29 Nov »Hab so eine Sehnsucht, mich aufzuspüren« (2)
Von der Verdeckung zur Wiederentdeckung des Leibes (Teil 2)
Autor: Dr. Annette Blühdorn
Kategorie: Philosophie
Ausgabe Nr: 101
Im ersten Teil dieses Artikels wurde aufgezeigt, wie es durch den modernen Körperkult zur Verdeckung des Leibes und damit zur Leibvergessenheit kam. Dieser zweite Teil befasst sich mit seiner Wiederentdeckung. So bilden Körper und Seele eine Einheit im Leib, der die Ganzheit des in den Körper gefahrenen Bewusstseins darstellt.
Der Austragungsort dieses Disputs ist der Leib, der damit zu einem Konfliktfeld wird.
5) Die Wiederentdeckung des Leibes
Die Bemühungen um das Wiederaufdecken des Leibes vollzogen sich in einem Zick-Zack-Kurs, an dessen Verlauf viele Gelehrte und Suchende mitwirkten. Doch am Ende konnte die platonische Körper-Seele-Lehre, zumal nach der Unterstützung durch die Theorien René Descartes‘, die Richtung für sich bestimmen. Von den zahlreichen Beiträgen, die gegen diesen Trend das Konzept des Leibes zu aktualisieren versuchten, können hier nur einzelne Stationen ausgewählt werden. Im Frühchristentum erweist sich der Apostel Paulus, dessen scheinbar negative Körper- und Leibauffassung oft missverstanden wird, als glühender Verfechter der ganzheitlichen Leiblichkeit. Im Mittelalter sind es die Erfahrungswege der christlichen Mystiker:innen, die in ihrem spirituellen Erleben den Leib ins Zentrum rücken. Die Neuzeit ist vertreten durch Friedrich Nietzsche, der innerhalb der Philosophiegeschichte den Leib als Basis der menschlichen Existenz »am radikalsten ernstgenommen hat« (Gerhard Danzer 2003: 106).
Paulus
Unmittelbar nach Platon veränderte Aristoteles die Sicht auf den Dualismus von Körper und Seele, indem er auf der Basis eines ganzheitlichen Denkansatzes den Zusammenhang dieser beiden Pfeiler des menschlichen Seins lehrte. Seine Anschauung konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Vielmehr nahm das frühe Christentum die platonische, später neuplatonische Idee der strikten psycho-somatischen Teilung konstruktiv auf, da sie anschlussfähig war an das christliche Modell einer unsterblichen Seele. Als Ausnahme muss daher der Apostel Paulus gelten, auch deshalb, weil der Leib für Paulus niemals verdeckt war, sondern Voraussetzung seiner Anthropologie ist: »Die von der Odyssee zu Platon führende Entwicklung«, schreibt Hermann Schmitz, »scheint an Paulus spurlos vorübergegangen zu sein«; Paulus verfolge vielmehr »eine hocharchaische Deutung des Menschseins, die hinter die personale Emanzipation zurückgeht und in manchen Zügen an den Standpunkt der Ilias erinnert« (1998: 371f). Die Vorbedingungen für Paulus‘ Menschenbild liegen jedoch im jüdischen Denken des Alten Testaments. Denn der von Gott aus Ackerboden und göttlichem Lebensatem erschaffene Mensch erfährt an sich keine Spaltung in einen sterblichen, materiellen Körper und eine unsterbliche, immaterielle Seele, sondern bildet eine Einheit, die dem ganzheitlichen Konzept des Leibes entspricht (Theresa Heimerl 2019: 167).
Grundlegend für das Verständnis des paulinischen Menschenbilds sind die griechischen Vorstellungen von soma, sarx und pneuma. Soma bezieht sich meist auf den Leib des Menschen, das heißt auf sein vollständiges, ganzheitliches Sein. Der Begriff wird in den Bibelübersetzungen aber oft unscharf mit Körper als auch Leib wiedergegeben (Schmitz 1998: 513; Peter Wick 2020: 25f). Im Unterschied zu soma bezeichnet sarx die reine Materialität des Körpers, mit der eine gewisse Begrenztheit verbunden ist; üblicherweise wird sarx als Fleisch übersetzt (Heimerl 2019, 168). Das Fleisch ist weder mit dem Leib noch dem Körper gleichzustellen, es ist vielmehr »eine Macht, die den sündigen Leidenschaften Gelegenheit bietet, sich im Körper auszutoben« (Schmitz 1998: 510). Daher gilt das Fleisch als Gegenspieler von pneuma, dem göttlichen Geist, dem der Mensch sich öffnen und dem er in seinem Leib eine Wohnstatt bieten soll. Das Verhältnis, das den Leib, das Fleisch und den Geist aneinander bindet, ist also dadurch bestimmt, dass das Fleisch und der Geist um die Vorherrschaft im Menschen streiten. Der Austragungsort dieses Disputs ist der Leib, der damit zu einem Konfliktfeld wird. Dem Menschen steht hier kein seelischer Innenraum zur Verfügung, in den er sich, wie bei Platon, zur Distanzierung aus dem eigenen Leib zurückziehen könnte. Insofern ist der Mensch den Einflüssen dieser ihn ergreifenden Kräfte ausgeliefert wie der homerische Mensch der Ilias, allerdings entstammen diese Mächte nicht der materiellen Außenwelt, sondern es sind »Mächte der intimen Initiative« (ebd.: 509).
Der Yogi sieht nicht in den Himmel hinauf, um Gott zu finden, denn er weiß, dass Er in ihm ist.
Paulus wird regelmäßig vorgehalten, er habe den Körper abgelehnt und den Antagonismus von Körper und Seele konsolidiert (Danzer2003: 89f). Paulus ist aber weder körper- noch leibfeindlich, er will einzig der negativen Macht des Fleisches entgegenwirken, die den Menschen von Gott entfernt. Rieger bemerkt daher korrigierend: »Nicht für eine Abwertung des Leiblich-Körperlichen tritt Paulus ein, sondern für seine Erlösung und Transformation« (2019: 79). Damit diese erlösende Verwandlung gelingen kann, muss der Mensch sich befreien aus einer Existenzweise, die durch die sündigen – wörtlich: absondernden – Einflüsse des Fleisches bestimmt ist, ohne jedoch seinen Leib, der er ja selbst ist, aufzugeben. Sich selbst transformierend soll der Mensch stärker in die vom göttlichen Geist bestimmte Existenzweise eingehen, wodurch sein Leib der Macht des Fleisches schrittweise entrissen wird. In diesem Sinn mahnt Paulus im Brief an die Korinther an, den Leib zur Heimstatt des Geistes zu machen: »Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?« (1 Kor 3, 16); »Oder wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt und dass ihr nicht euch selbst angehört?« (1 Kor 6, 19).
Auf der Grundlage dieses Verständnisses kann ein »leiblicher Gottesdienst“ (Rieger 2019: 183ff) erfolgen, bei dem der Mensch Gott in seinem Leib bzw. einem am Leib orientierten Lebenswandel dient: »Verherrlicht also Gott in eurem Leibe!« (1 Kor 6, 20b). Schmitz sieht in diesen Bildern, die den Leib als Tempel des göttlichen Geistes interpretieren, »die restlose Leibgebundenheit des Erlebens« (1998: 513) bei Paulus bestätigt. Der Geist ist hier nicht, wie zu späteren Zeiten des Christentums, in der Seele des Menschen verortet, da der Mensch »für Paulus keine Seele und auch sonst kein Asyl hat, in das er sich zwecks unleiblicher Gottesverehrung zurückziehen könnte« (ebd.: 518). Der Geist durchdringt vielmehr den ganzen Leib. Diese Deutung entspricht weitgehend einer Definition des Leibes von Böhme: »Die Selbsterfahrung, in der der Leib gegeben ist, ist das leibliche Spüren bzw. der Leib ist die räumliche Verteilung dieses Spürens selbst« (2021: 13). Zugleich ist der paulinische Mensch in seiner Beziehung zu Gott auf seinen Leib angewiesen. Entsprechend definiert Rieger: »Leib ist das Medium der Selbst-, Welt- und Gottesbeziehung, das der Mensch selbst ist« (2019: 79).
Das paulinische Menschenbild konnte im christlichen Denken nicht wirklich Fuß fassen. Jedoch führt ein abseitiger Pfad vom Leibkonzept des Paulus zur Mystik des modernen Yoga, der durchaus begangen wird. Yoga ist eine Bewegungs- und Meditationsform, eine Atem- und Bewusstseinsschulung, die das Erleben einer Einheit von Körper, Geist und Seele anstrebt. Deshalb überrascht es letztlich nicht, bei B.K.S. Iyengar (1918-2014), einem bedeutenden indischen Yogalehrer, Aussagen zu finden, die denen von Paulus sehr nahekommen. In seinem Standardwerk Licht auf Yoga schreibt er zum Beispiel, der Körper des Yogis sei »ein Tempel, in dem der göttliche Funke wohnt«. Die Bedürfnisse des Körpers seien »jene des göttlichen Geistes, der durch den Körper lebt. Der Yogi sieht nicht in den Himmel hinauf, um Gott zu finden, denn er weiß, dass Er in ihm ist« (2001: 35). An anderer Stelle erklärt Iyengar, dass einerseits der Körper zwar sterblich sei, »aber dass wir auch nur durch den Körper einen Einblick in das Göttliche gewinnen können« (2014: 62). Die vielen Menschen, die heute weltweit Yoga üben, tun dies nicht zuletzt auch, weil sie auf der Suche sind nach leiblichen, ganzheitlichen Erfahrungen, weil sie ihre verschütteten Persönlichkeitsanteile an die Oberfläche holen wollen (Andreas Hahn 2020b: 17). In einer Studie des BDYoga von 2023 gibt etwa die Hälfte der Befragten an, Yoga zu praktizieren, um ihr geistiges Befinden zu verbessern, etwa ein Viertel äußert Interesse auf geistig-spiritueller Ebene. Oft ist diese Suche mit einer unbestimmten Hinwendung zu östlichen Religionen verbunden, wovon die häufig in Yoga-Studios, aber auch in privaten Vorgärten zu findenden Buddha-Statuen zeugen. Es wäre wohl erstaunlich und widersprüchlich für die betreffenden Menschen festzustellen, dass ihr Streben nach spiritueller Leiblichkeit mit der urchristlichen Denkweise des Apostels Paulus übereinstimmt. Die evangelische Kirche hat diese Sehnsucht der Menschen nach ganzheitlichem Erleben erkannt und den aus nicht christlichen Ursprüngen stammenden Yoga in ihr spirituelles Angebot aufgenommen (Hahn 2020a). Hier könne sich der Mensch wieder »als lebendige Einheit von Körper und Geist erfahren« (Wick 2020: 30). So schließt sich, vermittelt durch die Sehnsucht, sich aufzuspüren, ein Kreis zwischen der frühchristlichen Mystik des Paulus, der Mystik des Yoga und dem Christentum der Gegenwart.
Gott als den inneren Schatz in der Tiefe des eigenen Selbst aufzuspüren, das war ihr Ziel.
Christliche Mystik des Mittelalters
Bereits in den Anfängen des Christentums wies die Anthropologie des Paulus einen möglichen Weg zu einer ganzheitlichen Leibkonzeption, sie wurde aber nicht angenommen. Ähnliches wiederholt sich in Verbindung mit der christlichen Mystik des Mittelalters. Diese Form der Suche nach einer authentischen Spiritualität entwickelte sich primär in den klösterlichen Ordensgemeinschaften, die ab dem 11. Jahrhundert als Reaktion auf den wachsenden Machteinfluss von Kirche und Theologie zahlreich neu gegründet wurden. Die christlich-klösterliche Ordensbewegung verstand sich als Gegenpol zu diesen offiziellen Instanzen, sie wollte in ihren Gemeinschaften eine neue, andere Art des Glaubens und der Religiosität praktizieren. Gott als den inneren Schatz in der Tiefe des eigenen Selbst aufzuspüren, das war ihr Ziel. Dieses Streben wurde dann als Einung, das heißt unio mystica bezeichnet.
In der christlichen Mystik haben sich vielfältige Ausdrucks- und Empfindungsformen herausgebildet. Zwei Richtungen werden dabei als bestimmend hervorgehoben, nämlich die spekulative und die affektive Mystik. Letztere zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht rational erfassbare Zustände wie Visionen und Auditionen in das mystische Erleben miteinbezieht. Mystik wird demnach, so Saskia Wendel, »als ›cognitio Dei experimentalis‹ (Erkenntnis Gottes durch Erfahrung)« (2011: 25) aufgefasst, und diese Erfahrung der Gottesgemeinschaft wird körperlich gespürt, durchdringt den Körper in allen Bereichen. Gemäß Schmitz, der das »affektive Betroffensein«, das Spüren des eigenen Körpers, zum Kriterium für die Definition des Leibes macht, handelt es sich somit um eine leibliche Erfahrung; der Leib ist der Austragungsort des mystischen Erlebens (Schmitz 1998: 529ff). Teilweise spielen dabei erotische Empfindungen eine Rolle, weshalb auch von ›Liebes‹- oder ›Brautmystik‹ gesprochen wird. Oft sind es tatsächlich Frauen, deren mystisches Erleben diese Form annimmt, umgekehrt handelt es sich bei der sogenannten ›Frauenmystik‹ meist um affektive Mystik. Denn zum Sammelbecken dieser mystischen Ausdrucksform wurden im 13. und 14. Jahrhundert die Klöster der Franziskanerinnen und Zisterzienserinnen sowie die Gruppierungen innerhalb der Beginenbewegung, Frauen, die jenseits der Orden in kleinen christlichen Haus- und Lebensgemeinschaften unabhängig von Ordensregeln eine intensive Spiritualität lebten.
In deutlichem Unterschied zur affektiven Mystik ist die spekulative Variante rein theoretisch-philosophisch ausgerichtet. Visionen oder andere ekstatische Erfahrungen werden hier vehement abgelehnt. Als reinster Vertreter der spekulativen Mystik gilt Meister Eckhart. Gemäß seiner Lehre wird das mystische Erleben »ein bildloses, gewissermaßen intellektives Schauen und Erfahren Gottes« (Wendel 2011: 26). Laut Anselm Grün hatte Meister Eckhart »wohl den größten Einfluss auf die Mystik von heute« (2009: 48). Entscheidend für diese Einschätzung ist der Gedanke der »Gottesgeburt in der Seele« (ebd.: 50). Meister Eckhart macht den denkenden Geist und die Seele zum Ort des mystischen Erkennens und bindet damit die christliche Spiritualität fest an die (neu-)platonische Philosophie. Sicher hat die Vorstellung, mit dem mystischen Erleben in den eigenen Seelengrund zu tauchen, eine starke Anziehungskraft, weil die Seele einen sicheren, unangreifbaren Rückzugsort bildet. Gleichzeitig zementiert diese Form der mystischen Erfahrung aber den Dualismus von Körper und Seele beziehungsweise Geist, denn der Körper beziehungsweise der Leib sind von der mystischen Offenbarung völlig ausgeschlossen. Dennoch setzt sich mit Meister Eckhart die in der Seele wurzelnde spekulative Mystik gegenüber dem affektiven Weg durch. Genau hier setzt die Kritik von Schmitz an.
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Tattva Viveka Nr. 101
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Schwerpunkt: Tabuthema Tod
Erschienen: Dezember 2024
Klemens J.P. Speer – Von den letzten und den ersten Dingen • Viktor Terpeluk – Nahtoderfahrung und Persönlichkeitsentwicklung • Bartosz Werner – »Heute ist ein guter Tag, um zu sterben.« • Philipp Feichtinger – Durch die Trauer zu einem erfüllten Leben • Irene Schneider – In Gemeinschaft vom Leben Abschied nehmen • Sophie Baroness von Wellendorff – Das Wunder der zwölf heiligen Rauhnächte • Teresa Brunnmüller – Fürchtet euch nicht • Dr. Sylvester Walch – Wege zur Ganzheit (1) • Christiane Krieg – Heiliger Kakao • Buchbesprechungen • u.v.m.
Zur Autorin
Dr. Annette Blühdorn, Studium der Klassischen Philologie, Slawistik, Germanistik; Promotion über zeitgenössische deutsche Lyrik; langjährige Lehrtätigkeit als Universitätsdozentin in England; Yoga-Praktizierende seit fast 40 Jahren; zertifizierte Iyengar-Yoga-Lehrerin, seit 2014 mit eigenem Studio in Millstatt am See, Kärnten; Mitarbeiterin im Redaktionsteam der Verbandszeitschrift von »Iyengar-Yoga Deutschland e.V.«; verschiedene Veröffentlichungen.
Webseite: yoga-weinleiten.at
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