23 Okt. Weltenwandern
Entdecke einen neuen Pilgergeist mit alten Wurzeln
Autorin: Waltraud Hönes
Kategorie: Spiritualität
Ausgabe Nr: 104
Unsere Mutter Erde braucht, insbesondere in einer Zeit der Ausbeutung und Vernachlässigung, unsere Zuwendung. Eine neue Form des Pilgerns lädt uns ein, heilige Stätten aufzusuchen und Pachamama an solch besonderen Orten zu ehren. Wie wir uns mit der richtigen Einstellung und Wertschätzung auf Wanderschaft begeben, verrät Waltraud Hönes.
»Pilgern« ist ein Begriff, der sehr unterschiedliche Reaktionen auslöst. Manche winken sofort ab, weil das Wort für sie zu sehr christlich-religiös behaftet ist und verstaubt klingt, während andere lebhaftes Interesse zeigen, weil sie an den aktuellen Trend denken, sich auf Pilgerwege zu begeben, um sich selbst zu finden. Doch ich meine weder das eine noch das andere, sondern eine Art des Pilgerns, die ich gerne als »Weltenwandern« bezeichne. Ich will damit einen Begriff prägen, der die oben genannten Missverständnisse vermeidet und neugierig darauf macht, was es damit auf sich haben könnte. In meinem gleichnamigen Buch habe ich es »das neue Pilgern« genannt, weil das zugrundeliegende Konzept in unserer Zeit neuartig ist. Diese Bezeichnung ist allerdings auch paradox, geht es doch auf die wohl älteste Form des Pilgerns zurück. Werfen wir also zunächst einen Blick auf die Ursprünge des Pilgerns und das Weltbild, aus dem heraus es entstanden ist.
Die Anfänge
Pilgern ist viel älter als das Christentum und auch älter als die anderen großen Weltreligionen; es ist vermutlich so alt wie die Menschheit selbst. Schließlich war die spirituelle Dimension des Menschseins schon bei unseren ältesten Vorfahren voll ausgebildet und prägte ihre Wahrnehmung von sich selbst und der Welt. Davon zeugen Felsmalereien und Funde von rituellen Gegenständen überall auf der Welt. Vermutlich schenkten diese Menschen dem Spirituellen sogar wesentlich mehr Aufmerksamkeit als »zivilisierte« Menschen heute. Sie wussten, dass die Beziehung zwischen den Menschen und der unsichtbaren Welt von größter Bedeutung für ein gutes Zusammenleben mit den anderen Wesen der sichtbaren Welt war.
Für unsere ältesten Vorfahren gab es sicherlich keine so scharfe Trennlinie zwischen den Bereichen des Sichtbaren und des Unsichtbaren, wie wir sie ziehen. Es ist unsere Kultur, die aus einem zarten Schleier eine undurchdringliche Mauer gemacht hat. Wir können allerdings nur darüber spekulieren, wie deutlich die Präsenz von Geistwesen von allen damaligen Menschen wahrnehmbar war. Auf jeden Fall waren Medizinpersonen, die Weisen des Stammes, Schamanen und Schamaninnen in der Lage, mit ihnen in Kontakt zu treten, und das hat sich bis heute nicht geändert.
Medizinleute machten sich auf, um heiligen Orten ihre Gaben zu bringen.
Damit sind wir bei den Anfängen des Pilgerns angelangt, wie es vermutlich bereits von den damaligen Medizinleuten praktiziert wurde: Sie machten sich auf, um heiligen Orten ihre Gaben zu bringen. Der Zweck ihres Besuches war es, die Wesen, die diese Plätze bewohnten und hüteten, zu nähren. Damit verbunden war eine mehr oder weniger komplexe zeremonielle Handlung mit Gebeten, Gesang und rituellen Gesten. Sie erbaten ihre direkte Intervention, erhielten aber im Gegenzug selbst Kraft von ihnen, um sie zum Wohle der menschlichen Gemeinschaft in heilsamer Weise einzusetzen, wobei sie diese als Teil einer größeren Gemeinschaft von Wesen der Natur und des Kosmos ansahen. Das Motiv dieses Pilgerns war es demnach, ihrer Gemeinschaft besser dienen zu können, indem sie die Beziehung mit diesen heiligen Stätten und ihren Hütern in angemessener Weise pflegten. Es gehörte zur Aufgabe einer Medizinperson, sie regelmäßig aufzusuchen und ihnen Nahrung zu bringen, denn sie wurden als maßgeblich für den Schutz und das Wohlergehen der Gemeinschaft angesehen. Zu ihnen zu pilgern war aus zwei Gründen notwendig: um die Welt in Ordnung zu halten und um die Heilkraft des Ortes und der dortigen Geistwesen durch sich selbst (meist vermittelt durch heilige Gegenstände) zu den Menschen zu bringen. Je mehr sie diese heiligen Orte mit Gaben und Zeremonie stärkten, umso besser konnten diese ihrer Schutzfunktion nachkommen und umso mehr von ihrer Kraft zur Verfügung stellen. Es war ein Austausch mit ihnen in heiliger Wechselseitigkeit.
Bei manchen indigenen Völkern wird diese Art des Pilgerns nach wie vor praktiziert, und ihre heiligen Orte ähneln vermutlich denen unserer Urahnen: Es können Schreine sein, wie zum Beispiel Steinpyramiden oder Steinkegel, Erdhügel, einfache Altarplattformen, senkrecht aufgestellte längliche Steine oder Holzpfähle, die an mythisch bedeutsamen und kraftvollen Plätzen in der Landschaft errichtet werden, wie bei einem See, am Fuße einer Felswand oder auf einem Hügel. Es kann sich aber auch um Naturheiligtümer ohne zusätzliche menschengemachte Bauwerke handeln, wie etwa heilige Bäume, Höhlen, Quellen oder Felsen.
Nach dem Verständnis solcher Kulturen kann die Heilung eines Menschen nicht nur dadurch erfolgen, dass die Medizinperson persönlich bei einem Patienten interveniert. Sie wird es manchmal tun und manchmal nicht oder nur in minimaler Weise. Es hängt davon ab, für wie stark sie den Einfluss einer Störung innerhalb der gesamten Gemeinschaft auf das Leiden eines einzelnen Menschen hält. Oft ist es ausreichend, dass der einzelne den Hüterinnen und Hütern der heiligen Orte bestimmte Gaben bringt und bestimmte Gebete dort spricht, da es nie ohne diese gehen wird. Das Wohlergehen eines einzelnen Menschen kann nie von dem der ganzen Gemeinschaft getrennt werden, die wiederum aus menschlichen und nichtmenschlichen, sichtbaren und auch unsichtbaren Mitgliedern besteht. Die wechselseitigen Beziehungen zwischen ihnen müssen stimmen, damit es allen gut geht. Deshalb haben die Rituale von Medizinpersonen an heiligen Orten auch präventiven Charakter: Es ist besser, die Welt in Ordnung zu halten, statt heilen zu müssen.
Heilige Orte
Nun wird es verständlich, warum heilige Stätten als Stützpfeiler der Welt angesehen werden. Sie sorgen für Stabilität in der kosmischen Ordnung, sind jedoch zugleich »hohl«, das heißt durchlässig, denn bei ihnen stehen die Tore zwischen den vertikal übereinanderliegenden Welten offen, sowohl nach oben zu den Sternen als auch nach unten in die Erde hinein. Tatsächlich ist es ihre Eigenschaft, Himmel und Erde miteinander zu verbinden. Das ist das, was sie als heilig auszeichnet. Sie sind zahlreich und haben die Funktion von zarteren Pfeilern, während die heiligen Berge selbst (oder je nach Landschaft auch heilige Hügel und heilige Bäume) die großen tragenden Säulen im Weltgebäude sind.
Heilige Orte sind im Allgemeinen mit bedeutsamen Begebenheiten aus dem Mythos von Ursprung und Bestimmung des jeweiligen Volkes verbunden.
Heilige Orte sind im Allgemeinen mit bedeutsamen Begebenheiten aus dem Mythos von Ursprung und Bestimmung des jeweiligen Volkes verbunden. Die Lehren aus dem, was sich dort abgespielt hat, wirken durch den Ort selbst, an dem die mythischen Protagonisten in Geistform stets gegenwärtig sind. Sie machen einen großen Teil seiner Heilkraft aus und prägen oft seine physische Erscheinung, zum Beispiel, wenn man in einem Felsen ein Gesicht erkennen kann oder sich an dem betreffenden Ort ein Tier besonders häufig zeigt, das mit der mythischen Gestalt assoziiert ist. Sichtbare und unsichtbare Aspekte der Landschaft durchdringen einander; der Schleier fällt an diesen bezaubernden Plätzen.
Pilgern gehörte also ursprünglich zur Aufgabe einzelner Menschen innerhalb einer Stammesgemeinschaft – seien es ihre Medizinpersonen oder andere dazu beauftragte vertrauenswürdige Mitglieder der Gemeinschaft, in deren Verantwortung es lag, die heiligen Stätten instand zu halten und mit Nahrung zu versorgen. Besonders hohe heilige Stätten durften nur von qualifizierten Personen aufgesucht werden. Es erforderte bestimmte Initiationen, um in der Lage zu sein, verantwortungsvoll mit ihren Kräften umzugehen. Zu anderen, weniger heiklen Orten sandten Medizinpersonen aber auch die Heilungssuchenden selbst, damit sie ihre fundamentale Beziehung mit der Erde, der Quelle allen Lebens, erneuern und sich den Kräften des Himmels öffnen konnten. Dann fiel ihr Heilungsritual auf viel fruchtbareren Boden. Es konnte in manchen Fällen sogar an der heiligen Stätte selbst ausgeführt werden, meist aber in ihrer Behausung mit Hilfe von Medizingegenständen, die von diesen besonderen Orten stammten oder ihnen auf dem Weg dorthin von verbündeten Geistwesen geschenkt worden waren.
Persönliche Pilgerreisen und individuelle Heilung
So kam es, dass sich Menschen auf Pilgerschaft begaben, um für sich selbst Heilung zu suchen beziehungsweise das Wohlwollen von höheren Wesen zu erbitten. Dem heiligen Ort etwas zu bringen, war dabei unerlässlich, damit die heilige Wechselseitigkeit stimmte. Dennoch unterschied sich ihr Pilgern bereits in einem wesentlichen Punkt von dem der Medizinpersonen. Während letztere in erster Linie die Beziehung der menschlichen Gemeinschaft mit den Geistwesen ihrer Landschaft in Ordnung hielten oder sich dort stärkten, um heilsam wirken zu können, war das Motiv der ersteren ein persönliches.
Allmählich entstanden auch größere gemeinsame Pilgerschaften von vielen Menschen, die oft weiter entfernte bedeutende heilige Orte zum Ziel hatten. Die Anlässe dazu waren meistens Feierlichkeiten, zu denen öffentliche Zeremonien von Medizinpersonen und anderen Eingeweihten stattfanden. Auf diese Weise verband sich der persönliche mit dem gemeinschaftlichen Zweck, denn die Gaben von zahlreichen Pilgern bedeuteten auch eine enorme Stärkung der betreffenden heiligen Stätte zum Wohle aller. Manchmal war es auch so, wie wir es zum Beispiel von den Inkas über die Pilgerschaft zum heiligen Felsen Titicaca auf der Sonneninsel im Titicacasee wissen, dass nicht alle Pilger ganz bis zur heiligen Stätte vorgelassen wurden. Sie mussten ihre Gaben schon vorher abgeben, weil der Schrein als zu heikel angesehen wurde, um nicht Initiierten Zugang zu ihm zu erlauben. Die Zeremonie zu Ehren des Heiligtums war nur den Eingeweihten vorbehalten, während alle anderen den Feierlichkeiten aus einiger Entfernung beiwohnen durften.
So kam es, dass sich Menschen auf Pilgerschaft begaben, um für sich selbst Heilung zu suchen beziehungsweise das Wohlwollen von höheren Wesen zu erbitten.
In manchen Kulturen war es üblich, dass sich Eingeweihte auf lange Pilgerschaften weit über ihr heimatliches Gebiet hinaus aufmachten, um berühmte heilige Stätten anderswo zu ehren. Sie handelten im gleichen Geist wie Stammesmedizinpersonen und pilgerten in erster Linie, um die besuchten heiligen Orte zu stärken und damit einem höheren, über sich selbst hinausgehenden Zweck zu dienen.
Der Einfluss des Christentums
Mit dem Aufkommen des Christentums wurde das Darbringen von »Opfergaben« auf einmal zu einer verbotenen Handlung, da es jetzt nur noch den einen Gott gab, der materielle Gaben ablehnte, weil er so weit weg oben im Himmel regierte und daher keine physische Nahrung brauchte. Die Beziehung zu den Geistwesen, die in der Landschaft ansässig waren, und die Beziehung zur göttlichen Mutter Erde selbst, durften auf einmal nicht mehr gepflegt werden. Die Verunglimpfung des Materiellen (Mater bedeutet Mutter) hatte begonnen, doch paradoxerweise wuchs damit auch die Gier danach, es zu besitzen.
Mit dem Aufkommen des Christentums wurde das Darbringen von »Opfergaben« auf einmal zu einer verbotenen Handlung.
Tatsächlich denken die meisten Menschen, wenn sie das Wort »Opfergabe« hören, an exzessive oder gar barbarische Rituale mit Tier- oder gar Menschenopfern (die es mancherorts auch gegeben hat) und nicht an kleine Geschenke wie Nahrungsmittel, Räucherkräuter, Muscheln, Blumen, Edelmetall und Juwelen. Die letztgenannten kostbaren Objekte hatten einst ihren Wert als Gaben und nicht als Besitz, den man für sich selbst behalten wollte. Was man in den Anden Ayni nennt, das hohe ethische Prinzip der heiligen Wechselseitigkeit, das die »rechte« Beziehung zwischen den Menschen und ihren Mitwesen sicherstellt, war untergraben. Ayni bedeutet so viel wie »heute für mich – morgen für dich«. Diesem neuen Gott konnte man aber nach dem Prinzip des Ayni nichts mehr geben, weil er so weit über den Menschen stand. Man konnte nur um seine Gnade bitten und betteln und versuchen, sich entsprechend seinen Vorgaben so gut wie möglich zu benehmen, damit man nicht bestraft wurde. Direkt mit ihm in Kontakt zu treten, war nur Priestern vorbehalten. Dieser Umstand hat zweifellos in maßgeblicher Weise dazu beigetragen, dass sich in der abendländischen Kultur die fatale Ansicht durchsetzte, dass wir von der (jetzt seelenlosen) Erde nehmen können, so viel wir wollen, ohne ihr etwas dafür zurückgeben zu müssen. Dies führt leider auch heute noch dazu, dass man so viel wie möglich von ihr haben, ihre Schätze ausrauben und besitzen will. Doch wie absurd ist es, ein Stück von einem göttlichen Wesen besitzen zu wollen? Es besteht offensichtlich ein Zusammenhang zwischen dem Verlust der Heiligkeit der Erde und unserem Materialismus.
Etwas zu haben war einst dafür gut, um etwas geben zu können, sodass alle genug hatten. Diese Sichtweise stellt einen radikalen Perspektivwechsel für uns dar, der entscheidend dafür ist, dass wir die ursprüngliche Art des Pilgerns wirklich verstehen können. Ihn zu vollziehen, ist der Schlüssel zum Weltenwandern als einem »neuen Pilgern«: Gehen, um die Welten zu verbinden und den wechselseitigen Kraftfluss zwischen ihnen und innerhalb »dieser« Welt in Gang zu halten.
Pilgern als Buße
Werfen wir jedoch zuerst noch einen Blick darauf, welche Form das Pilgern unter dem Christentum annahm. Wer an christliches Pilgern denkt, dem fallen wahrscheinlich Besuche von Wallfahrtsorten ein, zu denen Menschen pilgern, um dort um Heilung und Schutz zu bitten. Anklänge an das ältere persönlich motivierte Pilgern zu heiligen Orten sind somit vorhanden, umso mehr, als es sich bei den Wallfahrtsorten meistens um Kirchen handelt, die auf älteren Naturheiligtümern errichtet worden sind. Dadurch wurden die Wesen, die einst den Ort belebt und beseelt hatten, in den Hintergrund gedrängt, obwohl sie es waren, die den Ort heilkräftig gemacht hatten.
Nimmt man jedoch die Motive für die große mittelalterliche Pilgerschaft nach Santiago di Compostela, die in jüngster Zeit eine Renaissance erfahren hat, unter die Lupe, dann findet man einen fundamentalen Unterschied zum alten »heidnischen« Pilgern. Nachdem man mit schlimmen Folgen rechnen konnte, sollte man gegen das Gesetz des Gottvaters verstoßen und gesündigt haben, war man auf seine Gnade angewiesen und am besten beraten, wenn man Buße tat. Die Pilgerschaft nach Santiago di Compostela wurde zur großen Bußpilgerschaft des Mittelalters; trat man sie an und vollendete sie, konnte man Ablass erwirken. Vieles ist über sie geschrieben worden, auf das ich in diesem Zusammenhang nicht näher eingehen will. Was uns hier hauptsächlich interessiert, ist die grundlegende Veränderung im Geist des Pilgerns, die damals in Europa vollzogen wurde.
Bußpilgern macht eine Pilgerschaft zur Strafe; ihre Beschwerlichkeit ist maßgeblich für ihre Wirkung. Je mehr man sich schindet, desto mehr kann man abbüßen. Im Vordergrund stehen daher nicht mehr Heilung und Wohlergehen, sondern Straferlass. Bittet man um Heilung, dann geschieht dies aus dem Verständnis heraus, dass die Krankheit eine göttliche Strafe darstellt. Der Weg nach Santiago war ein Weg der Verzweiflung und für viele ein Weg aus dem Leben hinaus (nach Westen, wo das Ende der Welt war) und nicht ein Weg zu einem besseren Leben hin. Wer es sich leisten konnte, bezahlte einen Profipilger, der die Sache für einen erledigte – ein gutes Geschäft mit Gott. Sonst musste man die Strapazen selbst auf sich nehmen, wobei es ungewiss war, ob man je zurückkehren würde.
Modernes Pilgern
Die moderne Version der Pilgerschaft auf dem Jakobsweg versucht, sich davon zu lösen und verspricht das Gegenteil: Pilgerwandern als lustvolles Erlebnis, wenn auch zuweilen anstrengend, das neue Erfahrungen ermöglicht. Manche begeben sich wieder auf diesen Weg, um Heilung zu suchen, doch den meisten geht es hauptsächlich darum, sich eine Auszeit von den Strapazen des Alltags zu gönnen und auf einer gut planbaren Wanderung durch wunderbare Landschaften zur Ruhe zu kommen. Man trifft interessante Menschen und Unterkünfte sind vorhanden, sodass es eigentlich eine recht komfortable Angelegenheit ist. Viele stecken in einer Sinnkrise und suchen Neuorientierung. Es ist der Versuch, auf dem Weg der Bußpilger auf eine andere, freudvollere Weise zu pilgern. Doch die Vergangenheit lastet auf dieser Pilgerroute. Sie ist tief in sie eingeprägt, auch in die Landschaft selbst, die durch die Geistwesen, die sie bewohnen, selbst ein Gedächtnis hat. Auf einem Weg wie diesem, der von so vielen einstmaligen Pilgern in einem düsteren Geist begangen worden ist (und auf dem sie zum Teil ihr Leben gelassen haben), ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass dieser auch heute noch auf uns wirkt, und zwar auch dann, wenn wir genau das Gegenteil davon wollen. Starke Medizin ist notwendig, um dieses Erbe zu transformieren. In meinem Buch »Seele der Landschaft – Landschaft der Seele« habe ich von meiner eigenen Reise nach Santiago erzählt, die ich mit der Absicht unternahm, Transformation zu bewirken. Das Ziel dieser Pilgerschaft, die Kathedrale von Santiago – voll von gestohlenem Inka-Gold – bestätigte mir, wie sehr der überholte Geist des mittelalterlichen Pilgerns dort noch weht.
Wie anders ist also dieses moderne Pilgern wirklich? Die Motive sind nach wie vor persönlicher Natur, auch wenn es größtenteils nicht mehr um Buße, sondern Selbstfindung geht. Eine grundlegende Veränderung wäre es jedoch, eine neue Richtung einzuschlagen, andere Wege zu gehen und zu einer Art des Pilgerns zu finden, deren Motive über persönliche Anliegen hinausgehen.
Eine neue Form des Pilgerns
Was ist nun kennzeichnend für ein solches neues Pilgern, das seinen ursprünglichen Zweck wiederentdeckt, den Geist neu belebt und zeitgemäß weiterführt? Wie wird Pilgern zum Weltenwandern? Um es kurz zu charakterisieren: Es ist ein Unterwegssein für die Erneuerung unserer Beziehung mit der lebendigen Erde samt ihren sichtbaren und unsichtbaren Wesen, mit denen wir dabei in einen wechselseitigen Austausch treten. Viel zu lange haben wir nur von ihr genommen, sodass es höchste Zeit ist, ihr etwas zu geben, um Ayni wiederherzustellen. Beim Weltenwandern ist es wesentlich, dass unsere Liebe für Mutter Erde wiedererwacht. Geben von Herzen bringt uns wieder in rechte Beziehung mit ihr. Wir erinnern uns wieder daran, dass wir Pachamamas Kinder sind und den Platz in der Gemeinschaft all ihrer Wesen einnehmen sollen, der uns zusteht, in Demut vor ihrer Größe und doch als aufrechte Menschen.
Etwas materiell zu geben ist wichtig, weil es um sie geht, die Mutter der Materie, und weil es uns hilft, unseren Materialismus zu überwinden. Getrocknete Kräuter, alkoholische Blütenessenz, frische Blumen aus dem Garten sind beispielsweise willkommene Geschenke an einem heiligen Ort in der Natur. Wie bei unseren ältesten Vorfahren pilgern wir in erster Linie zu heiligen Orten, an denen wir Menschen gemeinsam mit der Natur den Ort gestaltet haben, und nicht zu solchen, an denen wir die Natur ausgesperrt haben. Reden wir uns ein, dass rein geistige Gaben ausreichend sind, betrügen wir uns leicht selbst. Es ist etwas anderes, wenn ich mir die Mühe mache, meine Blumen zu pflegen, die ich dann dem heiligen Ort bringe, und meine anderen Gaben zusammensuche, für die ich auch ein wenig Geld ausgeben muss. Ja, wenn es uns wenigstens eine Kleinigkeit kostet, dann zeigt sich, ob wir tatsächlich imstande sind, großzügig und mit Freude zu geben.
Es ist ein großer Schritt für uns, zu einer Ethik des Gebens und füreinander Sorgens zurückzufinden. Wir sind darauf getrimmt, an persönlichem Besitz festzuhalten, um mindestens gleich viel zu haben wie andere oder besser noch mehr. Die meisten tun es aus Angst, nicht genug zu haben, und diese Angst ist in einem System des persönlichen Profits (auf Kosten anderer) sehr wohl berechtigt. Eine wohlhabende Minderheit tut es, um sich Privilegien zu sichern, beziehungsweise Macht über andere ausüben zu können, wobei auch solchem Verhalten versteckte Angst zugrunde liegt. Angst liegt an der Wurzel von Gewalt, und nur Liebe kann Angst überwinden.
Es wäre bahnbrechend, wenn wir es schaffen könnten, diese Angst abzulegen und wieder dahin zurückzukommen, gemeinschaftlich für unser aller Wohl zu sorgen. Dann würden wir es auch für die Erde tun und aufhören, sogar sie besitzen zu wollen. Dann könnte das göttlich weibliche Prinzip wieder Einzug in der Welt halten. Der Schlüssel dazu ist, dass wir uns von der Vorstellung befreien, dass Geben etwas verlieren heißt. Denn eigentlich ist es genau das Gegenteil: Es bedeutet einen Gewinn für die größere Gemeinschaft von Wesen, der wir selbst angehören. Um das zu erkennen, müssen wir allerdings unser Selbstkonzept über die engen Grenzen der Ego-Identität hinaus erweitern. Verwoben miteinander in einem komplexen Weltgewebe, das durch wechselseitigen Austausch belebt wird, haben wir nicht nur eine persönliche menschliche Seele, sondern gehören auch der Seele der Welt an. Weltenwandern fördert eine solche Erweiterung unseres Selbst, denn es öffnet uns die Augen für unsere Zugehörigkeit zum großen Netz des Lebens. Wir können mit dieser neuen Form des Pilgerns ein nicht zu unterschätzendes Zeichen für einen gesellschaftlichen Wandel auf der spirituellen Ebene setzen.
Weil Weltenwandern im Geist der heiligen Wechselseitigkeit geschieht, werden wir dabei auch selbst beschenkt, und zwar oft in unerwarteter Weise. Obwohl es nicht der Zweck dieses Pilgerns ist, geschieht es von selbst – in Ayni. Es geht nicht darum, sich aufzuopfern, sondern sich durch Geben zu erweitern. Wir erfreuen uns selbst an der Schönheit eines gut genährten, blumengeschmückten Steinschreins und spüren die wohltuende Kraft eines Ortes, an dem Himmel und Erde sich näherkommen. Die Geste des Gebens, die Schönheit hervorbringt, berührt unser Herz und klärt es. Entscheidend ist, dass wir uns von unserer eigenen Bedürftigkeit verabschieden und aus Liebe geben. Denn das befreit uns von der Angst, etwas zu verlieren. Es ist zuallererst unsere Liebe, nach der sich Pachamama sehnt und die ihr hilft, sich zu regenerieren und zu transformieren. Geben wir sie ihr, dann wird sie uns ihrerseits alles geben, was wir wirklich brauchen.
Beim Weltenwandern ist es wesentlich, dass unsere Liebe für Mutter Erde wiedererwacht.
Betrachten wir zudem die Art des Gehens, die zum Weltenwandern gehört: Auch wenn es zuweilen körperliche Anstrengung erfordert, brauchen wir uns nicht zu schinden. Wir wollen Pachamama mit unseren Schritten streicheln und bereits auf dem Weg zu einem Heiligtum mit den Wesen der Landschaft in Kontakt treten. Diese erweiterte Aufmerksamkeit lässt den Schritt bedächtig werden, damit unser Blick schweifen kann. Bäume, Felsen, Blumen, Bäche, Seen, Berge – nicht nur wir nehmen sie wahr, sondern sie auch uns. Mit einer Handbewegung können wir ihnen unseren Atemhauch übermitteln, um sie zu grüßen und ihnen etwas von unserem Geist zu übermitteln. Wir bereiten uns dabei bereits auf die Begegnung mit dem besonderen Ort vor, der unser Ziel ist, lassen Alltagsgedanken und Sorgen hinter uns und werden innerlich frei für diese Begegnung. So kommen wir mit weit offenem Herzen am heiligen Ort an und erfahren bei seiner »Fütterung« und der kleinen Zeremonie, die wir dort feiern, wie unser Herz klar und strahlend wird, unsere Füße in die Erde hineinwachsen und unser offener Scheitelpunkt sich weit nach oben ausdehnt. Wir werden zu einem Durchlass zwischen Himmel und Erde wie der heilige Ort selbst und verbinden die Welten oberhalb und unterhalb mit dieser »mittleren« Welt von unserer Herzmitte aus. Nie werden wir etwas von dem Mitgebrachten zurückhalten wollen, sobald wir einmal erlebt haben, wie ein Schrein durch die materiellen wie die geistigen Gaben, die wir ihm bringen, zu leuchten und aufzublühen beginnt und mit jedem Besuch mehr beseelt wird.
Die Zukunft des Pilgerns
In unserer Zeit wäre es wichtig, dass viele Menschen auf diese Weise zu pilgern beginnen. Wir alle können der Erde Medizin geben und uns dabei selbst heilen und unser Bewusstsein erweitern. Wir Menschen können mit unserem eigenen göttlichen Funken Schönheit mitschaffen, wenn wir nicht Alleinherrscher sein wollen. Mit meiner Gruppe von Weltenwanderern praktiziere ich seit nunmehr 25 Jahren diese neue Form des Pilgerns. Wir versorgen ein Netzwerk von weit über hundert Steinschreinen im Dolomitengebiet und darüber hinaus. So ist ein fein gewobenes Lichtnetz entstanden, das die heiligen Berge ehrt und nährt, und aus dem die Kraft für die planetare Heilungsarbeit kommt, die ich als meine Aufgabe ansehe. Es ähnelt einer indigenen heiligen Landschaft, in der die große Geschichte von der Welt, die wir den Neuen Mythos von Fanes nennen, zu neuem Leben erwacht ist und weitergeht. So sind auch bei uns viele heilige Orte Schauplätze heil- und lehrreicher mythischer Ereignisse, die bei jedem Besuch des betreffenden Ortes wieder lebendig werden. Auch das ist Weltenwandern: die mythische Landschaft mit der physischen (wieder) zusammenzubringen.
Wir alle können der Erde Medizin geben und uns dabei selbst heilen und unser Bewusstsein erweitern.
Auf der Grundlage meiner Lehre in der Andentradition und des Weltmythos von Fanes entstand Wayna Fanes, der siebenfache Weg des kristallenen Herzens. Wir Wayna Fanes (jungen Fanes) sind jedoch nicht nur beim neuen Pilgern in der Landschaft Weltenwanderer, sondern auch bei der gemeinsamen Arbeit mit einer Mesa (einem Mikrokosmos aus Medizinstücken, die auf einem gewebten Tuch angeordnet sind). In der Landschaft selbst sowie an der Mesa mit den Kräften der Natur und des Kosmos zu arbeiten, entspricht dem, was Medizinpersonen seit jeher getan haben. Neu ist, dass alle Gruppenmitglieder eigene Mesas haben, die in gemeinsamen Zeremonien zusammenwirken, und dass wir gemeinsam für die heiligen Orte sorgen. Auf diese Weise ist ein Kraftzentrum entstanden, von dem eine neue Pilgerbewegung ausgehen kann. Manchmal stellen wir uns vor, welche gesellschaftliche Veränderung es mit sich brächte, wenn mehr Weltenwanderer als herkömmliche Touristen unsere Region bereisten. Sie würden Liebe mitbringen, weniger Müll zurücklassen und die Zerstörung der Landschaft aufhalten, weil ihnen mehr an ihrer Ursprünglichkeit gelegen wäre als an »touristischen Infrastrukturen«. Sie selbst würden viel reicher beschenkt zurückkehren als nach einem gewöhnlichen Urlaub, denn sie würden der lebendigen Landschaft tatsächlich begegnen und so ihre Seele nähren.
Wer das Weltenwandern einmal kennengelernt hätte, könnte damit beginnen, auch in der Nähe des eigenen Wohnortes heilige Orte zu schaffen, die mit unseren vernetzt werden würden. So könnten ganze Landschaften zu ungeahnter Beseeltheit wiedererwachen. Pachamamas Lichtkleid würde zu strahlen beginnen. Jene große neue Pilgerroute könnte entstehen, die dem göttlich weiblichen Bewusstsein den Weg zurück in diese Welt bahnt. In der peruanischen Überlieferung heißt diese weltumspannende Route Ruta de Wiraqocha (nach der andinen Schöpfergottheit, die sich als neue Weltlehrerin verkörpern wird). Sie verläuft von Nordwesten nach Südosten um den ganzen Globus und durchquert auch Europa. Man könnte sie auch den Weg des kristallenen Herzens nennen, denn die wiederkehrende Göttin will, dass der bevorstehende Pachakuti (die Weltumkehr) dadurch geschieht, dass wir unser Herz klären und wieder in den Mittelpunkt stellen. Die heilige Landschaft, die wir Weltenwanderer von Wayna Fanes mitgestaltet haben, bildet das Herzstück dieser Route in Europa.
Hier, wo die mythische Vision vom unvergleichlich strahlenden Stein, der Rayeta, wieder lebendig geworden ist, hat sich auch enthüllt, dass diese einst von einer Göttin von den Sternen auf die Erde gebracht wurde und später in ihr verschwand, weil die Menschen noch nicht reif für sie waren. Das Herz einer kritischen Zahl von Menschen muss kristallklar werden, damit sie wieder zurückkehren kann. Nur mit einem solchen Herzen werden wir mit dem göttlichen Geschenk in heilbringender Weise umgehen können. Indem wir Gaben zu heiligen Orten bringen, klären wir nicht nur unser eigenes Herz, sondern füttern zugleich die Rayeta tief unten in der Erde, wo sie noch weiter heranwächst. Ja, die Erde ist heilig, so heilig, dass das strahlende Juwel der voll aufgeblühten Seele aus ihr zu uns zurückkehren wird.
Es ist weitaus mehr das Herz als der Kopf, das uns als Menschen auszeichnet. Unsere mentalen Fähigkeiten können nur dann Heilvolles bewirken, wenn der Kopf gut mit dem Herzen verbunden ist und ein klares Herz die Entscheidungen trifft. Dann kann der göttlich weibliche Geist in uns wirken und uns den Weg in ein Zeitalter des Wiederzusammenkommens zeigen. Die bewusstseinsverändernde Kraft, die vom Pilgern ausgeht, ist groß. Ein neuer Pilgergeist im Sinne des Weltenwanderns könnte den Stein für den ersehnten Wandel ins Rollen bringen. Wenn viele in eine neue Richtung gehen, bewegt sich etwas.
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Tattva Viveka Nr. 104
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Schwerpunkt: Neue Arbeit
Erschienen: September 2025
Dirk Grosser – Arbeit als sichtbar gemachte Liebe • Werner Heussinger & Heike Görner – Digitalisierung und Künstliche Intelligenz • Prof. Dr. Maik Hosang – Aufbruch in die Metamoderne • Stephen Reid – »Es geht um eine Werteverschiebung in der Gesellschaft« • Dr. Johannes Hartl – Mit Fokus seine Berufung finden • Nicole Schröter – Human Deisng: Erwecke dein wahres Potenzial • Bernadette Siebers – Führung von innen • Dr. Dr. Walter von Lucadou – Parapsychologie: Ein Beitrag zur Bewusstseinsforschung (2) • Waltraud Hönes – Weltenwandern • Buchbesprechungen • u.v.m.
Zur Autorin
Waltraud Hönes Waltraud Hönes, zeremonielle Künstlerin, »Curandera«, transpersonale Psychologin und Buchautorin, ist die Gründerin von Wayna Fanes, dem siebenfachen Weg des kristallenen Herzens. Auf der Basis ihrer Lehre in der Andentradition erweckte sie den weiblich geprägten Weltmythos von Fanes (Dolomiten) zu neuem Leben. Sie leitet Workshops und Pilgerseminare und sorgt für ein umfangreiches Netzwerk von heiligen Orten, dessen Kraft in ihre Zeremonien für einen kollektiven Bewusstseinswandel fließt.
Bildrechte: Waltraud Hönes. Webseite: waynafanes.org
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