachen erinnerte mich an das Thema in einer anderen Gruppe: »Das Lachen der Göttin«. Ja, genauso fühlte es sich an. Es war die Göttin, die in mir und durch mich lachte.

Einen Moment später befand ich mich plötzlich an einem Ort, der außerhalb von Raum und Zeit existierte. Es war wie auf einem Felsplateau, vor mir war unendliche Weite. Ich schüttelte und lachte tief aus meinem Bauch heraus und fühlte mich energetisch mit anderen Frauen verbunden, die ich nicht sehen konnte, von denen ich dennoch wusste, dass sie da waren und das gleiche taten wie ich. Es war wichtig und hatte einen heilenden Effekt. Ein kaum zu beschreibendes Gefühl von Verbundenheit und Eins-Sein erfüllte mich. Während der ganzen Zeit war ich mir meines Körpers und des Raumes, in dem wir uns befanden, bewusst und gleichzeitig in dieser anderen Sphäre.

Tanz, Körper, Gefühle

Das Tanzerlebnis ermöglichte der Tänzerin ihr individuelles Ich-Bewusstsein für einen Moment zu überschreiten und eine andere Realitätsebene wahrzunehmen, wo wir als Menschen verbunden sind. Durch die empfundene Freude und Heilungsenergie wurde sie ihres Ganz-Seins gewahr.

Ihre wache Anwesenheit im Körperraum und das Ja zu der für sie unangenehmen Intervention, die sie überraschend traf, erlaubte es ihr, in eine andere Dimension in sich vorzudringen. Die Berührung und das Halten ihres Körpers durch eine andere Person, die ihr Bewusstsein auf den leeren Raum ausgerichtet hielt, machte eine Weitung des Bewusstseins möglich. Im mütterlichen Raum des freilassenden Behütetseins wurde eine neue Schicht eröffnet. Beim Nachsinnen über diese tiefe Erfahrung erinnerte ich mich, dass die drehenden Derwische an genau diesem Ort ihres Körpers durch einen Nagel am Boden gehalten werden. Wenn sie das Drehen als unendliches Gebet lernen, macht diese Erdung auch andere Ebenen des Seins ihrer Erfahrung zugänglich.

Müttlerlicher Raum im Tanz

Halten eines Schwingungsfeldes der Achtsamkeit zwischen zwei Personen

Der mütterliche Schutzraum kann auch durch das Halten eines Feldes von Aufmerksamkeit zwischen zwei oder mehreren Personen entstehen. Wenn in einer Gruppe in einer solchen Konstellation getanzt wird, dass eine Person ihre Gefühle, Gedanken und Empfindungen beispielsweise in Bezug auf ein gestelltes Thema zum Ausdruck bringt und die andere diesen Prozess mit ihrer Achtsamkeit hält und bezeugt, dann wird durch die gemeinsame Konzentration ein Schwingungsfeld zwischen beiden geschaffen, in dem etwas Neues wachsen darf und kann. Dieser mütterliche Raum ermöglicht ein Ankommen im eigenen Körper, das ein Loslassen von Anspannung bedeutet, die wir sonst ständig aus der Vergangenheit mit uns herumtragen. Durch dieses Nach-Hause-Kommen in uns selbst, was von einer liebevollen Aufmerksamkeit getragen wird, kann sich die Tanzende für neue Erfahrungen öffnen. […]

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Cornelia Freise
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Versuch über den mütterlichen Raum im Tanz

Der Raum ist eine weibliche Dimension, die in unserer Kultur des aktiven Tätigseins wenig beachtet wird. Den Raum zu halten bedeutet, aufmerksam anwesend zu sein und dem oder der anderen die inneren Prozesse zu ermöglichen, die eine Bewusstwerdung und Heilung bewirken können. Im Tanz und im Halten kann sich der mütterliche Raum ohne Bewertung offenbaren.
 

 

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