Schmerz, Unverwundbarkeit und emotionales Zölibat

Schmerz, Unverwundbarkeit und emotionales Zölibat

Spirituell ambitionierte Menschen scheinen mir oft die unausgesprochene These zu vertreten: spirituelle Vollkommenheit ist Unverwundbarkeit. Daraus abgeleitet ergibt sich die Annahme, dass jede Art von emotionalem oder seelischem Schmerz aus einer spirituellen Unvollkommenheit resultiert, die es zu überwinden gilt. Wenn es mir wehtut, dass mein Partner mich verlässt, dann muss ich noch an mir arbeiten. Eifersucht, Einsamkeit, Bedürftigkeit sind Mängel, die sich für einen spirituell fortgeschrittenen Menschen nicht geziemen.

Wozu gibt es aber Schmerz? Ist Schmerz immer ein Zeichen von fehlender spiritueller Verwirklichung? Wenn ich mich verletze, verbrenne, vergifte, dann ist dies gesundheits- oder gar lebensbedrohlich. Der Schmerz ist das Signal, dass hier etwas nicht stimmt. Ohne das Schmerzempfinden würden wir nicht merken, wann unser Körper Schaden nimmt. Es ist also evident, dass das Leben verletzbar ist. Es ist zerbrechlich und es muss geschützt werden. Das ist ein Merkmal von Leben.

 

embrional

 

Was auf der körperlichen Ebene einleuchtet, wird auf der emotionalen und spirituellen Ebene oft dementiert. Hier wird jeder Schmerz als Defizit und Unfähigkeit der Person interpretiert. Man soll immer in sich selbst ruhen und die Seele wird wie eine in sich abgeschlossene Einheit gedacht, die von nichts und niemandem abhängig ist. Ich nenne das „emotionales Zölibat“. Wir machen zwar auf der körperlichen und energetischen Ebene noch miteinander rum, aber emotional ist jeder auf sich selbst gestellt. Ich glaube, wir sind uns des Schmerzes nicht bewusst, den dieser Anspruch erzeugt. Überfordern wir uns vielleicht?

Wie ist die Architektur der menschlichen Seele beschaffen? Der emotionale Schmerz weist darauf hin, dass etwas Lebensnotwendiges Schaden nimmt. Mir scheint, die Seele will und muss sich verbinden. Menschen brauchen Menschen. Verlässliche und stabile Verbindungen sind lebenswichtig. Dazu gehören auch Verbindlichkeit und Verpflichtung. Die Schönheit des Lebens liegt in den Beziehungen. Sie sind die Seelennahrung, die wir brauchen. Der Schmerz ist das Signal, dass uns diese Nahrung fehlt. Das ist ein schöner Schmerz.

 

 

3 Kommentare
  • Ike
    Gepostet am 12:11h, 01 Oktober Antworten

    Hallo alle zusammen,
    ich muss jetzt echt innerlich etwas grinsen – nicht aus Überheblichkeit, sondern weil ich das, was Du oben (be)schreibst), schon seit vielen, vielen Jahren “predige”. Ich nenne es nur nicht emotionales Zölibat, sondern “spirituellen Narzißmuss”.
    Das was “spirituell” genannt wird, (oder Menschen, die sich dafür halten, aber all ihre Gefühle “nur” beobachten wollen und nicht leben), ist nur eine andere Form von Kompensation und Vermeidung.
    Wirkliche Spiritualität ist tiefste Beziehung zu allem Seienden und mit allen Gefühlen, auch den schmerzlichen. Wir Menschen sind durch und durch Beziehungswesen und leben letztendlich “nur” durch Spiegelung. Jede energetische Bewegung ist immer eine Hin-Bewegung zu etwas, also auch im Kontext zu etwas/zu jemandem. Wir können uns und unsere Welt nur heilen, indem wir unsere tiefsten emotionalen Wunden zeigen und damit ein Gegenüber finden, dass uns genau dort in Liebe und Mitgefühl abholt und annimmt. Warum besagt ein altes Sprichwort wohl: “Geteiltes Leid ist halbes Leid” ??? Warum läuft ein kleines Kind mit seinem verletzten Finger zu Mama, damit sie pustet und der Finger wieder heilt….? Verletzungen, egal ob seelischer, emotionaler oder körperlicher Natur brauchen immer ein Gegenüber, ein DU……..
    Die ganze “Eso- und Spiriszene da draußen” hat in den letzten 20 Jahren eigentlich mehr Schaden als Gutes angerichtet. Die Menschen sind weniger beziehungsfähig als je zuvor……. Mögern wir uns erinnern, dass wir fühlende Wesen sind, innehalten und wieder lernen, uns mit unseren tiefsten Verletzungen zu zeigen. Denn sie sind nichts anderes als LIEBE!
    Emaho und einen lieben Gruß an alle, die hier mitlesen!
    Ike

    • Ronald Engert
      Gepostet am 21:09h, 03 Oktober Antworten

      Hallo Ike,
      ja danke für deinen Kommentar. Genau so sehe ich das auch. Vor lauter spiritueller Vollkommenheit verlieren wir unsere Menschlichkeit bisweilen. Wir sind unvollkommen. Wenn wir vollkommen wären, wären wir keine Menschen. Bzw. wir sind so, wie wir sind. Dazu gehört halt auch Schmerz, Angst und Wut. Was soll daran falsch sein?

  • Demian von Persönlichkeitsentwicklung4u
    Gepostet am 15:11h, 14 September Antworten

    Hallo Ronald, Du sprichst mir aus dem Herzen. Es ist höchste Zeit diese lebensfeindliche und halbwahre Spiritualität zu überwinden. Keine leichte Aufgabe, da sich die Vertreter dieser Spiritualität gerne als besonders entwickelt betrachtet und auf alles herabschauen, was ihrer aktuellen Lieblingsideologie nicht entspricht. Das “Emotionale Zölibat” wie Du es nennst, ist tatsächlich ein Kernstück dieser lebensfeindlichen Spiritualität. Es verhindert, dass wir die spirituelle Aufgabe als Seele voll auszureifen erfüllen können, und es blockiert die Kräfte die wir brauchen, wenn wir den Ausweg aus der aktuellen Lebenskrise der Menschheit finden wollen. Mehr dazu habe ich hier geschrieben:

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