Die Entstehung von Ton und Wort aus dem Stein

Die Entstehung von Ton und Wort aus dem Stein

Idee und Nachwirkungen des indoarischen Mythos vom steinernen Himmel

Autor: Clemens Zerling
Kategorie: Spiritualität
Ausgabe Nr: 52

Am Anfang war das Wort. – Oder doch eher: Am Anfang war der Klang. Klang ist Leben. Materie manifest gewordener Klang. Leben ist Schwingung. Materie nur ein winziger Abklang dessen, zeigt uns die Quantenphysik heute. Je mehr wir von unserem verstandesorientierten festmachen wollenden Denken uns in den Fluss des Lebens begeben, umso mehr werden diese Erkenntnisse zur Wirklichkeit.

Alexander der Große: »Wovor fürchtet sich euer Volk am meisten?«
Keltischer Galaterfürst: »Dass uns der Himmel auf den Kopf fallen könnte!«
- Ptolemaios I. Soter, 367/66 – 283/82 .Chr.

 

Zwischen etwa 4000 und 2000 v. Chr. brechen aus den Steppen des heutigen Kasachstan kleinere Stammesverbände von Hirtennomaden auf, um ihrer Heimat den Rücken zuzukehren. Zwingen dramatische Klimaveränderungen dazu, Naturkatastrophen oder Überpopulation? Oder locken unter kargen Bedingungen einfach nur Abenteuer und neue Horizonte? Unter unsäglichen Mühen dringen sie über den Khaiber-Pass durch die Bergwelt des Hindokusch nach Nordindien ein. Um 1200 v. Chr. erreichen sie das heutige Zentralindien und den Iran. Im Iran werden sich diese kriegerischen Ahnen der Inder und Iraner später āryā (Sanskrit = edel) nennen. Aus dieser Selbstbezeichnung schaffen Wissenschaftler im 19. Jahrhundert die Begriffe Arier und Indoarier. Diese Nomaden nutzen das Pferd, kennen den Pflug, betreiben aber weiterhin vorrangig Rinderzucht, was in ihren Mythen immer wieder zum Ausdruck kommt. Mindestens bis in die Jungsteinzeit reichen die Ursprünge dieser Stämme zurück, die höchstwahrscheinlich der Tumuli- oder Kurgankultur nördlich des Schwarzen Meeres zwischen Karpaten und Kaukasus angehören. Kurgane nennen sie ihre aus Erde und Steinen aufgeschütteten Hügelgräber (tumuli) für Adel und Priester.

Die ältesten Lieder und Zauberformeln der Indoarier haben deren hoch angesehene Priesterkaste der Brahmanen als ihr Geheimwissen bewahrt und sie Jahrhunderte lang nur mündlich weitergegeben. Erst im 7. oder 6. Jahrhundert v. Chr. werden diese vedischen (veda = Wissen) Sanhitâs in vier Sammelwerken auf Sanskrit niedergeschrieben: Ṛigveda, Sâmaveda (heilige liturgische Gesänge), Yajurveda (Opferformeln) und Atharvaveda. Letzteres enthält Beschwörungen und magische Formeln für den Hausgebrauch. Kern der ältesten Texte sind die śruti (= Gehörtes), Offenbarungen. Der Überlieferung nach seien sie den mythischen sieben Weisen Indiens, den Rishis (= die, welche [die Wahrheit] sehen), direkt aus dem Göttlichen heraus offenbart worden. Bereits aus der Zeit um 1500 v. Chr. dürften die Inhalte des frühesten Werks stammen, des Ṛigveda, aber eine Ära beschreiben, die bis in die Zeit vor der indoarischen Einwanderung zurückreichen könnte. Priester müssen diese heiligen Texte rhythmisch und tonal exakt rezitieren.

Clemens Zerling - Enstehung von Ton und Wort aus Stein

Gotische Kirchendekce; hier scheint die Idee vom steinernen Himmelsgewölbe wieder auferstanden zu sein, und “hier wie oben” brodelt das überirdische Leben. Gotische Kirche am Wonneberg, Waging am See, Oberbayern

Alles künftige Sein wartet latent aber verborgen unter Stein und Fels

Unter den Liedern und Evokationen im Ṛigveda an den alten vedischen Himmelsgott Indra, Herr des Soma, greift u. a. der Hymnus VI, 17 sehr alte Überlieferungen auf. Sie lassen Vorstellungen von einem ursprünglichen steinernen Himmelsgewölbe erahnen. Es wird verkürzt auch als Fels, Berg oder steinerne Burg besungen und beschreibt offensichtlich den grauen düsteren Nachthimmel. In dieser »Feste« sind die Urrinder, Symbol für das noch verborgene Urlicht, in der finsteren Höhle Vala gefangen oder eingepfercht. Bewacht werden sie von einer dämonischen Macht des Widerstands gegen eine geordnete Schöpfung, gegen Wachstum und Licht, der Schlange oder dem Drachen Vṛtra. Dieser Urmythos mischt sich in diesem Lied auch mit recht offenherzigen Wünschen der Dichter und Priester.

Hinter dem Begriff Soma verbergen sich ein Zaubergetränk der Hindugötter und eine gleichnamige psychoaktive Pflanze, aus der ein berauschender Saft gepresst wurde, der wiederum vor allem als Trankopfer für die Götter diente. In mythischer Umschreibung werden aus Pressstein, Geräusch, Saft und Pflanze Aspekte einer Gottheit Soma. Vielleicht gehörte zu diesem Trank der Unsterblichkeit, wie beim Haoma (s. u.), auch Milch. Das Prânâgnihotra-Upanishad nennt Soma einen »Herrn der Kräuter« und bringt ihn mit der Wiedergeburt in Verbindung. Soma lautet sogar eines der Stadien, die eine Seele zwischen Tod und Wiedergeburt durchlaufen müsse. Als Soma-Pflanze glaubte man u. a. Asclepias acida identifizieren zu können, eine Art der Schwalbenwurz- oder Seidenpflanzengewächse, oder eine Art aus der Familie der Meerträubelgewächse (Ephedra). Alle diese Sträucher enthalten Ephedrin, das in größerer Dosierung das Zentralnervensystem anregt. Auch der Fliegenpilz steht als Grundlage des Soma unter Verdacht.

Clemens Zerling - Enstehung von Ton und Wort aus Stein

Bild 1: Er, der die Sonne und den Morgen ins Dasein gerufen, der die Wasser leitet, Er, o Mensch, ist Indra. Relief aus der Angkor-Zeit Kambodschas (9. Jh.), Musée Guimet, Paris. (© Vassil, wikipedia)

Trink den Soma, für dessen Trank, gewaltiger Indra, du hochgepriesen den Rinderpferch aufschließen mögest, der du Mutiger mit der Keule in der Hand alle feindseligen Vṛtra’s mit Kraft zersprengen wirst (1). Trink ihn, der du der Trinker des Trestersafts [Pressrückstände], der Überwinder bist, der die Lippen (nach dem Soma) öffnet, der Befruchter der Gedanken, der Kuhbergspalter, der Keulenträger, der Falbenlenker. Indra, schlage du angebliche Gewinne heraus(2)! So trink wie früher; er soll dich berauschen, höre die feierliche Rede und erbaue dich an den Lobesworten. Bring die Sonne zum Vorschein, lass die Speisegenüsse anschwellen. Erschlag die Feinde, schlag Rinder heraus, Indra (3)! … Von denen begeistert, du die Sonne, das Morgenrot, leuchten ließest, indem du die Feste aufsprengtest. Den großen Fels, der die Kühe gefangen hielt, hast du von seinem Platz gestoßen, den unbeweglichen, o Indra (5). … Er breitete die weite Erde aus – ein großes Meisterstück – du hast aufgerichtet den Himmel, hoch emporgestemmt, Indra. Du befestigtest Himmel und Erde, deren Söhne die Götter sind, die ältesten Mütter und jüngsten (Töchter) des Gesetzes (7). Da stellten dich allein, den starken, alle Götter an die Spitze, um (den Sieg) zu gewinnen, o Indra; als der Urgott sich über die Götter erhob, da erwählen sie im Kampf um die Sonne den Indra (8). Da wich selbst der Himmel vor deiner Keule und doppelt aus Furcht vor deinem Grimm zurück, als Indra den prahlerischen Drachen [Urchaos oder Urfinsternis] niederschlug, dass er für alle Zeit erlag (9). … Die große eingeschlossene Flut der Ströme, die umlagerte, ließest du laufen, die Woge der Gewässer. Ihren Flutbahnen, ihrem Weg entlang, triebst du, Indra, die fleißigen (Gewässer) hinab zum Meere (12). So möge dich, der dies alles getan hat, den großen, gewaltigen, alterlosen, siegverleihenden Indra, dich, den Tapferen, mit schöner Waffe, mit schöner Keule, das neue Kraftlied zur Gunsterweisung herbringen (13). Mach unsere Redner glänzend, dass sie Lohn, Ruhm, Speisegenuss und Reichtum (davontragen), o Indra! (Mach) unter Bharadvᾱja die Lohnherren männerreich, o Indra, und sei am entscheidenden Tage für uns, o Indra (14). Mit diesem (Liede) möchten wir den gottbestimmten Lohn verdienen. Wir wollen, hundert Winter lebend, als Meister frohlocken (15).

Sprachforschungen entdeckten, dass Begriffe wie Stein, Fels, Himmel, Hammer, Axt, Ecke, Keil, Kante, Spitze und Berggipfel auf die Urwurzel ôҫ oder aҫ (oke oder ake) zurückgeführt werden können. Selbst Nadel, Schwert und Amboss lassen sich aus dieser Wurzelentwicklung ableiten. Als Grundbedeutungen dieser Substantive kristallisieren sich scharf, spitz und vor allem steinern heraus. In der indoeuropäischen Sprachfamilie sind diese Begriffe maskulin, doch vielleicht lag ihnen ursprünglich ein altes Neutrum zugrunde. Im Hinblick auf Entwicklung und Anwendungen dieser Sprachwurzel schimmere nach Durchsicht der ältesten indoeuropäischen Quellen wie dem Ṛigveda und dem iranischen Avesta ein Mythos durch, der zwar kaum noch klar erkennbar sei und trotzdem deutlich werde, schrieb der Sprachforscher Hans Reichelt. In einer sehr frühen Zeit, noch bevor die Vorstellung vom Lichthimmel sich durchsetzte, müsse der Steinhimmel neben der Göttin Erde zu einem Gott geworden sein, der sich noch bei den Griechen als Ἄκμων (Akmon, Vater des Uranos oder Uranos selbst, manchmal auch Okeanos gleichgesetzt) und vielleicht in der germanischen Edda-Dichtung als Riese Hymir festmachen lasse. Bei den Litauern wurde eine dem Jupiter ähnliche Gottheit Akmo in einem gleichnamigen großen Stein akmo verehrt, der in solchem Zusammenhang vermutlich als ein herunter gefallenes Stück des Steinhimmels akmů betrachtet wurde (Reichelt 1913: 23–26). Überhaupt hatten vermutlich Meteoriten zur Vorstellung dieses Mythos geführt, die als vom Himmel(sgewölbe) herabgefallene Steine galten.

Clemens Zerling - Enstehung von Ton und Wort aus Stein

Heilige Steine als Festigung und Stütze des Himmels. Der hohe geneigte und mit Symbolen der Dreiheit verzierte Balken unterstützt nach dem Glauben der nordskandinavischen Samen (oder Lappen) die Weltenstützung. (Holzschnitt aus: Olrik, Axel / Ellekilde, Hans: Nordens Gudeverden, Kopenhagen 1926)

Als sich die höhere Idee des vergöttlichten Tag- oder Lichthimmels entwickelte, hätte man nach einer Erklärung gesucht, wie Licht und Regen als Ursachen und Garanten für fruchtbares Leben auf die Erde gelangen konnten, glaubte Reichelt. So sei ein Mythos entstanden, der sich zumindest bei fast einigen indogermanischen Völkern bewahrt habe: Anfangs herrschte Finsternis. Da wurde der Sohn des Steinhimmels und der Erde geboren, ein Held von riesenhafter Größe, der mit seinem Steinhammer den Himmel (seinen Vater) zerschlug und damit Licht und Regen den Weg zur Erde bahnte (Reichelt 1913: 27). Die Morgenröte ließ dann die eingepferchten Kühe frei. »Als bunter Stein an den Himmel gesetzt«, schritt die Sonne nun aus (V 47, 3). Die roten Kühe, die wie »ein verborgener Schatz des Himmels« im endlosen Fels eingepfercht waren (I 130, 3), symbolisieren hier das neue junge Licht. Aus der Finsternis befreit, leuchtet es jeden Morgen als rotes Feuer am Horizont auf, und mit ihm entfaltet sich der ganze Schöpfungsreichtum. Am frühen Morgen öffnen sich auch die irdischen Ställe der Tiere.

[…]

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Idee und Nachwirkungen des indoarischen Mythos
vom steinernen Himmel

Am Anfang war das Wort. – Oder doch eher: Am Anfang war der Klang. Klang ist Leben. Materie manifest gewordener Klang. Leben ist Schwingung. Materie nur ein winziger Abklang dessen, zeigt uns die Quantenphysik heute. Je mehr wir von unserem verstandesorientierten festmachen wollenden Denken uns in den Fluss des Lebens begeben, umso mehr werden diese Erkenntnisse zur Wirklichkeit.
 

 

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