19 Okt Die kindliche Entwicklung
Braucht ein Kind orale Befriedigung?
Autor: Gerlinde Henriette Stärk
Kategorie: Medizin
Ausgabe Nr: 76
Beim Mund fängt alles an. Er hat eine wichtige Bedeutung in der frühkindlichen Entwicklung und erweist sich als neuronales und physiologisches Leitmotiv des Körpers. Das Kind will sich entfalten und in letzter Konsequenz geht es für das Kind um ein Gesehen-, Geliebt- und Angenommen-Werden.
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Braucht ein Kind orale Befriedigung, wenn ja, bis zu welchem Alter und wie viel, fragt ein Vater in meinem SpielRaum.
Diesem Begriff geht eigentlich der Umstand der oralen Frustration voraus, umgekehrt der Schluss, dass es gut und natürlich ist, sich oral zu befriedigen. Aber was heißt das denn? Viele Menschen glauben auch, dass Babys und Kleinkinder neben der Brust den Schnuller bräuchten, um sich angemessen oral zu befriedigen. Die Frage führt zum Mund als Zentrum der Aufmerksamkeit. Was ist am Mund so bedeutsam und wichtig für Leben und Überleben? Warum stecken Kinder ihre Finger in den Mund oder beißen an dem Ärmel ihres Pullovers, um sich selbst zu beruhigen? Warum nuckeln und saugen sie an Fingern und anderen Dingen, um sich innerlich zu entspannen und ihren Status quo wiederherzustellen?
Wenn die befruchtete Zelle beginnt, sich zu teilen, entsteht eine Öffnung, eine äußere und eine innere Zellschicht in Form einer Röhre. Es bildet sich die Nabelschnur, die als Öffnung aufnimmt und abgibt. Mittels dieser »Schnur« steht das heranwachsende Baby über die Mutter in einer Wechselbeziehung mit der Welt.
Leben heißt aufnehmen und abgeben, verschiedene Stoffe wechseln hin und her. Von Anfang an ist das sich entwickelnde Kind ein eigener Organismus, der mit seiner Umgebung im Austausch steht. Die Zellen teilen sich weiter, es bildet sich eine dritte Zellschicht, es differenzieren sich neue Öffnungen: ein Mund, das Herz liegt zwischen Mund und Nabelschnur, der Nabel als Zentrum der Körpermitte, der Anus als Endpunkt des Verdauungstraktes, der Abfallstoffe ausscheidet.
Leben heißt aufnehmen und abgeben.
Hauptsächlich über seine Bewegungen kommuniziert der Embryo mit seiner Mutter und erfährt jetzt schon etwas über das Leben durch sie. Er erfährt vor allem, wie es ihr geht, nämlich über die Antworten, die er aus dem ihn umgebenden Gewebe erhält. Seine Bewegungen sind noch zufällig, also nicht bewusst initiiert. Sie bereiten das Kind im Uterus auf die Bewegung auf der Erde vor – auf den Übergang von einem Leben des Seins in ein Leben des Tuns in der Welt.
Im Uterus saugt der Embryo schon an seinen Fingern. Er steckt die Finger in den Mund und bewegt den Mund auf und zu, schluckt Fruchtwasser und berührt seine Umgebung mit dem Mund und den Lippen. Das Saugen ist eine Ganzkörperaktivität, die die Wirbelsäule des Säuglings bzw. des Embryos auf die Bewegung durch den Raum vorbereitet.
Der ganze Körper schaukelt im Rhythmus des Saugens vor und zurück.
Wenn der Mund sich öffnet, wirkt dies wie ein Hebel (der Schädel rotiert nach hinten unten) auf den ersten Halswirbel. Dieser Druck setzt sich über die ganze Wirbelsäule bis zum Steißbein fort. Wenn der Mund schließt, rotiert der Schädel wieder nach vorne oben. Es löst sich die Spannung in der Wirbelsäule, sodass diese sich nun über ihre gesamte Länge hinaus ausdehnt. Das Kind erfährt durch das Öffnen des Mundes die Ausdehnung seiner Wirbelsäule, den Anfang und das Ende seiner Länge.
Das Baby entwickelt nach der Geburt die Fähigkeit, seine eigene Bewegung zielgerichtet und bewusst zu initiieren, somit den eigenen Körper durch den Raum zu bewegen und auf diesen Raum und seine Welt einzuwirken. Diese Bewegungen werden als Allererstes vom Mund eingeleitet. Denn der Mund, auch dem Geruch folgend, sucht die Brustwarze, dreht dabei den Kopf und lässt die ganze Wirbelsäule folgen. Dieses Muster wird in der Literatur »Schub vom Kopf über die Wirbelsäule nach unten« genannt. Im Gehirn reift ein erstes neuronales Bewegungsmuster heran, worauf alle folgenden aufbauen.
Dieser orale und feinsensible Körperabschnitt nimmt im Vergleich zu anderen Körperbereichen im Gehirn überproportional viel neuronalen Raum ein. Der Mund und seine Aktivität sind demnach für das Überleben und Heranreifen eines Menschenkindes äußerst bedeutsam und daher auch sehr anfällig und sensibel für Frustrationen und Störungen.
Wenn das Baby etwas in seiner neuen Welt angekommen ist, entwickelt es mit den Augen und mit den Händen Interesse an seiner Umgebung. Ein Gegenstand findet sein Interesse, es greift danach und führt ihn zum Mund, um ihn dort in Ruhe und mit Lust kennenzulernen. Auge-, Hand- und Mundkoordination entfalten sich durch wiederholten Gebrauch, wodurch neuronale Verknüpfungen dieser drei Bereiche entstehen, die als Grundlage für eine sichere Bewegung im Gleichgewicht mit der Schwerkraft fungieren.
Zwischen Mund und Anus liegt der lange Verdauungstrakt, der nach der Geburt zu seiner vollen Reife gelangt. Auch im Darmtrakt befinden sich Neuronen. Wir sprechen von unserem zweiten Gehirn. Die vom Mund aufgenommenen Informationen werden zum Gehirn weitergeleitet, sie passieren auch den Verdauungstrakt und werden im Bauchgehirn gleichermaßen verarbeitet. Alles Verbrauchte und nicht Integrierbare wird ausgeschieden. Alles, was der Körper – besonders emotional – nicht schafft auszuscheiden, staut sich im Bauch. Bauchschmerzen bei Kindern haben meist einen emotionalen Hintergrund.
Der Mund ist das Eingangstor für die Berührung mit der Welt.
Diese Welt, mit der das Kind sich eins fühlt, lernt es somit kennen und fühlen. Schon im Uterus hat es gerade seine Bewegungen empfunden und schon entsprechende Verknüpfungen zwischen den Extremitäten und seinem Körperzentrum vollziehen können. Dieses Zusammenspiel will es nun, auf der Erde angekommen, noch weiter verfeinern. Wie fühlt es sich an, wenn meine Hände sich berühren, meine Finger sich finden, eine Hand meine Zehen findet, sie sich berühren? Die Wirbelsäule ist dasjenige Glied, das verschiedene Körpersysteme miteinander verbindet, Organe, Nerven, Muskeln, Knochengebilde …, die alle unter der Befehlsherrschaft der nervlichen Steuerungszentrale über die Wirbelsäule miteinander koordiniert werden. Durch die Bewegung des Mundes erlangt die Wirbelsäule ihre Flexibilität, wird, obwohl noch nicht aufgerichtet, gebraucht. Sie wird auf eine Zeit vorbereitet, in der der ganze Organismus sich aufrichtet und die Energien gegen die Erdanziehungskraft zu fließen haben. Das optimale Zusammenspiel dieser Kräfte – energetisch wie physisch – reift langsam heran und bedarf einer Zeit von 12 bis 18 Monaten. Denn der Kopf ist sehr schwer und für die Natur ist es bedeutsam, dass der Kopf in Verbindung zur Schwerkraft optimal und leicht platziert ist. Minimale Verschiebungen des Schädels sind von Bedeutung, also muss das Hinterhauptloch passgenau auf dem Atlaswirbel sitzen. Ein frühzeitiges Halten des Kindes in einer aufgerichteten Position, bevor der Körper des Kindes die Reife dafür erlangt hat, wirkt einschränkend auf das Energiesystem.
Zurück zur Frage, warum sich das Kind befriedigen will. Für mich stimmt das Wort »befriedigen« schon einmal nicht. Das Kind will sich entfalten und der Plan, der Rhythmus und die Abfolge dafür sind im Kind selbst gespeichert. Wichtig ist, dass wir lernen, diesen natürlichen Abläufen zu vertrauen und uns nicht einzumischen, lernen, uns zu beobachten und uns selbst Grenzen zu setzen, auch dann, wenn wir ungeduldig werden. Dann erfüllen sich die Entwicklungsfolgen und es stellen sich tatsächlich auch emotionale Zufriedenheit und Erfüllung ein, nicht nur beim Kind. Das Baby empfindet sich dadurch weniger abhängig. Im Innern wirkt das Ineinanderfließen und Ineinandergreifen von äußeren und inneren Prozessen als ein Gefühl von Stärke.
Zurück zur Frage, warum sich das Kind befriedigen will. Für mich stimmt das Wort »befriedigen« schon einmal nicht. Das Kind will sich entfalten und der Plan, der Rhythmus und die Abfolge dafür sind im Kind selbst gespeichert. Wichtig ist, dass wir lernen, diesen natürlichen Abläufen zu vertrauen und uns nicht einzumischen, lernen, uns zu beobachten und uns selbst Grenzen zu setzen, auch dann, wenn wir ungeduldig werden. Dann erfüllen sich die Entwicklungsfolgen und es stellen sich tatsächlich auch emotionale Zufriedenheit und Erfüllung ein, nicht nur beim Kind. Das Baby empfindet sich dadurch weniger abhängig. Im Innern wirkt das Ineinanderfließen und Ineinandergreifen von äußeren und inneren Prozessen als ein Gefühl von Stärke.
Wenn wir von außen diese natürlichen Prozesse stören, entwickeln Kinder Ängste, im System wird ein Schmerz gemeldet.
Das Vertrauen in die Welt, der Einklang der eigenen inneren Welt mit der stimmigen Antwort der Außenwelt wird beeinträchtigt.
Das heißt, es geht um etwas Tieferes als Befriedigung. Es geht um einen Ablaufmechanismus, der, wenn er sich erfüllt hat, einfach ganz leicht von sich aus aufhört. Das Nuckeln, das man abgewöhnen muss, resultiert aus einem Prozess, der das wahre echte Bedürfnis als Antwort für das Kind nicht getroffen hat, es fungierte als Ersatzbefriedigung – eine Fixierung der oralen Phase hat stattgefunden, um Freuds Terminologie zu benutzen. Das bewirkt einen Schmerz im inneren System des Kindes. Es kompensiert diesen Schmerz mit Nuckeln und wird davon abhängig. Irgendwann, wenn wir finden, dass die orale Phase vorbei ist, nehmen wir die Nuckelobjekte wieder weg, wodurch ein weiterer Schmerz https://www.tattva.de/wie-komme-ich-von-der-inneren-leere-zur-inneren-fuelle/ entsteht. Wenn ein Schmerz von der Umgebung nicht gesehen und verstanden wird, gibt das Kind mehr oder weniger versteckte Zeichen. Diese Kommunikation mit der Außenwelt und seiner eigenen Wahrheit hört ein Leben lang nie auf und will nichts mehr als endlich gesehen werden – als Erwachsene dann von uns selbst. Sind wir bereit, ohne uns schuldig zu fühlen diese Zeichen unserer Kinder wahrzunehmen, sie in uns zu bewegen und eine Antwort nicht zu denken, sondern in Annahme kommen zu lassen? Einmal nur Liebe und Annahme zu schenken und zu erkennen, dass wir nicht all zu viel mehr zu tun haben als das, denn das ist es, wonach die Seele sich sehnt: wahrgenommen und gesehen zu werden. Erst dann kann lösendes Weinen folgen, sich den Weg nach außen bahnen, Ängste und Engegefühle mitschwemmen und das ursprüngliche Lebensgefühl wiederherstellen.
Um ein Kind zu sehen, gilt es auch, in der Nähe Raum zu geben, Halt zu geben für einen Raum, indem das Kind sich mit seinem Bedürfnis, das ich noch nicht kenne, zeigen kann. Dieser Raum, den ich aufmache, ist schon die Antwort, die das Kind braucht, denn es spürt die Absicht dahinter, wirklich zu hören und zu sehen: »Wer bist du, ich kenne dich nicht und ich bin bereit, aus der Perspektive des Nicht-Wissens dich jeden Moment neu zu erfahren und zu entdecken, dich und auch mich selbst. Danke, dass du nie aufhörst, deine Wahrheit mit mir zu teilen, auch wenn ich manchmal länger brauche, sie zu sehen und ihr mit meinem Herzen zu begegnen.«
Über die Autorin
Gerlinde Henriette Stärk studierte Psychologie in Konstanz. Psychosomatik und Yoga waren erst ihre Hauptinteressen, nach der Geburt ihres Sohnes wirkte sie mit am Aufbau des Kindergarten-Grund- und Hauptschul-Projektes »lebendiges lernen« e. V. in Konstanz. Als erster Vorstand, Erzieherin, Lehrerin und Schulleiterin prägte sie die pädagogische Richtung der Einrichtung, zog nach Potsdam und forschte innerhalb der SpielRaumArbeit von Emmi Pikler mit Kleinkindern, machte die Ausbildung der »Körperzentrierten Herzensarbeit« bei Safi Nidiaye und gründete einen Lebens- und LernRaum »lebenlernen« in Potsdam.
Dies ist ein kompletter Artikel aus der Tattva Viveka 76.
Auch als PDF erhältlich:
Die kindliche Entwicklung (PDF)
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Gerlinde Henriette Stärk
Die kindliche Entwicklung
Braucht ein Kind orale Befriedigung?
Beim Mund fängt alles an. Er hat eine wichtige Bedeutung in der frühkindlichen Entwicklung und erweist sich als neuronales und physiologisches Leitmotiv des Körpers. Das Kind will sich entfalten und in letzter Konsequenz geht es für das Kind um ein Gesehen-, Geliebt- und Angenommen-Werden.
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