Dem Urgrund des Seins auf der Spur

Dem Urgrund des Seins auf der Spur

Sind wir mehr als das Ego?

Autor: Ken Wilber
Kategorie: Philosophie
Ausgabe Nr: 86

In diesem Interview teilt der integrale Philosoph Ken Wilber sein Verständnis von einem der häufigsten Themen spiritueller Befreiungswege: der Erfahrung des Erwachens und der Erkenntnis des non-dualen, mit allem verbundenen Selbst. Gleichzeitig integriert Wilber die Bewusstseinsstufen, die die Perspektive des Subjekts auf die Welt prägen und von keiner spirituellen Tradition bisher beschrieben wurden. In seinen Augen jedoch müssen Aufwachen und Aufwachsen Hand in Hand gehen, um eine friedliche und integrale Gesellschaft zu gestalten.

Frage: Wir befinden uns heute an einem Zeitpunkt der Evolution, wo mehr Menschen sich daran erinnern, wer wir wirklich sind: Wir sind nicht nur ein Individuum oder ein Ego. Es gibt etwas Tieferes, das uns ausmacht. Deshalb stellt sich die Frage, was ist das Wesen des wahren Selbst oder absoluten Bewusstseins im Unterschied zum relativen Bewusstsein des Egos?

Wilber: Das ist eines der häufigsten Themen der großen Befreiungswege oder Wege des Aufwachens. Dabei besteht die grundlegende Entdeckung weltweit darin, dass der Mensch mindestens zwei verschiedene Identitäten besitzt. Eine davon ist ein fragmentiertes, leidendes, entfremdetes Selbst. Und das andere ist unser wahres Selbst, das erwachte Selbst, das wir wahrhaft und wirklich sind.

In den meisten großen meditativen Traditionen wurden Praktiken entwickelt, die uns dabei helfen, unser Gewahrsein von der Identifikation mit dem kleinen, entfremdeten, begrenzten Selbstempfinden zu lösen, um unser wahres Selbst zu entdecken, das eins mit dem Urgrund des Seins ist. Dieses Erwachen erfüllt uns mit tiefer Sinnhaftigkeit, Glück und tiefer Freude.

Wenn dich also jemand fragt: Wer bist du? Dann könntest du beispielsweise sagen: Ich heiße soundso, ich bin soundso viele Jahre alt, ich bin so groß, wiege so viel. Ich habe einen Universitätsabschluss in diesem Studienfach, ich arbeite in diesem Beruf und verdiene so viel Geld. Ich habe keine Partnerin, keinen Partner usw. Du beschreibst also das, was du für dein Selbst hältst.

Wer oder was das wahre Selbst ist, lesen Sie im vollständigen Artikel. ? Unten können Sie bestellen!

Jenseits von Identifikationen

Bei dieser Liste und in Bezug auf das Selbst, das du beschrieben hast, wird dir auffallen, dass es sich um Objekte handelt, die wir sehen können. Immer, wenn du nach innen schaust und dich selbst beschreibst, dann betrachtest du dein Inneres als ein Objekt, das du sehen kannst, ein Objekt des Gewahrseins. Und dann beschreibst du, was es ist, und nennst es: Ich.

Die Weisheitstraditionen weisen darauf hin, dass all dies Objekte sind, die wir sehen können. Aber keines dieser Objekte ist der Beobachter dieser Objekte. Denn wer sieht das alles eigentlich, wenn du die Dinge beschreibst, die als Objekte durch dein Gewahrsein ziehen?

Wer ist das wahre Subjekt? Wer ist das wahre Gewahrsein, das wirkliche Selbst?

So haben wir versehentlich unser wahres Selbst gefunden: den reinen Zeugen, den wahren Sehenden. Wir haben uns ganz natürlich mit etwas erkannt, das nicht gesehen werden kann.

So gut wie jede Weisheitstradition stellt der Menschheit die Diagnose, dass sie an einem Fall von falscher Identität leidet. Diese Traditionen übernehmen die Aufgabe, uns zu erklären: Also, das, was du für dein Selbst hältst, ist nicht dein Selbst. Diese ganze Liste von Dingen, mit denen du dich selbst beschreibst, ist genau das, was du nicht bist. So gelangen wir zum wahren Selbst, zur Fähigkeit, einfach unvoreingenommen alles, was erscheint, zu bezeugen.

Dieser Zeuge ist ein echtes Subjekt. Er ist das wahre Selbst.

Der Zen-Meister Shibayama nennt es »Absolute Subjektivität«. In Sanskrit umfasst es die Zustände von Purusha bis Turya, dem Vierten Zustand, wie dieses reine Bezeugen, dieses reine Gewahrsein genannt wird. Der Zeuge ist also das Gewahrsein selbst, keiner der Inhalte des Bewusstseins.

Möchten Sie wissen, was es konkret bedeutet, dass der Zeuge das wahre Selbst ist? Das können Sie im vollständigen Artikel lesen. (Bestellmöglichkeit am Ende des Beitrags!)

Die Erfahrung des Erwachens – Satori

Gott ist nicht Liebe. Gott ist nicht Licht. Gott ist nicht Mitgefühl. Gott macht sich keine Sorgen. Gott ist nicht glücklich. Gott ist nicht allumfassend. Gott ist nicht allgegenwärtig. Gott oder jeder andere Name, den wir benutzen mögen, ist für die absolute Wirklichkeit nicht angemessen.

Der einzige Weg, wie man herausfinden kann, was Gott ist, besteht darin, eine Satori-Erfahrung, eine Erfahrung des Erwachens zu machen.

Die absolute Wirklichkeit können wir nur erkennen, wenn wir eine Praxis annehmen, die uns hilft, den gewöhnlichen denkenden Verstand zu transzendieren und zum absoluten non-dualen Gewahrsein zu erwachen.

Wenn man fragt, »Existiert Gott?«, kann man darauf mit Ja oder Nein antworten. Nach Ansicht von jemandem wie Nagarjuna, einem der Begründer des Mahayana-Buddhismus, sind beide Aussagen falsch. Sie sind bedeutungslos. Du kannst auf diese Frage mit Ja oder Nein antworten, aber trotzdem weißt du nicht, was Gott ist. Es macht einfach keinen Sinn. Um die Frage wirklich zu beantworten, musst du dich in eine Form von meditativer Praxis begeben, die es dir ermöglicht, zu diesem non-dualen Gewahrsein zu erwachen.

Wenn du erwachst, ein Satori erlebst, dann kennst du die Antwort. Du wirst unmittelbar in der Antwort auf diese Frage sein.

Bis das geschieht, ist alles, was du sagst, falsch.

In dieser Fassung sind Auszüge aus dem Artikel wiedergegeben. Den vollständigen Artikel gibt es im Pdf, das unten bestellt werden kann.

Sind wir mehr als das Ego?

Frage: Es macht also keinen Sinn, aus der Welt fliehen zu wollen?

 Wilber: Für die frühen Theravada-Buddhisten war klar, dass Samsara ein Schreckensort ist. Sie wollten aus dem Samsara in das Nirwana gelangen. Nirwana ist ein Zustand nicht-manifester, formloser Versenkung. In diesem Zustand fühlen wir keinen Schmerz, keine Begierden, kein Ego, keine Angst. Es ist das Nichts, ein Zustand ohne Leiden. Für 600 bis 800 Jahre war dies das Ziel des ursprünglichen Buddhismus und auch einiger westlicher Traditionen. Dieses Ziel sehen wir auch im Höhlengleichnis Platons: Innerhalb der Höhle sind all die Schatten und außerhalb der Höhle ist das Licht. Deshalb sollten wir so schnell wie möglich aus der Höhle entkommen. Die Höhle war ein leidvoller Ort, das Ziel war das Licht.

Dann erscheinen Nagarjuna im Osten und Plotin im Westen, die erklären, dass es zwar diesen Zustand des Nirwana gibt, aber dies nicht die höchste Erkenntnis ist, da sie weiterhin sehr dualistisch ist, weil darin Nirwana vollkommen von Samsara getrennt ist. Nagarjuna und Plotin erkannten, dass es einen höheren Zustand gibt, der beide vereint, es gibt eine Ganzheit, die beide umfasst. Deshalb können wir in einem Zustand des Nirwana oder der radikalen Leerheit sein und gleichzeitig erscheint die gesamte manifeste Welt, und wir sind eins mit beidem. Das ist die wahre Erleuchtung.

Das verursachte eine Revolution im Osten, denn es entstanden non-duale Formen von Spiritualität, aus denen schließlich Traditionen wie Tantra entstanden. Denn in den ursprünglichen puritanischen Formen der Religionen waren GEIST und Sex radikal getrennt. Im Tantra wurde Sex als direkter Weg zum GEIST gesehen. Also je mehr Sex du hast, desto eher findest du den GEIST, denn beides ist nicht voneinander getrennt.

 

Der Text „Dem Urgrund des Seins auf der Spur” ist ein Original-Auszug aus dem Filminterview:
WAKING UP GROWING UP mit Ken Wilber
Interview und Regie: Ramon Pachernegg
Produktion: WEGE ZUM SELBST
Link zum Filminterview: wegezumselbst.at/wakingup

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Erfahren Sie mehr über das Aufwachen und Aufwachsen.

Lesen Sie die vollständige Fassung in Tattva Viveka 86 oder downloaden Sie diesen Artikel einzeln als ePaper für 2,00 € als ePaper erhältlich (Pdf, 8 Seiten).

Dem Urgrund des Seins auf der Spur. Sind wir mehr als das Ego? (PDF)

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Ken Wilber
Dem Urgrund des Seins auf der Spur
Sind wir mehr als das Ego?

In diesem Interview teilt der integrale Philosoph Ken Wilber sein Verständnis von einem der häufigsten Themen spiritueller Befreiungswege: der Erfahrung des Erwachens und der Erkennt-nis des non-dualen, mit allem verbundenen Selbst. Gleichzeitig integriert Wilber die Bewusst-seinsstufen, die die Perspektive des Subjekts auf die Welt prägen und von keiner spirituellen Tradition bisher beschrieben wurden. In seinen Augen jedoch müssen Aufwachen und Auf-wachsen Hand in Hand gehen, um eine friedliche und integrale Gesellschaft zu gestalten.
 

 

 
 

Über den Autor

Unser Autor Ken Wilber

Ken Wilber (geb. 1949) kehrte einer akademischen Laufbahn den Rücken, um im intensiven Privatstudium Philosophie, Psychologie, die östlichen und westlichen Weisheitslehren sowie andere Disziplinen der Wissenschaften des Geistes zu erforschen, und widmete sich der Praxis von Zen und tibetischem Buddhismus. Er gilt heute als der wichtigste Vertreter der Transpersonalen Psychologie und gehört zu den bedeutendsten Theoretikern eines integralen Weltbildes.

Bildnachweis: © Adobe Photostock

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