Was bedeutet das: Lebendig sein?

Was bedeutet das: Lebendig sein?

Die Biologie an der Schwelle eines neuen Selbstverständnisses

Autor: Prof. Dr. Gerald Hüther
Kategorie: Biologie
Ausgabe Nr: 53

 

 

 

 

 

 

 

Durch ein abgespaltenes Weltbild und Versuchsanreihungen, die den Körper von seiner Umwelt trennten hat sich das biologische Weltbild der Determiniertheit und Unveränderlichkeit der Gene herauskristallisiert. Dies wird heute mehr und mehr in Frage gestellt. Gerald Hüther plädiert für eine Biologie der Verbundenheit und dynamischen Entwicklung im gesamtkulturellen Kontext unter Einbezug allen Lebendigen.

In kaum einer anderen naturwissenschaftlichen Disziplin ist die Suche nach neuen Erkenntnissen und das daraus entwickelte Theoriegebäude so stark vom jeweiligen Zeitgeist und den Erwartungen der jeweiligen Gesellschaft bestimmt worden wie in der Biologie. Biologische Erkenntnisse wurden gesucht und gefunden, um zu begründen, dass angeborene Triebe und Instinkte das Verhalten von Menschen bestimmen, dass es »bessere« und »schlechtere« Menschen gibt, dass der Kampf um das Dasein ein Naturgesetz ist und »minderwertige« Individuen oder gar »Rassen« deshalb keine Lebensberechtigung haben. Die Liste derartiger »biologischer« Begründungen zur Durchsetzung bestimmter Interessen ist lang und lässt sich problemlos noch bis in unsere Gegenwart fortsetzen: Frauen sind biologisch für die Aufzucht der Nachkommen zuständig. Männer sind notorisch untreu und an der maximalen Verbreitung der Gene interessiert, Intelligenz ist angeboren, deshalb brauchen wir ein dreigliedriges Schulsystem …

Lebendig sein

Solche und ähnliche, aus dem letzten Jahrhundert stammende Vorstellungen haben sich in allen Bereichen unserer Gesellschaft festgesetzt. Sie sind von anderen Disziplinen der sog. Life Sciences, von Psychologen, Pädagogen, Medizinern, sogar Wirtschaftswissenschaftern und Philosophen übernommen und zur Grundlage der dort entwickelten Vorstellungen gemacht worden. Sie werden noch immer in Schulen und an Universitäten gelehrt und in populärwissenschaftlicher Form auf allen Ebenen medial sehr erfolgreich vermarktet. Sie liefern »biologische Begründungen« dafür, dass unsere gegenwärtige Welt so ist, wie sie ist, und dass Veränderungen der Art unseres Zusammenlebens und unserer Beziehungen zur Natur nur im Rahmen dessen möglich sind, das unsere »biologische Natur« zulässt. Sie stillen damit das Bedürfnis von Menschen, die ein besonderes Interesse daran haben, ihre jeweiligen Privilegien und Besitzstände zu sichern und ihre gewohnten Denkmuster und Verhaltensweisen nicht in Frage stellen zu müssen. Solange solche Bedürfnisse bei der Mehrheit der Mitglieder einer Gemeinschaft vorherrschen, sind der Verbreitung anderer Vorstellungen von dem, was Leben ist, was alle Lebewesen brauchen, was sie miteinander verbindet, welche Potenziale in ihnen und nicht zuletzt in uns selbst angelegt sind und wie sie sich entfalten können, deutliche Grenzen gesetzt.
Dennoch ist die Ausbreitung dieser anderen Vorstellungen nicht mehr aufzuhalten. Maßgeblich dafür sind zwei voneinander unabhängige Entwicklungen, die seit der Jahrtausendwende zunehmend an Einfluss gewinnen. Das ist zum einen eine tief greifende Veränderung unseres eigenen Selbstverständnisses.

Gerald Hüther

Am deutlichsten spürbar wird sie bei der nachwachsenden Generation junger Menschen, die angesichts der mit der Digitalisierung und Globalisierung einhergehender Veränderungen wesentlich besser als alle vorangegangenen Generationen gelernt hat, mit einer wachsenden Komplexität ihrer Lebenswelt und der damit einhergehenden Verunsicherung umzugehen.
Die Auflösung vorhersagbarer Lebensentwürfe und der Zerfall autoritärer Strukturen zwingen diese jungen Menschen, die Verantwortung für ihre eigene Lebensgestaltung zunehmend selbst zu übernehmen. Sie brauchen die einfachen Begründungen der Biologie des 20. Jahrhunderts nicht mehr. Für sie gibt es immer weniger, was es festzuhalten und zu verteidigen gilt. Sie sind global vernetzt und fühlen sich auf eine bisher noch nie dagewesene Weise miteinander verbunden. Und sie glauben nicht mehr an das, was in den Lehrbüchern steht. Vieles von dem, was ihren Eltern und Großeltern noch wichtig für ihr eigenes Selbstverständnis war, hat für diese junge Generation seine Bedeutung verloren.

Biologisches Wissen ist immer auch Wissen über uns selbst.

Die zweite, gleichermaßen tiefgreifende Veränderung vollzieht sich seit einigen Jahren auf dem Gebiet der Biologie selbst. Der dort zu verzeichnende enorme Erkenntniszuwachs hat dazu geführt, dass so manche alte Vorstellung, die noch gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts als unverrückbar galt, nun immer stärker in Frage gestellt wird. Die mit großen Erwartungen im Rahmen des »Human Genome Project« vorangetriebene Entschlüsselung unserer Erbanlagen erwies sich als Flop. Statt der vermuteten 300.000 Gene, die unsere Entwicklung steuern sollten, fand man lediglich etwa 30.000, und damit nicht viel mehr als bei den Fadenwürmern.

Lebendig sein

Von unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen unterscheiden wir uns genetisch nur in 0,5 Prozent und seit es unsere Spezies gibt, hat sich an unseren genetischen Anlagen nichts Wesentliches mehr verändert.
Bestimmte Gensequenzen erwiesen sich auch nicht wie erwartet als eigenständige Einheiten, die in der Lage sind, die Leistungen einer Zelle oder gar die Herausbildung komplexer Merkmale zu steuern. Gene sind offenbar viel stärker miteinander vernetzt und in ihrer Expression voneinander abhängig als bisher angenommen. So genannte epigenetische Faktoren, also äußere Einflüsse, denen eine Zelle ausgesetzt ist, und innere Veränderungen, die sie in bestimmten Phasen durchläuft, sind offenbar entscheidend dafür, welche Gene in ihrem Zellkern abgeschrieben und welche blockiert werden. Zellen werden also nicht von ihren Genen gesteuert, sondern Zellen benutzen die in ihrem Zellkernen abgespeicherten genetischen Sequenzen, um sich in ihrer jeweiligen Lebenswelt zurechtzufinden, sich an bestimmte Erfordernisse anzupassen, bestimmte Leistungen zu erbringen und auf diese Weise selbst wieder Bedingungen zu schaffen, die andere Zellen anregen, bestimmte Gene in ihrem Zellkern ein- oder abzuschalten.
Die alten Vorstellungen, dass es immer einen bestimmten Verursacher gibt, der eine bestimmte Wirkung erzeugt, haben sich aber nicht nur auf der Ebene der Genregulation als unzutreffend erwiesen. Sie sind auch auf allen anderen Ebenen der Regulation lebender Systeme unbrauchbar geworden. Überall sind es nicht besondere Leistungen oder Fähigkeiten einzelner Komponenten, sondern es ist die Beziehung aller Bestandteile eines lebenden Systems, ihr Zusammenwirken, was darüber bestimmt, was aus einer Zelle, einem Organismus oder einem Ökosystem wird, wie es sich verändert und in welche Richtung es sich weiterentwickelt.

Wir beginnen zu ahnen, was aus uns werden könnte.

Damit beginnt sich innerhalb der biologischen Wissenschaften ein Denken auszubreiten, das sich nun allerdings sehr grundsätzlich von den Vorstellungen unterscheidet, die die alte Biologie aus den klassischen Naturwissenschaften übernommen hatte. Diese neue Biologie ist gegenwärtig dabei, genau das wieder in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen zu rücken, was schon immer im Mittelpunkt des Interesses von Menschen an den Phänomenen der lebendigen Welt gestanden hatte: die Eingebundenheit jedes einzelnen Lebewesens in das Gesamtgefüge von Beziehungen, die alle Lebensformen miteinander verbinden. […]

Dies ist ein Best-of Artikel, der erstmals in Tattva Viveka Nr. 53 erschienen ist.

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Prof. Dr. Gerald Hüther
Was bedeutet das: Lebendig zu sein?

Durch ein abgespaltenes Weltbild und Versuchsanordnungen, die den Körper von seiner Umwelt trennten, hat sich das biologische Weltbild der Determiniertheit und Unveränderlichkeit der Gene herauskristallisiert. Dies wird heute mehr und mehr in Frage gestellt. Hüther, Biologe, plädiert für eine Biologie der Verbundenheit und dynamischen Entwicklung im gesamtkulturellen Kontext unter Einbezug alles Lebendigen.


 

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2 Kommentare
  • Marc
    Gepostet am 14:08h, 19 November Antworten

    Was man aus dem Artikel herauslesen kann, als Laie, ist wohl, dass die Menschen wieder mehr Zusammengehörigkeitsgefühl mit sich bringen, und alte Lebensweisen über den Haufen werfen. Früher hatte sich die Frau ausschließlich um die Nachkommen gekümmert. Heute kann der Mann auch in Erziehungsurlaub gehen und eine Auszeit nehmen, und die Frau weiter arbeiten. Da haben sich die Rollen vertauscht. Mit dem Internet hat sich sicher auch etwas in den Köpfen der Bürger geändert. Es ist möglich, das unsere nächsten Verwandten die Menschenaffen sind. Genau belegen lässt sich das nicht, aber von den Genen zu urteilen könnte das evtl. zutreffen.

  • Horst von Hasselbach
    Gepostet am 12:35h, 07 Dezember Antworten

    Hüther erweist sich wieder einmal wie immer als Hüter des Lebendigen.
    Einige Punkte aber sollte man sich durch den Kopf gehen lassen: Die Nähe zum Affen wird wie von allen anderen kritiklos übernommen. Aber niemand gibt den genauen Unterschied an und ab wann man anfängt Mensch zu sein. Für 0,5 Prozent wurden schon viele Kriege geführt. Kleinvieh macht auch Mist, wenn man nur genügend davon hat. Man denke an Peru-Guano.
    Es ist Zeit, mit der Vorstellung aufzuräumen, menschliche Vorväter gäbe es schon seit acht Millionen Jahren. Wir sind eine sehr junge Spezies.
    Niemand stellt “den Ursprung” des Lebens als Begriff in Frage. Das Leben ist ohne Anfang und ohne Ende. Leben ist als solches auch nicht vermehrbar, wohl aber wandelbar. Sonst hätte Urzeugung längst gelingen müssen. Die großen Konzerne hätten längst Patentschutz auf Leben. Leben will weniger gedacht als gelebt werden. Das macht uns jede gesunde liebe Mutter vor.

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