Tierbefreiung im Buddhismus

Tierbefreiung im Buddhismus

Die geschenkte Freiheit

Autor: Mirjam Lüpold
Kategorie: Buddhismus
Ausgabe Nr: 63

Gewaltlosigkeit und Mitgefühl sind buddhistische Kerntugenden. Rituelle Tierbefreiung aus Tierfarmen ist im Sinne eines aktiv gelebten Glaubens bei den Tibetern äußerst beliebt. Doch wie steht es um den Nutzen dieses Brauches für die befreiten Tiere? Die Autorin beleuchtet das Phänomen, das sich mittlerweile zu einem einträglichen Geschäft für schlaue Dienstleister der religiösen Frömmigkeit entwickelt hat.

Wie ein Besucher aus einer anderen Zeit wirkt der in eine dunkelrote Robe gekleidete tibetische Mönch am Hafen von Marina del Rey, mitten in Los Angeles. Vor einem Fischbecken aus Beton sitzend, murmelt er Gebete. »Möge ich diese im Elend der Agonie gefolterten Tiere mit dem Regen des Dharma#1 befreien. Mögen sie dadurch Erleuchtung erlangen« versteht, wer Tibetisch spricht. Von fotografierenden Zuschauern lässt sich der Lama#2 nicht aus der Ruhe bringen. Neben ihm stehen seine westlichen Schüler und einige Mönche. Mit an langen Holzstangen befestigten Netzen fangen sie Fische aus dem Becken und lassen sie, im an den Steg grenzenden Meer frei. Ein Mönch auf einem alten weissen Holzstuhl rezitiert Gebete aus einem Buch. Bedächtig lässt er dabei die 108 braunen Perlen der Gebetskette durch seine Finger gleiten. Hinter ihm sitzt am Rande des Hafenbeckens ein von der Menschenmenge unbeeindruckter Pelikan und schaut interessiert den freigelassenen Fischen nach. Ein Fischverkäufer, den man wegen seiner roten Schürze auf den ersten Blick fast für einen Mönch hält, überwacht die Entnahme der Fische. Das Geld für den Fischkauf stammt aus Spenden von westlichen Schülern, Tibetern und allen, die auf diese Weise Teil der Zeremonie sein wollen. Nach zwei Stunden ist Schluss.

Buddhisten bei der rituellen TierbefreiungBuddhisten bei der rituellen Tierbefreiung

Der Organisator des Anlasses scheint sich der Gefahr einer Kommerzialisierung des Brauches bewusst zu sein. In der Ankündigung des Events auf der Website des buddhistischen Zentrums liest man: »Bitte rufen Sie die Fischverkäufer am Hafen nicht vorzeitig an, damit für die Freilassung keine zusätzlichen Fische gefangen werden.«

Einfangen und Freilassen

In dunkler vorbuddhistischer Vergangenheit verliert sich der genaue Ursprung des heute besonders bei den Tibetern beliebten Brauches, der nach und nach blutige Tieropfer ersetzte. Während dieses überall anders durchgeführten Rituals werden meist Nutztiere, aber auch Vögel, Fische, Krabben und Schildkröten in die freie Wildbahn entlassen oder vor der Schlachtung gerettet.

Im Gegensatz zur schlimmsten Untugend des Tötens vermehrt sich das karmische Guthaben eines Menschen nie so rasch wie durch das Retten von Leben, sagen die Tibeter und befreien deshalb eifrig Tiere. »Die Praxis des Freikaufens von Tieren, die sonst getötet würden, pflegen und schätzen wir, doch wir führen dazu keine Rituale durch«, berichtet Max, ein Schweizer, der als Mönch im tibetischen Kloster Rabten Choeling auf dem Mont Pélérin bei Genf lebt. Dazu bieten sich dem Kloster viele Möglichkeiten: Verwandte in Tibet kaufen Yaks und Schafe frei. Das Geld dazu stammt aus der Schweiz. Auch in Indien werden regelmäßig Fische und Vögel gekauft und in Tschechien lebende Mönche entlassen jährlich Weihnachtskarpfen in die dortigen Gewässer. Ja, selbst auf der Strasse lebende Tiere werden gerettet, denn zahlreiche buddhistische Organisationen haben moderne Tierschutzprogramme in ihre Aktivitäten aufgenommen.

Gründe für den Freikauf von Tieren sind zum Beispiel Krankheiten, Todesfälle, Hunger und Missernten. Zudem, so schreibt der in Tibet wohnhafte deutsche Tibetologe David Holler in einer der wenigen Studien zum Thema, verhindere man dadurch eine Wiedergeburt in ungünstigen Umständen, verlängere das Leben, vermehre Reichtum, wende ungünstige astrologische Konstellationen ab und schütze den verehrten Lama. Tiere können auch aus Dankbarkeit für ihre Dienste befreit werden.

Nur mit einem menschlichen Körper ist die Befreiung aus dem endlosen Kreislauf der Wiedergeburten möglich.

Den täglichen Glaubenskonflikt zwischen Fleischverzehr und dem Ideal der Gewaltlosigkeit lösen die in Tibet wohnhaften Buddhisten, indem sie das Schlachten den Muslimen überlassen. Diese verkaufen umgekehrt rettbare Tiere. Gekennzeichnet mit speziellem Schmuck, zum Beispiel roten Bändern am Ohr, wird der Kopf dieser Tiere in einer kurzen Zeremonie mit Butter bestrichen. Ins Ohr des Tieres werden dabei Gebete geflüstert. Besitzer solcher tse thar-Tiere gelten als fromm und genießen hohes Ansehen. Tse thar ist jederzeit möglich, doch gewisse Tage des buddhistischen Kalenders potenzieren die Wirkung. Bei der Auswahl der Tiere helfen in Tibet präzise Listen. Robuste Gesundheit und auffallende Schönheit erhöhen die Chance eines Tieres auf Rettung. Fällt die Wahl auf ein »falsches« Tier, entzieht eine erzürnte Gottheit dem Spender im schlimmsten Fall ihre Gunst.

Laut Holler ist tse thar modernen Planern tibetischer Nomadenwirtschaft ein Dorn im Auge. Etwa 8-10 Prozent der Herden bestehen nämlich aus rituell befreiten Tieren, welche das ohnehin spärliche Weideland abgrasen, ohne von wirtschaftlichem Nutzen zu sein.

Bei Konflikten zwischen Spiritualität und Rationalität verschafft das Glaubenssystem selbst Abhilfe, indem der tse thar-Status eines alt gewordenen Tieres auf ein junges übertragen werden darf. Dann steht der Schlachtung des „entweihten“ Tieres nichts mehr im Wege.

Würmer auf dem Weg ins Glück

In einem kleinen Dorf ausserhalb von Bern befindet sich ein mittelgrosses einstöckiges Fischerei-Fachgeschäft. Es gibt nicht viele Kunden an diesem Tag. Zwischen einer beeindruckenden Auswahl an Angelruten und besonders hohen olivgrünen Gummistiefeln steht ein großer Kühlschrank. Er ist prall gefüllt mit lebenden Ködern. Würmer und Larven, gestapelt auf mehreren Etagen, warten dichtgedrängt in kleinen Plastikboxen auf ihre endgültige Bestimmung als Fischlockmittel. Doch einige von ihnen wandern heute für einen ungewöhnlichen Zweck über die Ladentheke. Eine kleine Gruppe von Schweizer Buddhisten wird sie auf Anregung ihres tibetischen Lamas freilassen. »Wir kauften so viele Köder, dass der Verkäufer sich wunderte. ›Ihr fischt aber viel‹, meinte er und wollte wissen, wo genau wir denn fischen würden«, lacht Corina, eine Schülerin des Lamas.

Die Welt der Tiere ist im tibetischen Buddhismus einer der sechs Wiedergeburtenbereiche. Noch ehe er sich versieht, kann ein Mensch eine Wiedergeburt als Tier antreten. Doch nur mit einem menschlichen Körper ist die Befreiung aus dem endlosen Kreislauf der Wiedergeburten möglich.

Obwohl graduelle Unterschiede in der Wertigkeit bestehen, sind Mensch und Tier gleichermaßen erlösungsfähig. Tiere sind nach buddhistischer Lehre empfindsame, leidensfähige Wesen und der Umgang mit ihnen hinterlässt karmische Spuren. Viele buddhistische Quellentexte fordern deshalb den Fleischverzicht. Dennoch sind die wenigsten Buddhisten Vegetarier.

Buddhisten bei der rituellen TierbefreiungBuddhisten bei der rituellen Tierbefreiung

Ein Tibeter, der anonym bleiben möchte, bemerkt: »Ich finde tse thar-Rituale eine gute Sache. Aber eigentlich wäre es noch besser, generell auf den Fleischkonsum zu verzichten. Dadurch würden mehr Tiere vor dem Tod bewahrt.«
Eine verzwickte Sache und ein bei Buddhisten umstrittenes Thema. »Mein Lama hat mir einmal gesagt, dass das Tier, dessen Fleisch ein spirituell hochentwickelter Lama isst und dabei segnet, auf der Stelle befreit werden kann«, erinnert sich Corina.

Eine Stunde später beobachtet die kleine Gruppe von Schweizer Buddhisten, wie die Fischköder sich im Wald einen Weg ins Erdreich suchen. »Es war ein wenig kalt an diesem Tag und ich wusste nicht, ob diese Tierchen überhaupt für das Leben im Freien gemacht sind«, sagt Corina später. »Ich scharrte ein wenig Laub zur Seite und bedeckte die Köder damit, um sie etwas zu schützen.« Begleitet wird die Aktion von einem kurzen tibetischen Gebet. Ungewiss bleibt, wie viele der freigelassenen Würmer im Magen eines hungrigen Vogels landen, während die Schüler wieder auf dem Heimweg sind.

Tiere sind nach buddhistischer Lehre empfindsame, leidensfähige Wesen und der Umgang mit ihnen hinterlässt karmische Spuren.

Sind tse thar-Rituale für viele Gläubige eine Ersatzhandlung für einen im Alltag nur halbherzig gelebten Buddhismus? Der Vergleich mit der katholischen Beichte drängt sich auf. Der Münchner Tibetologe Jens-Uwe Hartmann sieht in tse thar ein Entsühnungsritual. […]

Homepage von Mirjam Lüpold: www.mirjamluepold.ch

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Mirjam Lüpold
Die geschenkte Freiheit
Rituelle Tierbefreiung im Buddhismus

Gewaltlosigkeit und Mitgefühl sind buddhistische Kerntugenden. Rituelle Tierbefreiung aus Tierfarmen ist im Sinne eines aktiv gelebten Glaubens bei den Tibetern äußerst beliebt. Doch wie steht es um den Nutzen dieses Brauches für die befreiten Tiere? Die Autorin beleuchtet das Phänomen, das sich mittlerweile zu einem einträglichen Geschäft für schlaue Dienstleister der religiösen Frömmigkeit entwickelt hat.
 

 

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