Kalinchok, Weg zum Gipfel der Götter

Kalinchok, Weg zum Gipfel der Götter

Betrachtung einer schamanischen Pilgerschaft in Nepal

Autor: Jörg Fuhrmann
Kategorie: Schamanismus
Ausgabe Nr: 50

Ein packender und zugleich vergnüglicher Bericht über eine Reise zum Kalinchok, dem Schamanenberg in Nepal. Anläßlich einer besonderen Vollmondnacht reist der Pädagoge und Schamanismus-Forscher Fuhrmann mit einigen Schamanen und Sherpas durch unwegsames Gelände zu dem heiligen Ort Shivas auf dem Gipfel – mitten in der Monsunzeit – und wird wahrhaft schamanisch geprüft.

 

 

Wir wollen neben der mehrwöchigen Arbeit mit mehreren Schamanen den beschwerlichen Weg empor zum ≫Schamanenberg≪Kalinchoke Bhagawati, nordöstlich von Kathmandu, wagen. Es ist ein Weg in das Mutterland des Schamanentums. Ein archaischer Pfad, auf dem man seinen Ahnen sowie den Spuren des schamanischen Urheilers ≫Ban Jhankri≪ folgt. Es ist ein Weg der guten Energien: Der Weg zu dem Ort, an dem Shiva wahrend des Augustvollmondes den Schamanen all seine Geheimnisse verriet, bevor er die (sichtbare) Welt zu Beginn des dunklen Zeitalters (≫Kaliyuga ≪) verließ.

 

Schamanen in voller Tracht beim Bestaunen der morgendlichen Natur

 

Wer einmal im Leben versprochen hat, zum Kalinchok zu gehen, der müsse um jeden Preis dorthin gelangen. Der Geist des Berges wartet ansonsten so lange, bis wir kommen, und zieht uns mit der Zeit mehr und mehr Energie ab, so prophezeite Mohan Rai noch vor der Abreise. Wie auf jeder ordentlichen Pilgerschaft sprechen jedoch auch zahlreiche Dinge dagegen. Erst einmal handelt es sich um die ungemütlichste Jahreszeit, die man sich in Nepal hatte aussuchen können: die Monsunzeit (≫Saun≪). In diesem Jahr regnet es gut 40% mehr als gewöhnlich, verkündete uns bereits zu Beginn einer von Mohans Söhnen. Seit Februar habe es quasi ununterbrochen sintflutartig durchgeregnet. Neben den Legionen von Blutegeln (≫Leeches≪), stechenden Raupen, hochaggressiven Hofhunden und natürlich den handelsublichen Moskitos im Tiefland gesellen sich noch die geographischen Unannehmlichkeiten hinzu. Vergisst man zeitweise die Wassergallonen, die vom Himmel hinabstürzen, lasst sich nicht verleugnen, dass die Luft zwischen 3.000-4.000 Meter wahrlich dünner und die 50 cm schmalen Trampelpfade am Abgrund entlang immer enger werden.

 

Probleme lassen einen bekanntlich oftmals im wahrsten Sinne über sich selbst, also die sich selbst gesetzten Grenzen, hinauswachsen.

 

Nicht zu vergessen der gute alte Flieger, der viereinhalb Stunden auf dem Rollfeld repariert werden musste, um doch noch die Starterlaubnis zu erhalten. Es handelt sich also einmal mehr um ein feistes Unterfangen, das den Puls des Lebens intensiver und den Hauch des Todes bewusster werden lasst. Eine klassisch Schamanische Weihe, die grundsätzlich durch die Aspekte von Tod, Transformation und Wiedergeburt gekennzeichnet ist. Dunkelheit macht einen starker, das wussten auch schon die Alten. Probleme lassen einen bekanntlich oftmals im wahrsten Sinne über sich selbst, also die sich selbst gesetzten Grenzen, hinauswachsen. Je tiefer man geht, umso hoher kann man mit der sinusartigen Gegenbewegung wieder emporsteigen. Ein Wachstumsprozess, der von unserer eher grobstofflichen Wahrnehmung hin zu einem feinstofflichen Gewahrsein fuhrt, das den Organismus Mensch und somit auch die Welt in das höchstmögliche Mas an Harmonie fuhrt. Daher sagt Maile Lama, dass Schamanismus angewandte Liebe sei. Wen wurde es dabei wundern, dass unser Herz(-Chakra) (≫Anahata≪) der ≫Kern≪ des Schamanen und die allumfassende Harmonie sein instinktives Motiv ist.

 

Kathmandu-Kultur-Schock

Kathmandu, Transformationsstätte zur Kundalini-Aktivierung, Grosstadtmetropole des Kaal-Bhairab, Sechs Millionen Einwohner auf engstem Raum. 101 unterschiedliche ethnische Gruppen und 92 unterschiedliche Landesprachen. Kein Wunder, dass man auf offener Straße hauptsachlich über die Fahrzeughupe kommuniziert. Was wiederum die sechs Facebookgruppen mit mehreren tausend Mitgliedern erklärt, die sich über den Straßensmog und die PKW-Attitude der Hauptstadt erzürnen. In diesem Sinne fahrt und geht es sich am besten mit geschlossenem Mund und acht Augen gleichzeitig – ein Augenpaar fur jede Himmelsrichtung. Das Tal, das die Stadt umgibt, bildete vor Urzeiten den Grund eines gigantischen Sees. Es gilt gemeinhin als Tal der Götter. Die Nepalis verkünden, es gabe hier so viele Hauser, wie es heilige Schreine, Gottheiten und Menschen gäbe. Streunende Hunde und Moskitos konnte man ohne weiteres auch noch in die Aufzahlung mit aufnehmen. Allein schon wegen der Nahe zum tibetischen Hochplateau scheint man den Göttern der Oberwelt (≫Akasha≪) hier naher, doch das Göttliche wohnt deutlich klar erkennbar noch allgegenwärtig in der mittleren Welt (≫Dhariti≪) im Menschen selbst. Was wiederum daran deutlich wird, dass es in Nepal noch heute eine blühende schamanische Kultur gibt und dass in wohl so gut wie jedem Haus ein Altar für die Ahnengeister (≫Kula Deva≪) und die Götter zu finden ist.

 

Der Schamane Danashing und Sainla Tamang bei einem Heilungsritual im Zelt

 

Schätzungen des Shamanistic Studies and Research Centre (Mohan Rai)  zur Folge praktizieren dort gegenwärtig circa 700.000 Schamanen (≫Jhankris≪). Deren heilerische Fähigkeiten werden nach wie vor von 50-70% der Bevölkerung in Anspruch genommen. Letzteres qualifiziert Nepal nach wie vor uneingeschränkt zum weltweiten Kerngebiet des Schamanentums. Im staatlichen Gesundheitssystem finden die Schamanen und Heiler, auf organisatorischer Ebene, dessen ungeachtet keinerlei Anerkennung oder Berücksichtigung. Daher sind die meisten von ihnen bitterarm und arbeiten den Tag über als Bauern, Handwerker oder gar als Polizisten.

In den Kliniken selbst gehen die ≫Männer und Frauen der Unterwelt≪ (≫Patala ≪) ungehindert ein und aus, um den Patienten an den Grenzen der Medizin ihre Heilkraft (≫Shakti≪) zu übertragen, um verlorene Seelenanteile zu reintegrieren, negative Einflusse zu extrahieren, die Schlangengeister (≫Nagas≪) zu befrieden oder einfach nur um eine gestörte Harmonie des Umfeldes zu korrigieren. Diagnostiziert und behandelt wird auf unterschiedlichste Art und Weise. Man benutzt zur Analyse (≫Jokhana≪) Pulsdiagnose, Orakeltechnik, Riechdiagnose, energetische Einfuhlung und schamanische Trancereise. Behandelt wird mit Mantren, Yantren, Mudras und tantrischen Techniken. Größere Heilzeremonien (≫Chintas≪) können mehrere Tage und Nachte in Anspruch nehmen. Wie in den meisten schamanischen Kulturen findet man auch hier das dreigeteilte Weltbild (≫Tintriloka≪) vor. Was wiederum nicht weiter verwunderlich ist, sprechen doch viele der im Himalaya lebenden Schamanen der Region die Wurzelqualität des Schamanismus zu. Die Dreiteilung taucht in der gesamten Mythologie, Ikonografie und Ritualistik wieder auf. Hauptarbeitswerkzeuge des nepalesischen Schamanen sind Altar (≫Than≪),Trommel (≫Denguru≪), Geisterdolch (≫Phurba≪), Halbmondmesser (≫Kukhuri≪) und Dreizack (≫Trishul≪), die allesamt das trinitare Weltbild verkörpern.

Oftmals ist bei der Heilung eines Einzelnen die gesamte Sippe oder zumindest die nahe Verwandtschaft anwesend. Ein systemischer Aspekt, der uns im Westen ziemlich abhanden gekommen ist. Vermutlich sind wir auch deshalb hier. Wir wollen verstehen lernen. Tiefere Einblicke erlangen. In uns selbst und das schamanische System. Ich spreche bewusst von System, so dass nicht fälschlicherweise das Bild einer Religion entstehen konnte. Auch wenn die großen Religionen des Westens die schamanischen Heiler durchweg bekämpft und nahezu spurlos ausgerottet haben, so befindet sich der Schamanismus eigentlich nicht in Konkurrenz zur Religion. Schließlich gehören in Nepal viele Schamanen dem Buddhismus oder Hinduismus an, genauso wie in Südamerika viele Heiler christlich missioniert worden sind.

 

Verwünschung auf offener Straße?

Bereits nach einem ersten Stadtrundgang musste ich von den Heilkräften des Danashing Gebrauch machen. Auf dem Weg zu Nepals bekanntestem schamanischen Thanka-Maler, Surendra Bahadur, von dem sogar der Dalai Lama sämtliche seiner Kloster hat ausstaffieren lassen, sollte sich etwas an meine Fersen heften. Wir passierten einen der zahlreichen Stande, an denen ich diverse Fossilien und eine Ganesha-Maske genauer betrachtete. Der Händler winkte mich nach hinten in eine dunkle Kammer. Obwohl mir meine Intuition mitteilte, dass es besser wäre, dort nicht hinein zugehen, verlies ich die Gruppe und ging in das dunkle Hinterzimmer, das randvoll mit alten und neuen Holzmasken behangt war. Er bot mir die Maske für etwa 8.000 Rupien an, was in etwa 80 Euro entspricht und hoffnungslos überteuert war. Als mein Handeln von wenig Erfolg gekrönt war und ich die Lokalität verlassen wollte, wollte mir der Mann unzählige andere Sachen andrehen, wurde zusehends barscher und rief mir beim Rausgehen etwas hinterher, was ich nicht verstand, dessen Wirkung sich aber mehr als ungut anfühlte. Keine ganze zwei Minuten später betrat ich das Geschäft des Künstlers. Liebend gerne hatte ich mich den halben Tag dort aufgehalten und mich, in Angedenk meiner 15jahrigen Tätigkeit in Wandmalerei, mit dem freundlichen Surendra über seine Maltechniken und mythologischenMotive unterhalten, doch kurzer Hand überkam es mich. Mir wurde von jetzt auf gleich heiß und kalt. Ich wusste nicht, wie mir geschah. Dass ich mich nicht auf der Stelle übergeben musste, war auch alles. Ich schaffte es gerade noch zu Surendras WC drei Hauserblocks weiter und dann zurück zu Mohans Haus. Danashing rettete mich noch am gleichen Abend, extrahierte eine Besetzung, reinigte meinen Körper mit Ausstreichungen (≫Phukne≪) und versorgte mich mit einem widerlichen schmeckenden Gebräu, woraufhin es mir kurze Zeit später wesentlich besser ging.

Also es wird schnell klar, dass es sich hier, auf dieser Reise, schlichtweg auch darum handelt, Heilung zu erfahren. Heilung auf einer übergeordneten Ebene. Eine Ebene, die wir in Deutschland, spätestens seit dem rituellen Missbrauch im Dritten Reich, völlig vergessen haben. Wir sind abgeschnitten – abgeschnitten, von den Wurzeln unserer Ahnen, vom Umgang mit dem Tode, vom Umgang mit uns selbst. Wen wundert es da, dass viele der Schamanen zu Besuch in Deutschland an bestimmten Platzen oftmals von unzähligen unbefriedeten Totengeistern (≫Bhutas≪) sprechen? Wir bekommen von all dem freilich wenig mit. Sind den gierigen Einflüssen aus der Anderswelt quasi schutzlos ausgeliefert, da für uns nicht sein darf, was verstandesmäßig nicht sein kann. Wir wollen hier in Nepal also einen Grundstein setzen. Letzteres ist auf dreifacher Ebene ganz wörtlich zu verstehen. Erstere ist eher persönlicher Natur, auf die ich hier nicht weiter eingehen mochte. Zweiteres bezieht sich auf den geplanten Dom-Bau unseres schamanischen Instituts am Soester Mohnesee und als Drittes geht es dabei natürlich um das Wiederfinden lang verlorener Schlüssel zur universellen Doppelnatur unseres innersten Wesens, das immer auch ein schamanisches war. Schließlich ist die Fähigkeit zu Traumen oder zur Trance in jedem Menschen angelegt.

 

Aufbruch ins Ungewisse

 

Nach dem Durchtrennen der Schicksalsfaden, diversen Schlangen- und Ahnenri- ten erfolgt das Heiswasser-Ritual (≫Soda- Pani≪), bei dem der Patient mit 100°C kochendem Wasser gepeitscht wird. Geschichten über unvorsichtige Pseudo- Schamanen (≫Chicken-Shamans≪), die sich bei der ganzen Aktion am halben Leib verbrüht haben, machen die Runde und stellen das Ur-Vertrauen arg auf die Probe. Umso größer das Gefühl der Zuversicht im Anschluss – ohne Verbrennungen. Bei einer weiteren Trancearbeit erscheint mir ein schwarzer Hund, den der Schamane kurzer Hand als Bhairab-Beschützer identifiziert. Der mit dem Suden und Westen assoziierte Vierbeiner ist ein klassischer schamanischer Seelengeleiter in die Unterwelt. Mir fallen dabei die Hunde an den öffentlichen Leichen-Verbrennungsstatten am Fluss von Pashupatinath ein. Für meinen schamanischen Lehrer Danashing Tamang handelt es sich um ein gutes Zeichen. Die mehrwöchige Vorbereitung gibt uns Kraft und Mut, den Gipfel zu erreichen, den die Schamanen einstmals in Trance, wahrend eines Augustvollmondes, gefunden haben. Doch mit dem Verlassen des ≫Tibet-Highways≪ gestaltet sich bereits die Anreise als schwieriges Unterfangen. Zwar haben die zahlreichen Straßensperren und Militärpolizeikontrollen ein vorläufiges Ende gefunden, doch die Wege sind gänzlich vom vielen Wasser ausgehöhlt und hinfort gespult. Wir sind auf der ältesten Route Richtung Mount Everest, dem höchsten Berg der Erde. Der Motor des Pajero johlt, die losen Geröllsteine ächzen und die durchdrehenden Reifen schlittern am gähnenden Abgrund entlang.

 

Ankunft im Tamangdorf ≫Kirthali≪

 

Nach einem anschließenden Fußmarsch erreichen wir mit dem aufziehenden Nebel der Abenddämmerung das Tamangdorf ≫Kirthali≪.  Anschließend vollziehen wir noch ein gemeinsames Ritual für die Ahnen. Es ist die Botschaft, dass wir auf dem Weg sind. Die Schamanen singen: »Wir kommen, wir kommen zum Berg! Zwei Deutsche sind mit uns. Beschütze uns! Gib uns gute Energie und lass die Reise ohne größere Probleme gelingen.« Man konnte vielleicht an dieser Stelle kurz vorweg schicken, dass sich die meisten Menschen – ganz im Sinne Goethes – mit Dem Wasser-Element zu reinigen pflegen. Einige Schamanen jedoch benutzen dazu das Feuer – auch um die Umstehenden gleich mit zu reinigen. Wahrend des Trommelns entreißt mir Danashing meine Trommel und drückt mir mehrere brennende Sandelholz-Raucherzopfe in die Hand, die er mich sogleich darauf gestisch bittet, in seinen weit geöffneten Mund zu werfen. Mit dem Zischen in seinem Mund verstärkt sich unser Glauben an die schamanische Kraft nicht nur in ihm, sondern auch in uns. Das Ritual scheint erfolgreich erfüllt. Meine nachfolgenden nächtlichen Traumbilder sind meist blutiger Natur. Ich werde von zwölf Luchsen attackiert und schlachte diese mit einem Schwert dahin oder tote einen Mann, der sich an einer Frau vergehen will. Die Schamanen deuten dies als Krafttraume, die weissagen, dass meine innere Stärke zunimmt.

[…]

 

Den kompletten Artikel finden Sie in der Tattva Viveka 50

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Jörg Fuhrmann
Kalinchok, Weg zum Gipfel der Götter.
Betrachtung einer schamanischen Pilgerschaft in Nepal

Ein packender und zugleich vergnüglicher Bericht über eine Reise zum Kalinchok, dem Schamanenberg in Nepal. Anläßlich einer besonderen Vollmondnacht reist der Pädagoge und Schamanismus-Forscher Fuhrmann mit einigen Schamanen und Sherpas durch unwegsames Gelände zu dem heiligen Ort Shivas auf dem Gipfel ? mitten in der Monsunzeit ? und wird wahrhaft schamanisch geprüft.
 

 

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