30 Aug Kann man der Künstlichen Intelligenz ethisches Verhalten beibringen?
Zur Unterscheidung von Maschinen und Lebewesen
Autor: Dr. Justina A. V. Fischer
Kategorie: Bewusstsein
Ausgabe Nr: 100
Nein, sagt Dr. Justina Fischer. Aufbauend auf der Ethiklehre von Aristoteles untersucht die Autorin minutiös, wie Ethik zustande kommt und was bei der Künstlichen Intelligenz dazu fehlt. Obwohl die KI viele ästhetische und logische Aufgaben übernehmen kann, fehlt ihr etwas Entscheidendes: der Lebensfunke und das darin gründende Ziel des glücklichen Lebens – und damit die Ethik.
Die KI – eine Abkürzung für Künstliche Intelligenz – ist ein neuartiger Typ von Computer. Die KI gilt als im hohen Masse lernfähig und als relativ selbständig handelnd. Daher eignet sie sich für Tätigkeiten in Interaktion mit Menschen – beispielsweise als Busfahrer und somit Verkehrsteilnehmer, als Serviceroboter im Restaurant, als Pflegekraft im Altersheim. Aufgrund solcher Interaktionen stellt sich die Frage nach der Ethik im Tun der KI: Ethik, das sich ableitet vom griechischen ethos – das heißt Sittlichkeit oder sittliche Gesinnung –, ist die Frage nach dem guten Tun, nach dem ethisch korrekten Verhalten. Informatiker zerbrechen sich die Köpfe darüber, wie sie der KI Ethik und Moral antrainieren können.
In diesem Artikel beleuchte ich diese Frage aus einer rein philosophischen und damit viel grundsätzlicheren Perspektive: Ist die KI überhaupt fähig, ethisch gut zu handeln, dem Prinzip nach? Für meinen Antwortversuch möchte ich dafür die in der westlichen Welt erste und fundamentalste Ethiklehre heranziehen: die Nikomachische Ethik des Aristoteles.
Wie funktioniert eine KI?
In einem ersten Schritt sollten wir verstehen, wie eine KI arbeitet, das heißt wie sie entscheidet und wie sie dafür trainiert wird. Eine KI arbeitet mit Hilfe von Mustererkennung (pattern recognition). Während ein klassischer Computer vom Menschen geschriebene Programme Schritt für Schritt abarbeitet, verfügt die KI über eine Art Archiv von Mustern – wie etwa von Gegenständen mit den dazugehörigen Namen, Alltagssituationen wie im Straßenverkehr oder von Textbausteinen. Wird der KI etwas Neues präsentiert, dann sucht sie in ihrem Archiv, was dem ihr Vorgebenen mit der höchsten Wahrscheinlichkeit ähnlich ist. Das Ähnlichste ihrer Muster dient der KI dann als Antwort auf eine gestellte Frage oder Verhalten in einer Situation.
Dieses Archiv von Mustern wird der KI von Menschen antrainiert: es entsteht mit Hilfe von vielen Beispielen aus der Praxis, die man der KI präsentiert und ihr deklariert, etwa so wie man einem Kleinkind mit Hilfe von Bilderbüchern das Sprechen beibringt. Dabei generiert die KI eine Art von repräsentativem Durchschnitt der bisher gezeigten Beispiele – das Muster. Es braucht Tausende von Bildern und Trainingsstunden, bis die KI ein einzelnes Muster erlernt hat.
»Meine Schlussfolgerung ist, dass die KI nicht ethisch gut handeln kann, weil es ihr an etwas Grundsätzlichem mangelt: am Mensch-Sein.«
Die KI ist ein lernfähiges System: sie nimmt selbständig Fehlerkorrekturen (Updates) an den bereits gespeicherten Mustern vor, indem sie eigenständig mittels Abgleichs der neuen Beispiele Unterschiede und Gemeinsamkeiten mit den bereits vorhandenen Mustern entdeckt. Die Beispiele und Lernanreize müssen jedoch weiterhin vom Menschen geliefert werden. Die KI lernt mit Hilfe verfügbarer Daten aus Internet und social media – Folge ist eine Art von Konservatismus: die KI gibt jede Verzerrung in den Ausgangsdaten ungefiltert wieder und ist daher tendenziell rassistisch, binär, und frauenfeindlich.
Wie könnte man einer KI eine ethische Haltung antrainieren? Ethik besteht, grob gesprochen, aus zwei Bestandteilen: zum einen aus der Gesetzestreue und zum anderen aus dem ethisch guten Handeln, das nicht von festgeschriebenen Normen geregelt wird. Gesetzliche Regeln kann man der KI beibringen. Ein gutes Beispiel ist hier die StVO: bei Grün fährt man über die Kreuzung und bei Rot nicht; Fußgänger haben auf dem Zebrastreifen Vorfahrt. Überhaupt fährt man auf der Straße und nicht auf dem Gehweg.
Das ethische Problem liegt in solchen Situationen, bei denen es keine eindeutige rechtliche Regelung gibt und eine Güterabwägung stattfinden muss. Klassisches Beispiel ist der Unfall, der nicht vermieden werden kann, zum Beispiel im folgenden hypothetischen Fall: ein alter Mann und eine junge Frau überqueren gleichzeitig eine Straße. Die autofahrende KI muss einen der beiden umfahren und tödlich verletzen, um den anderen zu retten – wie soll sie sich verhalten? Hat der eine Mensch weniger Recht weiterzuleben als der andere? Soll die KI würfeln, oder soll sie sich nach volkswirtschaftlicher Nützlichkeit (erwarteter Beitrag zum BIP) entscheiden? Und wenn die Frau schwanger ist, aber der alte Mann der Bundeskanzler Scholz? Versteht die im Prinzip unsterbliche KI überhaupt, was es bedeutet, zu sterben, und nicht wiedererweckt werden zu können wie ein PC, den man zur Reparatur bringt und dann wieder anschaltet?
Die Frage, ob die KI fähig ist, ethisch (gut) zu handeln, lässt sich an der Ethiklehre des Aristoteles reflektieren, die er in seiner Schrift »Nikomachische Ethik« dargelegt hat. Die daraus geschlossenen Ergebnisse werden überraschen: Meine Schlussfolgerung ist, dass die KI nicht ethisch gut handeln kann, weil es ihr an etwas Grundsätzlichem mangelt: am Mensch-Sein.
»Ein gutes Mittel lässt ein schlechtes Ziel nicht gut erscheinen, und das an sich gute Ziel verliert durch das falsch gewählte Mittel seinen Charakter der Gutheit.«
Mensch-Sein meint hier nicht das Vorhandensein der Ratio im Gegensatz zum unvernünftigen Tier, wie es die klassische Philosophie sieht; sondern in Hinblick auf den Vergleich mit der KI-Maschine bedeutet Mensch-Sein das Vorhandensein einer Körperlichkeit und Organik, das heißt Emotionen, der genetisch kodierte Wunsch nach Eudaimonie (Glück), und das Vermögen zu einer trans-logischen Intuition.
Ethik nach Aristoteles
Gemäß der aristotelischen Philosophie besteht die Seele eines Menschen aus mehreren Bestandteilen. Zunächst unterscheidet Aristoteles zwischen dem Teil mit Vernunft (logon echon) und dem ohne Vernunft (alogon).
- Der vernunftlose Teil besteht zum großen Teil aus dem sogenannten vegetativen Teil (phytikon), der mit organisch-biologischen Bedürfnissen wie Wachstum und Ernährung zu tun hat.
- Der vernünftige Teil besteht aus einem nachdenkenden und einem abwägenden Teil. Der (nach)denkende Teil (epistemonikon) bezieht sich auf die Theoriebildung und die Wissenschaft (theoria). Der überlegende oder abwägende Teil (logistikon phronesis) beschäftigt sich entweder mit dem Handeln in der sozialen Interaktion (praxis) oder mit der Produktion (Handwerk, Technik etc. – techné). Das Abwägen von ›gut‹ oder ›schlecht‹ übernimmt die phronesis, die man auch praktische Vernunft nennt.
- Der letzte Teil der Seele ist das Strebevermögen, oder auch der begehrende Teil (orektikon) genannt: hier sind die Wahrnehmung mit den fünf Sinnen (aisthesis), die Emotionen und Begierden (pathos) und das körperliche Bewegungsvermögen (kinesis) Psychologisch interpretiert führt das Strebevermögen zu sogenannten Handlungsimpulsen.
Wie funktioniert nun ethisches Handeln nach Aristoteles? Dreh- und Angelpunkt ist die phronesis, die praktische Vernunft. Diese hat zwei Aufgaben: zum einen setzt sie das (ethisch gute) Ziel und zum anderen wählt sie das (ethisch gute) Mittel für die Zielerreichung. Beides ist nach Aristoteles untrennbar miteinander verbunden: Ein gutes Mittel lässt ein schlechtes Ziel nicht gut erscheinen, und das an sich gute Ziel verliert durch das falsch gewählte Mittel seinen Charakter der Gutheit. Die Wahl der Mittel wiederum orientiert sich an einem Tugendkatalog, den Aristoteles in der Nikomachischen Ethik vorstellt: Gerechtigkeit, Freundlichkeit, Tapferkeit, Mäßigung, Großzügigkeit und viele mehr. Dieser Tugendkatalog fungiert als eine Art von ›Ethik-Kompass‹, denn was ein ethisch gutes Handeln (die eupraxia) ausmacht, lässt sich nur allgemein darstellen oder beschreiben: Die praktische Vernunft bestimmt für jede Handlung ein Mittleres, das weder ein Zuviel noch ein Zuwenig ist, sowie den richtigen Zeitpunkt, den richtigen Empfänger, die richtige Stimmung im Handelnden, wenn er handelt, und den richtigen Zweck sowie den richtigen Anlass. Etwa so beschreibt Aristoteles die ›Tugend‹ in seiner sogenannte ›Mesotes-Lehre‹, der Lehre von dem Mittleren, im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik. Was dies in der jeweiligen spezifischen Situation sein soll, bestimmt die phronesis des tugendhaften Menschen.
Wie entsteht nun das gute Ziel? Einerseits kann das Handlungsziel aus einem durch die praktische Vernunft (phronesis) überformten Trieb entstehen, der wiederum vom vegetativen Teil oder dem Strebeteil der Seele selbst herrühren kann. Ein klassisches Beispiel wäre der Hunger: im vegetativen Teil entsteht ein Bedürfnis nach Nahrung, was im strebenden Teil in ein Gefühl von Mangel (pathos) und den Trieb (orexis) zu essen umgeformt wird. Anstelle sich nun wie ein Kind gierig auf Süßigkeiten zu stürzen, sorgt die praktische Vernunft dafür, dass dieses Bedürfnis nach Kalorienzufuhr in eine sinnvolle und gesittete Nahrungsaufnahme umgewandelt wird: gesunde Nahrung in gesunder Menge zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Die phronesis formt also den ungefilterten Trieb in ein überlegtes Streben und damit in einen guten Vorsatz um.
Es ist jedoch auch möglich, dass anstelle eines Triebes ein Vorsatz, der wiederum nur auf Überlegung (phronesis) beruht, zu einem Handlungsimpuls führt. Zum Beispiel könnte ich mir vornehmen, in einem Studiengang einen Abschluss zu machen. Dabei ist der Vorsatz nur dann gut, wenn die Überlegung wahr ist und das Streben richtig, also wenn die Zielsetzung stimmt. Das Ziel des Handelns wird aber mit der phronesis letztlich wieder in Verbindung mit den Tugenden, das heißt der ethischen Haltung des Handelnden, bestimmt.
»Die phronesis formt also den ungefilterten Trieb in ein überlegtes Streben und damit in einen guten Vorsatz um.«
Zentraler Punkt in der Nikomachische Ethik ist, dass sie ein höchstes Ziel des ethisch Handelnden kennt: das gute Leben, was auch ein glückliches Leben ist – die Eudaimonie (eudaimonia): alle Handlungen streben nach diesem Endziel mittels der Realisierung von nützlichen oder notwendigen Unterzielen. Aristoteles schwebt dabei eine Art zirkulärer Zusammenhang sich gegenseitig bedingender Faktoren vor: weil das gute Leben das Endziel ist, darum müssen auch die Mittel gut sein (sonst wäre das Endziel schlecht gemacht), und daher muss der Charakter der Person gut sein (sie muss ethisch gut sein), um das richtige Ziel und die richtigen Mittel wählen zu können, was wiederum den guten Charakter verstärkt. Der gute Charakter, das heißt die tugendhaften Haltungen in ihrer Gesamtheit, werden in der Jugend durch Erziehung eingeübt und als Gewohnheiten zu einem ›Charakter‹ verfestigt. Wählt die Person im Laufe ihres Lebens die falschen Mittel oder Ziele, verdirbt sie ihren Charakter, was wiederum eine zukünftige gute Wahl erschwert.
Vergleich der KI mit dem Menschen
Um nun bestimmen zu können, ob die KI imstande ist, im Sinne der aristotelischen Ethik ethisch gut zu handeln, müssen wir die beim Menschen vorausgesetzte seelische Struktur in Bezug zu den Fähigkeiten der KI setzen. Oberflächlich betrachtet scheinen bei einem solchen Vergleich die Gemeinsamkeiten zu überwiegen:
Zum einen könnte man die KI als eine auf Leistung optimierte Version des menschlichen Gehirns betrachten: die KI besitzt die Fähigkeit, aus einer Masse von Daten Muster zu erkennen, wie eingangs erläutert, wobei sie durch induktive Ableitung aus vielen Fallbeispielen eine Art Theorie bildet. Damit ähnelt die KI dem Menschen, der mit Hilfe seiner theoretischen Vernunft (epistemonikon) Wissenschaft betreibt. (Meiner Meinung nach kann man ein solches Muster, beispielsweise das von einem ›Apfel‹, nicht als ›Idee vom Apfel‹ bezeichnen, da zu der Idee so viel mehr gehört als nur das äußere Erscheinungsbild. Platon würde hier schon einen Gegensatz zum Menschen sehen, der als Philosoph Einsicht in die Idee von einer Sache haben kann.)
»Die KI ist schlichtweg nicht lebendig: sie wird nicht geboren und sie stirbt nicht. Die KI lebt nicht, sie hat kein Leben, das einen Anfang und ein Ende besitzt.«
Zum anderen vermag die KI ihre gespeicherten Muster auch in die Praxis umzusetzen: entweder im Treffen von (Handlungs-)Entscheidungen nach solch erlernten Standardsituationen oder in der Herstellung von Dingen nach solcher Vorlage. Diese Tätigkeiten der KI sind beim Menschen vergleichbar mit der Anwendung seiner praktischen Vernunft (phronesis), wenn er sich zum Beispiel im Straßenverkehr regelkonform verhält oder als Maler eine Vorstellung von einem Apfel auf Papier abbildet.
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Schwerpunkt: Die Verbindung von Wissenschaft & Spiritualität
Erschienen: Oktober 2024
Dr. Stephan Krall – Vom Sein zum Bewusstsein • Prof. Dr. Thomas Metzinger – Der Elefant und die Blinden (Teil 2) • Dr. Justina A. V. Fischer – Kann man der Künstlichen Intelligenz ethisches Verhalten beibringen? • Ronald Kahle – Weltkrise und Weltformel • Ronald Engert – Erfahrung, Erkenntnis, Erleuchtung • Svenja Zuther – Die Weisheit der Pflanzen • Sukadev Bretz – 30 Jahre spiritueller Aktivismus • Dr. Annette Blühdorn – »Hab so eine Sehnsucht, mich aufzuspüren« • Dr. Ilona Schönwald – Das vererbte Trauma • Buchbesprechungen • u.v.m.
Zur Autorin
Dr. Justina Fischer studierte zuerst Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg, worauf nach ihrer Promotion über direkte Demokratie eine internationale Forscherkarriere startete. Im Zweitstudium machte sie ihren Master in Philosophie (Heidelberg, Mannheim, HFG Karlsruhe). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Ästhetik, Metaphysik, Ethik und politischen Philosophie.
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Idee und Realisierung der Bilder in diesem Beitrag: © Ronald Engert
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