29 Nov In Gemeinschaft vom Leben Abschied nehmen
Unser Kloster in der Seniorenresidenz
Autor: Irene Schneider
Kategorie: Theologie
Ausgabe Nr: 101
16 Ordensfrauen des Dominikanerordens entscheiden, ihre letzte Lebensphase gemeinsam in einer Seniorenresidenz zu verbringen, um gemeinsam vom Leben Abschied zu nehmen. Die spirituelle Begleiterin und Gestalttherapeutin Irene Schneider steht ihnen dabei zur Seite. Im folgenden Gespräch teilt sie mit uns die Herausforderungen sowie die lichtvollen Momente, die einem in der letzten Lebensphase begegnen, und erläutert, wieso ein Leben in Liebe und Verbundenheit einem dabei hilft, der eigenen Vergänglichkeit und dem Sterben gelassener entgegenzublicken.
Die Schwestern sprechen vom Heimgehen, wenn sie sich auf das Sterben beziehen.
Tattva Viveka: Liebe Frau Schneider, erzählen Sie uns bitte von Ihrer neuen Tätigkeit.
Irene Schneider: Nach meiner Arbeit auf dem Benediktushof war ich auf der Suche nach einer neuen Aufgabe, als mich eines Tages eine therapeutische Kollegin, die Ordensschwester ist, fragte, ob ich nicht Lust hätte, eine Gemeinschaft von Ordensfrauen, die in eine Seniorenresidenz gezogen sei, in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten. Anfangs waren es dreizehn. Später kamen welche hinzu, drei Schwestern sind in den letzten eineinhalb Jahren auch gestorben. Aktuell ist es eine Gemeinschaft von 16 Schwestern. Diese Ordensfrauen sind zwischen 78 und 95 Jahre alt und haben ihr Kloster verlassen, da keine jungen Schwestern in ihre Nachfolge treten werden. Als ihnen klar wurde, dass es keine Nachfolgerinnen geben wird, gingen sie den gesamten Prozess proaktiv an und entschieden gemeinsam, dass sie nicht in ihrem Kloster bleiben möchten, bis die letzte das Licht ausmacht oder eine nach der anderen in ein Pflegeheim verlegt wird.
Sie wollten sich als Gemeinschaft einen neuen und letzten Ort suchen, wo sie bleiben konnten. So fanden sie eine Seniorenresidenz, die bereit war, eine Gruppe von Ordensfrauen bei sich aufzunehmen. Ich halte dies für sehr mutig, da eine solche Gruppe auch eine eigene Dynamik in der Einrichtung entwickeln könnte. Manche Pflegekräfte hatten bereits die Sorge, dass sie nun missioniert werden. Doch diese Sorge hat sich nicht bewahrheitet, im Gegenteil: die Schwestern werden von den Bewohner:innen wie auch den Pflegekräften als große Bereicherung erlebt. Alle Ordensfrauen bewohnen ein Einzelzimmer, ein Doppelzimmer wurde als Gebetsraum eingerichtet und so leben sie jetzt ein wenig klösterlich in der Seniorenresidenz. »Unser Kloster in der Seniorenresidenz« nenne ich es. Ich wurde als Externe angestellt, um die Schwestern in ihrer letzten Lebensphase zu begleiten und um die Bedingungen zu schaffen, damit sie gut leben sowie gut sterben können. Mein Aufgabenbereich umfasst alltägliche Angelegenheiten: von der Vereinbarung von Arztterminen über das Suchen eines Priesters für die Messe bis hin zur Sterbebegleitung. Ebenso leite ich Gesprächsrunden oder stehe für Einzelgespräche zur Verfügung. Im Krankheits- oder Todesfall bin ich ebenfalls die Ansprechperson. Ich habe die Vorsorgevollmacht für die Schwestern.
Wie vertraut man damit ist oder wie man die Menschen begleitet, hängt nicht so stark von der Religion ab, als von der inneren Haltung.
TV: Was bedeutet es für Sie, würdevoll zu sterben?
Irene: Ein würdevolles Sterben bedeutet, dass der Mensch in seinem So-sein respektiert wird. Das klingt erst einmal abstrakt, doch es umschließt all die Facetten des Menschen, seien es seine Wünsche, Stimmungen und Bewegungen von vor und zurück, von innen und außen. Des Weiteren, dass man sich als Begleitperson die Zeit nimmt, um sich gemeinsam die Vergangenheit anzusehen und sich aus dieser erzählen zu lassen, und dass man in die Zukunft blickt, wie auch immer diese Zukunft aussehen mag. Ich möchte den Menschen vermitteln, dass das, was sie auszeichnet, sowie ihre Gefühle, so sein dürfen, wie sie sind. Sie sollen nicht bevormundet werden und auf die Selbstbestimmung soll, soweit es geht, geachtet werden. Es ist essenziell, dass wenn man sich in einer hilflosen Position befindet, keine Grenzüberschreitungen stattfinden, obwohl ab und zu auch Grenzen gesetzt werden müssen. Zum Beispiel: eine schwerkranke Ordensschwester klingelt ständig das Pflegepersonal an, wenn sie allein ist. Sei es aus Angst oder Unsicherheit heraus. Doch es ist nicht möglich, dass sich alles um eine Person dreht, denn die Ressourcen der Pflegekräfte sind begrenzt, und es gibt viele bedürftige Personen in der Einrichtung. Darauf muss auch hingewiesen werden. Dennoch bemühe ich mich darum, so gut es geht, auf die Bedürfnisse und Wünsche einzugehen. Außerdem erachte ich es als wichtig, dass der sterbende Mensch die Richtung vorgibt, also die Themen benennt, und nicht umgekehrt. Wir als Außenstehende wissen nicht, was gebraucht wird. Das weiß der Mensch immer am besten selbst.
TV: Würden Sie sagen, dass religiös gesinnte Menschen, wie die Ordensfrauen es evident sind, einen friedlicheren Umgang mit dem Tod pflegen als säkular geprägte Menschen, also dass sie friedvoller dem Tod entgegenblicken, oder ist der Unterschied nicht signifikant?
Irene: Die Pflegekräfte meldeten mir zurück, dass sie es interessant fänden, dass die Schwestern vom Heimgehen sprechen, wenn sie sich auf das Sterben beziehen. Das ist ein anderes positives Bild, als zu sagen, es kommt nichts mehr nach dem Tod, ich gehe jetzt ins Nichts, ich falle in ein Loch oder in die Dunkelheit. Oder: Ich will jetzt beim Herrn sein. Dieser Ausdruck stammt aus einer veralteten religiösen Sprache, wobei er ebenfalls eine positive Perspektive in sich trägt.
Kürzlich äußerte eine der Ordensfrauen während eines Gesprächskreises, sie sei neugierig auf das, was nun auf sie zukommen werde. Sie spürt eine gewisse Vorfreude und ist neugierig. Meines Erachtens geht es bei dieser Fragestellung nicht um die Religiosität im engeren Sinne, sondern um Spiritualität im weiteren Sinne. Genauer gefragt: Erlebe ich mich in der Verbundenheit oder in der Getrenntheit? Dabei ist es zweitrangig, welche konkrete Form oder welcher Name der Verbundenheit gegeben wird, sei es Gott oder Vater oder All-Eins. Das sind sprachliche und kulturelle Strukturen, die man darüberlegt. Am Ende hängt es viel mehr mit dem Inneren des Menschen zusammen. Doch es lässt sich nicht abstreiten, dass eine jahrzehntelange Religions- oder spirituelle Ausübung einem dabei hilft, solch eine Haltung zu kultivieren, als wenn man sich sein gesamtes Leben lang überhaupt nicht damit befasst hat.
Einige der Schwestern haben selbst Erfahrungen mit Sterben und Tod sowie der Begleitung dieses Prozesses gemacht. Einige von ihnen arbeiteten im Krankenhaus, manche in Armenvierteln in Argentinien, andere in Südafrika in den Townships mit Aidskranken. Wie vertraut man damit ist oder wie man die Menschen begleitet, hängt nicht so stark von der Religion ab, als von der inneren Haltung. Beim Thema Spiritualität ist das Loslassen essenziell, wie wir es in der Kontemplation oder in der Meditation üben. Man lässt los, doch gleichzeitig ist man sich bewusst, dass man sich in der Verbundenheit befindet. Ich würde sagen, dass ich aus der Einheit komme, in der Einheit bin und in die Einheit zurückgehe. Als einmaliger Mensch bin ich eine Facette aus dieser großen Fülle, die wir Einheit oder Gott oder sonst wie nennen und die sich in mir konkret inkarniert hat. Während meines Lebens lebe ich meine Einmaligkeit, während ich gleichzeitig in dieser Einheit im Sinne von Verbundenheit und Liebe bin. Und am Ende des Lebens kehre ich wieder ganz in diese Einheit, in die Fülle zurück.
Widerstand und Ergebung, wie Bonhoeffer sagt. Es geht darum, die Balance zu finden.
TV: Sie würden sagen, dass man nicht gegen den Tod ankämpfen, sondern ihn akzeptieren sollte?
Irene: Wir haben bereits bei unserer Geburt die todbringende Diagnose erhalten, dass wir sterblich sind. Die konkrete folgt dann irgendwann später. Der Tod kommt sowieso, ob wir ihn akzeptieren oder nicht. Doch natürlich kann man noch etwas tun, anstatt bloß abzuwarten. Von den Pflegekräften erhalte ich immer wieder berührende Rückmeldungen. Gestern sagte mir eine Pflegekraft, dass sie es großartig fände, dass die Schwestern noch aktiv ihr Leben leben und sich nicht in den Sessel setzen, resignieren und auf den Tod warten. Oft ist dies ein Ausdruck von Resignation vor dem Tod, anstatt einer Akzeptanz davon. Denn auch im letzten Lebensabschnitt befindet man sich weiterhin zwischen den Polen von Tun und Lassen, von Kampf und Kontemplation, Widerstand und Ergebung, wie Bonhoeffer sagt. Es geht darum, die Balance zu finden. Neues tun und sich gleichzeitig nach innen wenden oder loslassen. Eine Schwester, die Parkinson hat, spielt jeden Tag Keyboard, weil sie beweglich bleiben und nicht resignieren möchte. Es ist unser Bestreben, die Balance, die wir in unserem Dasein stets angestrebt haben, auch im letzten Lebensabschnitt zu bewahren. Es geht darum, die Herausforderungen des Alters anzunehmen, wobei das Loslassen gefordert wird: bei einer Schwester habe ich den Eindruck, dass sie sich schwertut, ihr Alter und das Loslassen zu akzeptieren; anzunehmen, dass nun andere die Verantwortung übernehmen und sie sich auch ausruhen darf und keine Verantwortung mehr innehat. Wer bin ich dann noch?
TV: Meinen Sie, dass manche Angst davor haben, sich von anderen abhängig zu machen? Immerhin leben wir in einer Gesellschaft, die stark auf Unabhängigkeit und Autonomie setzt. Man gesteht nur Kindern und Jugendlichen ein, von anderen abhängig zu sein. Danach sollten wir alle so gut wie möglich für uns selbst sorgen.
Irene: Dadurch, dass die Ordensschwestern bereits so lange in einer Gemeinschaft leben, haben sie ein anderes Verständnis von Unabhängigkeit. Sie sind sich bewusst, wie abhängig alle voneinander sind. Gleichzeitig wissen sie um ihre Autonomie, da sie immer ein Stück weit für sich selbst gesorgt haben und auch Führungsaufgaben innehatten. Diese Generation von Frauen lebte entweder in einer Ehe oder im Orden – das muss man sich auch vor Augen führen. Obwohl sie für sich persönlich keine finanzielle Verantwortung tragen mussten, trugen sie durch ihr Einkommen dazu bei, dass der Orden lebt. Von daher haben sie schon immer diese Balance zwischen Autonomie und Hingabe gelebt. Dennoch fällt es den Schwestern nicht leicht, sich einzugestehen, dass sie nun stärker von anderen abhängig sind. Die Einstellung »Ich muss das selber können« verschwindet nicht von einem Tag auf den nächsten. Außerdem fühlen sie sich stark für andere verantwortlich, die Haltung »Ich muss für andere da sein«, ist ebenfalls stark ausgeprägt. Dabei muss man bedenken, dass die Tugenden der Selbstlosigkeit und der tätigen Nächstenliebe Teil des christlichen Selbstverständnisses sind.
Warum aber Leben im Rahmen der kosmischen Evolution entstanden ist, lässt sich nicht klären.
Dies ist nur der Anfang des Artikels. Der vollständige Beitrag ist in der Tattva Viveka 101 erschienen.
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Tattva Viveka Nr. 101
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Schwerpunkt: Tabuthema Tod
Erschienen: Dezember 2024
Klemens J.P. Speer – Von den letzten und den ersten Dingen • Viktor Terpeluk – Nahtoderfahrung und Persönlichkeitsentwicklung • Bartosz Werner – »Heute ist ein guter Tag, um zu sterben.« • Philipp Feichtinger – Durch die Trauer zu einem erfüllten Leben • Irene Schneider – In Gemeinschaft vom Leben Abschied nehmen • Sophie Baroness von Wellendorff – Das Wunder der zwölf heiligen Rauhnächte • Teresa Brunnmüller – Fürchtet euch nicht • Dr. Sylvester Walch – Wege zur Ganzheit (1) • Christiane Krieg – Heiliger Kakao • Buchbesprechungen • u.v.m.
Zum Autor
Irene Schneider, Dipl. theol., Gestalttherapeutin (IGW), Spirituelle Begleiterin; Trainerin für Achtsamkeit in Organisationen (MLI), freiberuflich tätig als Seminarleiterin zu Themen der Persönlichkeitsentwicklung und Spiritualität sowie in der Einzelbegleitung; teilzeitangestellt als Begleiterin für Ordensfrauen in der letzten Lebensphase.
»Ich sehe es als meine Aufgabe und es macht mir große Freude, Menschen dabei zu unterstützen, ihre eigene Lebendigkeit und Einmaligkeit, Kraft und Tiefe zu leben.«
Webseite: www.irene-schneider.eu
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Bildnachweis: © Irene Schneider, Adobe Photostock
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