Der Elefant und die Blinden (Teil 2)

Der Elefant und die Blinden (Teil 2)

Bewusstseinsforschung eines spirituell informierten Philosophen

Autor: Prof. Dr. Thomas Metzinger
Kategorie: Philosophie
Ausgabe Nr: 100

Wie kann echte Erkenntnis gewonnen werden? Wenn man das einen Philosophen fragt, bekommt man eine differenzierte Antwort. Wenn der Philosoph noch dazu meditiert und offen für die spirituelle Erfahrung des reinen Bewusstseins ist, kann man auch Erkenntnis jenseits von Empirie und Rationalität diskutieren. Gleichwohl wird er sich auch von Ideologie und ›Esoquatsch‹ abgrenzen, denn das wäre blinder Glaube und keine Erkenntnis.

»Nietzsche hat gesagt, dass man aufpassen muss, nicht zu lange in einen Abgrund zu schauen, weil es passieren kann, dass der Abgrund in einen zurückschaut.«

Tattva Viveka: Ich habe noch eine Frage zum Thema Metaphysik. Sie benutzen den Begriff, teilweise sogar relativ deskriptiv, aber sie sagen auch, die Metaphysik ist obsolet. Das sei Essenzialismus. Ich kreise da immer noch darum, was das genau heißt.

Prof. Dr. Thomas Metzinger: Metaphysik oder auch Ontologie ist eine Teildisziplin der akademischen Philosophie. In der geht es um die Frage: Was gibt es? Was existiert? Also: Gibt es Gegenstände? Gibt es Eigenschaften? Was genau ist das, eine »Eigenschaft«? Wie ist die Wirklichkeit eigentlich beschaffen? Gibt es Personen? Was sind die Bausteine der Wirklichkeit, die Legobausteine, aus denen sich alles aufbaut?

Es gibt sehr gute, sehr kluge Leute, die sich ihr ganzes Leben damit beschäftigen. Ich selbst glaube, dass in diesem Bereich letztlich kein Erkenntnisfortschritt möglich ist, weil man metaphysische Annahmen nicht empirisch testen kann. Worüber man sprechen kann, ist diese wissenschaftliche Theorie, die nicht mehr annimmt, dass es Objekte im klassischen Sinne gibt, so wie Bäume, Häuser, Steine, sondern die vielleicht von Quanten und Strings redet. Diese Theorie ist sparsam und sagt die Wirklichkeit recht gut voraus. Darum übernehmen viele ganz einfach die Ontologie, die Annahmen der Theorie, die gerade am besten ist, und das ändert sich mit der Zeit.

»Sie gehen ganz still ihrer Praxis nach, während andere die Welt in Brand setzen und die große Maschine sich wie irre weiterdreht.«

Es gibt eine ganz langweilige philosophische Theorie, ganz altmodisch, die heißt ›wissenschaftlicher Realismus‹ und die prüft einfach, was die besten Theorien sagen, welche metaphysischen Annahmen sie machen müssen. Selbste und Gegenstände gehören da scheinbar nicht dazu. Da merkt man, das ist vielleicht ganz anders, als man immer gedacht hat, und dann kommen vielleicht ganz unten sogar Sachen, die man nicht mehr verstehen kann, zum Beispiel dass bestimmte logische Gesetze nicht mehr gelten.

Ich habe mich als Philosoph nie groß für Metaphysik interessiert, weil ich einfach nicht sehe, wie da ein Erkenntnisfortschritt möglich ist. Es kommen seit Jahrhunderten immer wieder Leute, die sagen: ›Alles ist Geist‹, oder: ›Alles ist Bewusstsein‹, und es gibt Leute, die sagen: ›Alles ist Physik‹. Solche Sätze sind metaphysisch.

Wenn alles x ist, dann hat der Ausdruck x keine Bedeutung mehr. Alles, was Menschen sich denken konnten, hat es schon gegeben, zum Beispiel: Alles ist Gott. Oder: Alles ist in Gott. Das wäre der Panentheismus. Oder es gibt auch verschiedene Formen von Idealismus, z. B.: Wir sind alle Gedanken im Geiste Gottes. Das sind alles wunderschöne Denkfiguren. Was ich nur nicht sehe, ist, wie man das für echten Erkenntnisfortschritt nutzen kann – also, wenn man die Sache ernst nimmt, wenn man sich nicht dran berauscht, sondern wenn man das sozusagen professionell angeht. Wenn ich sage: ›Ich glaube, Herr Engert ist letztlich ein Gedanke im Geiste Gottes‹, und ich möchte wissen, ist es wahr oder falsch, dann sehe ich einfach nicht, wie man das angehen könnte, um zu zeigen, dass das entweder wahr oder falsch ist.

TV: Sie haben ja da die erkenntnistheoretischen Ebenen im Kapitel 9, wo es um das Sehen, um die Soheit, geht, dargestellt, und sie grenzen das gegen dieses rationale Denken oder das begriffliche Denken ab. Sie sagen auch, im reinen Gewahrsein ist das begriffliche Denken nicht mehr wirksam, oder das ist da ausgeschlossen. Es gibt diese verschiedenen Erkenntnisebenen, also einerseits die Sinneswahrnehmung, die empirische Evidenz, und andererseits Logik und Argument. Dann gibt es noch eine dritte Erkenntnisebene: dieses Sehen, oder?

Metzinger: Ja, das ist eine ganz wichtige Frage, die Sie stellen. Wenn jemand eine öffentliche Behauptung über eine Sinneswahrnehmung aufstellt: ›Da ist doch ein Hund‹, und ich sehe das, dann kann man das empirisch überprüfen. Man kann sagen: ›Nein, das ist kein Hund, das ist ein Wolf‹.

Wenn jemand mit einem logischen Argument irgendwas versucht zu zeigen, dann kann man sagen: ›Nein, das Argument kann ich widerlegen. Das stimmt nicht.‹

Aber wenn jemand z. B. die Soheit der Dinge gesehen hat und sagt: ›Es gibt in allen Dingen etwas, das man direkt wahrnehmen kann, eine pure Präsenz, eine Qualität der Selbstenthüllung‹, und behauptet das im öffentlichen Raum, und dann kommt jemand anders und erwidert: ›Ich sehe das aber nicht, was soll denn das? Das haben irgendwelche Japaner erzählt, oder? Ist das der neueste Esoquatsch oder was? Ich sehe es einfach nicht‹ – dann gibt es natürlich keine Methode, um den Streit zu entscheiden.

Prof. Dr. Thomas Metzinger – Der Elefant und die Blinden

Das ist dann ein bisschen so, wie wenn wir als Kinder dieses Spiel gespielt haben: ›Ich sehe was, was du nicht siehst!‹. Es gibt bestimmte Erkenntnisse in diesem Raum der Stille und der Klarheit. Ich halte die in gewissem Sinne für völlig offensichtlich – aber für die allermeisten Menschen sind sie es eben nicht, und beweisen kann man das auch nicht. Aber die Frage ist, ob man die überhaupt in den Raum des öffentlichen Sprechens transportieren sollte oder überhaupt kann, denn wenn man eine Behauptung aufstellt wie z. B.: ›Die Buddha-Natur ist in allen Dingen, ich kann sie auch in unbelebten Dingen wahrnehmen, man muss nur ein bisschen Meditationspraxis haben‹ oder so – dann wird es natürlich die Mehrheit der Menschen geben, die sagen ›Das ist doch Quatsch, das glaube ich nicht‹.

TV: Was aber diese Erkenntnis nicht anficht im Kern?

Metzinger: Wir wissen ja nicht, ob und in welchem Sinne es eine »Erkenntnis« ist! Und es könnte halt sein, dass es gar nicht wichtig ist, dieses Erleben von Erkenntnis in den öffentlichen Raum zu transportieren und daraus eine große Theorie zu machen und zu verteidigen. Damit ist das Problem aber nicht gelöst. Das Problem ist einfach, dass Leute da sind, auch ernst zu nehmende, nicht verrückte Leute, die das Gefühl haben, sie sehen da etwas extrem Relevantes und Wichtiges, über das sie nicht sprechen können. Dann gibt es natürlich Kritiker, die sagen: ›Ja, es gibt andere, die haben den Teufel gesehen, den sieht auch niemand. Sie glauben, das ist total relevant, dass der Teufel immer da ist. Die stecken wir in die Psychiatrie.‹

»Wir Menschen sind halt ideologisch.«

TV: Das kann unser einem auch passieren, wenn man sich zu weit aus dem Fenster lehnt.

Metzinger: Ja, genau. Nietzsche hat gesagt, dass man aufpassen muss, nicht zu lange in einen Abgrund zu schauen, weil es passieren kann, dass der Abgrund in einen zurückschaut.

Man kann jetzt natürlich einen szientistischen Standpunkt einnehmen, das heißt, die wissenschaftliche Methode als eine Ideologie verabsolutieren und sagen: ›Okay, die Leute sagen selbst, man kann darüber nichts sagen. Wir können ein wenig Hirnforschung machen und schauen, was im Gehirn passiert, wenn sie solche Zustände haben. Aber da ist nichts Weiteres, worüber man eine überprüfbare Behauptung aufstellen könnte.‹ Eine solche Haltung ist aber ein bisschen dogmatisch, weil wenn viele ernst zu nehmende Menschen seit Jahrhunderten sagen, da ist etwas, das hat Einsichtsqualität, aber über das kann man nicht sprechen, dann sollte man das ernst nehmen.

Ich bin ja analytischer Philosoph. Der klassische analytische Philosoph würde dann sagen: ›Na ja, dann lass es doch bleiben und halt einfach die Klappe‹, frei nach Wittgenstein: »Was man überhaupt sagen kann, kann man klar und deutlich sagen.« Aber derselbe Wittgenstein hat natürlich auch gesagt, es gibt allerdings Unaussprechliches, und das ist das Mystische, es zeigt sich. Die Frage ist, wie man damit umgeht.

Es könnte ja auch Betrüger geben. Es könnten ganz viele behaupten: ›Ja, ich habe das ganz oft, mir zeigt es sich und ihr müsst meine Schüler werden und mir alle Euer Geld geben.‹ Die Frage ist, wie man Verrückte und Spinner von Leuten unterscheidet, die möglicherweise tatsächlich etwas gesehen haben. Dafür haben wir keine Methode.

Das ist wie eine Gratwanderung. Man bleibt einerseits offen und nimmt es ernst, dass Menschen solche Dinge erleben, andererseits sollte man nicht auf irgendwelchen Hokuspokus hereinfallen.

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Erschienen: Oktober 2024

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Zum Autor

Unser Autor Prof. Dr. Thomas Metzinger

Prof. Dr. Thomas Metzinger, geb. 1958, lehrte Philosophie an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Er arbeitet als Philosoph seit vielen Jahren an der Schnittstelle zwischen Philosophie des Geistes und kognitiver Neurowissenschaft. Metzinger war Präsident der Gesellschaft für Kognitionswissenschaft und der Association for the Scientific Study of Consciousness. 2023 veröffentlichte er die viel beachteten Bücher Bewusstseinskultur; Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise sowie Der Elefant und die Blinden.

Thomas Metzinger
Der Elefant und die Blinden
Auf dem Weg zu einer Kultur der Bewusstheit.

Berlin Verlag 2023,
48,00 € Hardcover

Webseite zum Buch mit weiteren Infos:
mpe-project.info

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