26 Aug 30 Jahre spiritueller Aktivismus
Der Gründer von Yoga Vidya im Gespräch
Autor: Sukadev Bretz
Kategorie: Veden/Yoga
Ausgabe Nr: 100
Einer der Pioniere der spirituellen Bewegung in Deutschland ist Sukadev Bretz, der mit seinen Yoga Vidya Yogaschulen schon sehr vielen Menschen den spirituellen Weg nahegebracht hat. Dabei verbindet er elementare körperliche Aspekte wie Gesundheit und Fitness mit den höchsten spirituellen Kategorien wie geistige Erkenntnis und Liebe zu Gott. Seine beeindruckende Produktivität und sein sanftes Wesen kann man wohl nur vor dem Hintergrund seiner eigenen spirituellen Praxis verstehen.
Tattva Viveka: Die Tattva Viveka feiert dieses Jahr ihr dreißigjähriges Jubiläum, und in unserer Ausgabe Nummer 100 erhält Sukadev Bretz einen Ehrenplatz, da er als Pionier der spirituellen Entwicklung in Deutschland einen großen Beitrag leistete und weiterhin leistet. Er ist der Gründer von Yoga Vidya, der größten Yogaschule Deutschlands, die bereits viele tausend Yogalehrerinnen und Yogalehrer ausgebildet hat. Yoga Vidya leitet vier große Ashrams in Deutschland sowie eine Vielzahl an Yogastudios, die landesweit verstreut sind. Der Hauptsitz ist in Bad Meinberg, die heutzutage als Yogastadt bekannt ist. Sogar die Straße des Ashrams in Bad Meinberg trägt das Wort Yoga im Namen: Yoga-Weg.
Sukadev Bretz: Wir sind alle auf dem Yoga-Weg, wörtlich und im übertragenen Sinne. Yoga Vidya ist seit über 30 Jahren aktiv, und infolgedessen beobachte ich seit langem die Entwicklung der Zeitschrift Tattva Viveka, die stets wertvolle Impulse vermittelt und nie davon abgerückt ist, lesenswerte Inhalte zu verbreiten, die außergewöhnliche Gedanken auslösen und gleichzeitig tief in der Spiritualität verwurzelt sind.
Die Tattva Viveka ist in einer im Wandel begriffenen Zeitschriftenszene wie ein Anker, da sie sich über einen langen Zeitraum selbst treu geblieben ist.
Somit ist sie für ernsthafte Aspiranten überaus wichtig.
TV: Das berührt mein Herz, danke. Wir bemühen uns darum, qualitativ hochwertige Inhalte zu veröffentlichen und die Integration von Wissenschaft und Spiritualität zu fördern. Wir sehen zwischen diesen zwei Welten, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben, eine tiefe Verbindung, die meines Erachtens für die Zukunft der Menschheit essenziell ist. Das Thema unseres heutigen Gespräches ist nicht spezifisch die Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität, sondern vielmehr die Entwicklung der Spiritualität in Deutschland in den letzten 30 bis 40 Jahren. Dieser Wandel nahm in den 1960ern und 1970ern seinen Anfang und wurde sukzessive intensiver. In Deutschland ist die spirituelle Bewegung ein wenig später angekommen als beispielsweise in den USA. Manche Menschen, wie du und ich und viele andere, schlugen damals bereits diese Richtung ein und ließen sich in spirituellen Traditionen ausbilden. Viele gingen bei Swamis oder spirituellen Meistern in die Lehre und wurden Schüler von ihnen. In Indien nennt man sie Guru. Du folgst der indischen Traditionslinie von Swami Shivananda, die die verschiedenen Aspekte des Yoga – die des Körpers, des Geistes und der Seele – miteinander vereinigt, doch darauf gehen wir später ein. Bereits früh hast du begonnen, Yoga zu praktizieren, und 1992 gemeinsam mit Eva-Maria Kürzinger Yoga Vidya ins Leben gerufen, was nunmehr 32 Jahre her ist. Welche Veränderungen sind dir im Laufe dieses Zeitraums bezüglich der Stellung der Spiritualität in der deutschen Gesellschaft aufgefallen?
Sukadev: Ich glaube, dass Spiritualität eine Konstanz im Menschsein ist. Menschen sind immer spirituell, auch wenn sich diese Sehnsucht auf unterschiedliche Weise äußert. Spiritualität wird heute anders definiert als beispielsweise in den 1980er Jahren. Damals wurde Spiritualität als eine Form der Esoterik angesehen, doch ab den 1990er Jahren wurde der Name Spiritualität stärker verwendet als am Anfang, als ich in den 70er Jahren mit Yoga begonnen hatte.
Anfang der 80er und noch Anfang der 90er Jahre waren wir alle davon überzeugt, dass in den nächsten 20 bis 30 Jahren die spirituelle Revolution stattfinden und die ganze Welt besser werden würde.
Insbesondere nach dem Fall der Mauer 1989 dachten wir, dass man sich nun darauf konzentrieren kann, eine bessere Welt zu schaffen. Trotz Rückschritten würde ich sagen, dass heutzutage mehr Menschen auf dem spirituellen Weg sind. Es scheint mir zudem, dass man nicht mehr schief angesehen wird, wenn man von sich selbst sagt, dass man auf dem spirituellen Weg sei oder das Wort Spiritualität verwendet. Auch für eine vegane oder vegetarische Ernährung braucht man sich nicht mehr zu rechtfertigen. In der Hinsicht hat sich einiges geändert. Mindestens bis zur Pandemie war ich der Meinung, dass das Wort Spiritualität immer positiver besetzt wäre. Wenn wir Anfang der 90er Jahre Mantras sangen oder Satsangs veranstalteten, musste man damit rechnen, dass Menschen, die das noch nie gesehen hatten, entsetzt den Raum verlassen könnten.
Zur Eröffnung des ersten Ashrams 1996 luden wir die Menschen zu einem Satsang ein, mit Meditationen, Mantrasingen und einer Arati-Lichtzeremonie, und es war nicht ungewöhnlich, dass anschließend ein bis zwei Personen zügig wieder abreisten. Das geschieht heute nicht mehr. Die Offenheit für Mantras, Kirtan sowie für fernöstliche Spiritualität insgesamt hat zugenommen. Man begegnet weniger Vorurteilen und die Menschen sind offener für spirituelle Themen. Auch von kirchlicher Seite ist eine größere Offenheit vorhanden. Anfang der 2000er warnten Sektenbeauftragte noch vor uns, doch vor zehn Jahren wurde ich zu einem Treffen der Weltanschauungsbeauftragten eingeladen, das von Respekt und gegenseitiger Dialogbereitschaft geprägt war. Das ist eine positive Entwicklung. Jemand sagte einmal, dass die Kirchen heute andere Probleme als friedliebende Yogis haben.
TV: Das habe ich ebenfalls beobachtet. In den 90ern waren Sekten noch ein großes Thema. Sektenbeauftragte und die Kirche malten den Teufel bereits an die Wand. Doch mittlerweile werden die sogenannten neureligiösen Bewegungen nicht mehr als gefährlich angesehen.
Sukadev: Ja, ich erlebe eine größere Offenheit gegenüber Spiritualität. Es ist zwar nicht so, wie wir es uns vor 30 Jahren erhofft haben, aber insgesamt besteht eine größere Offenheit.
TV: Wie hoch ist deines Erachtens der Anteil spiritueller Menschen in der Gesellschaft?
Sukadev: Das ist schwierig zu sagen, denn ich muss zugeben, dass ich in meiner eigenen Blase lebe. Ich wohne im Ashram mit anderen spirituellen Menschen zusammen. Sie leben hier, weil es sie ebenfalls interessiert. Gelegentlich bin ich mit den örtlichen Politikern und den örtlichen Menschen aus dem Vereinsleben im Kontakt. Sie sind uns Yogis gegenüber aufgeschlossen und erkennen, dass wir Gutes bewirken.
Sie sind zwar keine Yogis geworden, doch sie sind sich bewusst, dass eine Gesellschaft mehr als nur materielles Überleben braucht.
Doch es gibt auch Gegenbewegungen. Während der Pandemie sah ich einen großen Rückschritt, da während gesellschaftlicher Kipppunkte häufig Minderheiten damit in Verbindung gebracht werden.
Es schien mir so, dass die Wahrnehmung von Yoga und Spiritualität plötzlich eine andere war und diese in einen nicht positiven Kontext gestellt wurden. Meine Hoffnung ist es, dass sich das demnächst wieder ändert, obwohl ich hinzufügen möchte, dass sich manche Vertreter der spirituellen Szene selbst auch nicht löblich hervorgetan haben. Man könnte sagen, dass die wachsende Spiritualität diese gesellschaftliche Probe nicht unbedingt bestanden hat.
TV: Aus meiner Sicht fand ein Rückfall in vorrationale, mythische Konzepte statt, in dem Sinne, dass in der Pandemie die Herrschenden als Dämonen und Bösewichte gesehen wurden, die ihr Unwesen treiben und jetzt der Endkampf des Guten gegen das Böse stattfindet.
Du erwähntest bereits, dass in den 90er-Jahren unter spirituellen Menschen der Gedanke verbreitet war, dass bald ein neues spirituelles Zeitalter beginnen wird, in dem alles anders ist. Würdest Du heute sagen, dass wir in der Hinsicht realistischer sein sollten? Wie siehst du die Zukunft der Spiritualität in den nächsten Jahrzehnten?
Sukadev: Ich bleibe weiter optimistisch (lacht).
Swami Vivekananda im 19. Jahrhundert, Paramahamsa Yogananda in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und auch Swami Shivananda sagten, dass ein spirituelles Zeitalter entstehen wird, in dem die Menschen Gott wieder näher sein werden.
Es gab immer wieder Wellen, und ich glaube, dass diese Tendenz weiter wachsen wird. Menschen haben zum Teil mehr Zeit zur Verfügung, das ist das eine. Die großen spirituellen Traditionen wie der Buddhismus, die hinduistischen Traditionen, die Vedanta Traditionen etc. stehen außerdem wissenschaftlichen Erkenntnissen aufgeschlossen gegenüber, und diese belegen, dass sich spirituelle Praktiken positiv auf das Wohlbefinden des Einzelnen auswirken.
So zeigt es sich, dass Menschen, die Yoga üben und meditieren, gesünder und länger leben sowie weniger unter Alzheimer leiden. Spirituelle Menschen können zudem besser mit Problemen umgehen.
Neuste Forschungsergebnisse, die sich mit AWE (awe and reverence) befassen, auf Deutsch Ehrfurcht und Staunen, besagen, dass Menschen, die regelmäßig staunende Ehrfurcht empfinden, besser mit außergewöhnlichen Belastungen sowie radikalen Veränderungen umgehen können, insgesamt glücklicher sind und weniger von anderen abhängen. Was in diesem Kontext wissenschaftlich als ehrfürchtiges Staunen bezeichnet wird, kann spirituell als Erfahrung des Göttlichen gedeutet werden.
Die Wissenschaft selbst zeigt mehr und mehr, dass der Mensch Spiritualität braucht. Wir denken in zu kleinen Zeiträumen, es dauert eben noch, bis ein greifbarer Wandel einsetzt.
TV: Es freut mich zu hören, dass du solch ein optimistisches Bild hast. Ich denke mittlerweile auch in zu kurzen Zeiträumen, denn momentan habe ich weniger Hoffnungen. In Berlin sitzen samstags 70.000 Menschen im Fußballstadion, die jeweils 70 Euro Eintritt gezahlt haben. Das muss man einmal mit einer spirituellen Veranstaltung erreichen.
Sukadev: Wir freuen uns, wenn zu einem spirituellen Festival ein paar hundert oder tausend Besucher erscheinen, und denken sogleich, dass wir jetzt die Welt verändern, aber parallel existieren Fußballstadien. Nichtsdestotrotz entwickelt es sich weiter. Wir arbeiten daran und machen weiter. Wir finden neue Menschen, die begeistert sind und die Ideen weitertragen. Des Weiteren hoffe ich, dass die nächste Generation neuen Enthusiasmus hineinbringen wird.
Dies ist nur der Anfang des Artikels.
Der vollständige Beitrag ist in der Tattva Viveka 100 erschienen.
Tattva Viveka Nr. 100
Wähle: Einzelheft, Abo oder Tattva Members
Schwerpunkt: Die Verbindung von Wissenschaft & Spiritualität
Erschienen: September 2024
Dr. Stephan Krall – Vom Sein zum Bewusstsein • Prof. Dr. Thomas Metzinger – Der Elefant und die Blinden (Teil 2) • Dr. Justina A. V. Fischer – Kann man der Künstlichen Intelligenz ethisches Verhalten beibringen? • Ronald Kahle – Weltkrise und Weltformel • Ronald Engert – Erfahrung, Erkenntnis, Erleuchtung • Svenja Zuther – Die Weisheit der Pflanzen • Sukadev Bretz – 30 Jahre spiritueller Aktivismus • Dr. Annette Blühdorn – »Hab so eine Sehnsucht, mich aufzuspüren« • Dr. Ilona Schönwald – Das vererbte Trauma • Buchbesprechungen • u.v.m.
Zum Interviewten
Sukadev Bretz ist Gründer von Yoga Vidya, einem Netzwerk von Yoga Ashrams, Yogazentren und Yogalehrern in Deutschland. Eines seiner Herzensanliegen ist es, den integralen Yoga und das Heilige Wissen der Vedanta Philosophie vielen Menschen zugänglich zu machen.
Webseite: Yoga-vidya.de
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