Lebendiges – Wahrnehmung und Wissenschaft

Lebendiges – Wahrnehmung und Wissenschaft

Einfühlung und Nachahmung als wissenschaftliche Methodik zur Erkenntnis des Lebendigen

 

Autor: Dipl. Chem. Werner Merker
Kategorie: Biologie
Ausgabe Nr: 65

 

Das Lebendige ist anders als Materie. Nicht über Zählen, Messen und Wiegen kann man das Lebendige erforschen, sondern über ein intuitives Einfühlen in Qualitäten und Gesten. Dies ist ein subjektiver Akt und dennoch ist eine wissenschaftliche Objektivität möglich, denn die Qualitäten und deren Intuitionen werden von verschiedenen Menschen ähnlich wahrgenommen und sind kommunizierbar. Sie werden nicht nur in unserem Inneren subjektiv erzeugt, sondern stellen tatsächlich eine Eigenschaft der äußeren Welt dar.

Das Lebendige verstehen

Verschüttet durch so viel Verstandestätigkeit fällt es uns schwer das Lebendige zu verstehen, obwohl es eigentlich doch ständig präsent ist. Noch schwerer fällt es, dazu Verständliches lebendig zu formulieren, wo doch das Wort schon in der Feder erstirbt, wie Goethe sagt.
Natürlich leben wir! Natürlich nehmen wir wahr, dass wir leben. Natürlich ist mir klar, dass meine Hand sich nicht aus ihrer Substanz heraus bewegt und diesen Text schreibt. Auch dass die kleine Wunde an meinem rechten Mittelfinger sich, anders als der Kratzer an meinem Auto, durch irgendeine Selbstheilungskraft schließen wird, scheint mir selbstverständlich. Da hat mich unsere Katze gestern gekratzt. Das ging ganz schnell und ist längst vorbei. In meinem Gedächtnis ist es aber noch sehr lebendig präsent und auch am Finger kann ich die Folgen noch genau erkennen. Natürlich ist also meine Vergangenheit noch in mir vorhanden. Sie ist nicht mehr physisch präsent, das war sie gestern, aber sie reicht dennoch in meine Gegenwart hinein, sie hat sich nicht in nichts aufgelöst. Natürlich kann ich hier am Schreibtisch nur sitzen, weil es einmal meine Eltern gab, und meine Großeltern und deren Vorfahren. Die sind alle längst gestorben und doch sind sie Teil meiner Gegenwart, genau wie meine Nachfahren Teil meiner Gegenwart sind. Auch wird dieser Text, den ich hier gerade schreibe, später einmal vielleicht für jemanden von Bedeutung sein. Meine Gegenwart hat also auch mit der Zukunft zu tun. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, sie bilden ein Ganzes, einen kontinuierlichen Fluss der Veränderung. So ist das Leben, im großen Ablauf und auch im kleinen Alltag.

 

Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)

 

Die eigene Teilhabe an diesem einmaligen, veränderlichen Leben, diesem Lebensfluss kann man erleben. Der französische Philosoph Henri Bergson nennt dies das intuitive Erleben von Dauer. Das ist etwas anderes als ein Foto vom Urlaub vor zehn Jahren anzuschauen und festzustellen: »Oh ja, ich bin seitdem älter geworden«. Das wäre mehr ein mechanisches Denken von einem zum anderen statischen Zeitpunkt. Es wäre kein Erleben der Dauer, des Flusses. Wenn man im Fluss ist, dann ist man frei von statischen, mechanischen Gedanken. Man erlebt sich dann im Ganzen der Situation, der Umgebung, des sozialen Zusammenhangs. Man erlebt dann ein Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit und ein kontinuierlich fließendes Fortlaufen der Situation. Intuitiv kann ein wenig von diesem Fließen bewusst werden, ahnend, fühlend, vielleicht wie schmeckend, ganz real. Später kann sich bei Bedarf der Verstand noch einmal der Erinnerung der Situation zuwenden, die gemachten Erfahrungen analysieren und Gewohnheiten, ja vielleicht sogar Gesetzmäßigkeiten auffinden. – So etwa ist vielleicht ganz im Groben auch die Erkenntnishaltung gegenüber dem Lebendigen zu beschreiben.

 

Es bleibt ein Rätsel, wie die Form einzelner Organe oder die Gesamtgestalt eines Lebewesens genetisch festgelegt sind.

 

Das Lebendige ist nicht nur in uns selbst allgegenwärtig. Auch in der Außenwelt erleben wir es ständig, sei es als lebendiges Gegenüber oder als soziales und ökologisches Miteinander. Nur zu erleben reicht dem Verstand allerdings nicht aus. Er möchte klare Begriffe, eindeutige Erkenntnisse kausaler Zusammenhänge, am besten logische Beweise. Soweit logische Beweise in der empirischen Naturwissenschaft überhaupt möglich sind, können sie auch für das Lebendige durchaus erbracht werden.

Beweise für das Lebendige

 

Hydra viridis, Grüner SüßwasserpolypHydra viridis, Grüner Süßwasserpolyp

 

Schon Aristoteles hat ganz klar konstatiert, dass etwas Geschaffenes immer logischerweise ein Schaffendes voraussetzt und dass dieses lebendig Schaffende natürlich nicht die reine Materie selbst sein kann. Kant bemerkte: »Belebte Materie gibt’s nicht, aber wohl einen lebenden Körper.« Es ist nicht die Materie, die lebt!
Dass das Schaffende in einem Organismus nicht oder zumindest nicht allein in der Materie liegen kann, wurde später besonders durch die Forschungen zur Embryologie deutlich. Hier zeigte sich, dass Zellen sich je nach Ort und Umgebung den Bedürfnissen des ganzen Organismus entsprechend entwickeln können und die Entwicklung nicht unbedingt in den Zellen selbst determiniert ist. Auch bei der Regeneration zerteilter Süßwasserpolypen wird die organisierende Kraft eines übergeordneten Ganzen ganz klar deutlich.

Die Genetik hat in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Die Basensequenz der DNA wurde als Code für Proteinsynthesen erkannt und das menschliche Genom gilt als entschlüsselt. In den letzten Jahren stellte man zudem fest, dass sich auch die eigene Lebensgeschichte eines Lebewesens in der DNA niederschlägt. Die einstige Vorstellung von einer starren DNA wandelte sich zur Vorstellung von einem flexiblen Molekül. Trotz dieser Erkenntnisse bleibt es dennoch ein Rätsel, wie die Form einzelner Organe oder die Gesamtgestalt eines Lebewesens genetisch festgelegt sind. Erst recht für die vielen Stadien der Embryonalentwicklung, die ja eigentlich ein kontinuierlicher Prozess sind, lässt sich kein genetischer Code finden. Die rein materiellen Gegebenheiten können sicherlich vieles widerspiegeln und wertvolle Erkenntnisse liefern, und doch fehlt ohne Zweifel noch etwas.

 

Goethes FarbenlehreGoethes Farbenlehre

 

Ein lebender Organismus kann kreativ auf unterschiedliche Umweltbedingungen reagieren. Das kann jeder täglich in seiner Lebensumwelt feststellen. Ja, sogar im Autoverkehr kann ich nicht schnurstracks auf mein Ziel zufahren, sondern muss innerhalb bestimmter Regeln kreativ mit der Verkehrssituation und gegebenen Störungen und Behinderungen auf meinem Weg umgehen. Auch Pflanzen und Tiere verfolgen kreativ ihren Entwicklungsweg. Das untersuchten Biologen zum Beispiel bei der Embryonalentwicklung von Polypen, die trotz künstlicher Störungen und Behinderungen immer in Richtung der Bildung einer Ganzheit verlief. Der Biologe und Philosoph Hans Driesch gab das Beispiel eines Hundes, der trotz verschiedener Behinderungen ein angestrebtes Ziel erreicht. Solch ein kreatives Umgehen mit den gegebenen Umständen ist nicht in den Genen festgelegt und kann unmöglich in der Materie selbst begründet sein. Es erfordert eine gewisse Freiheit, die besonders wir Menschen in unserer Willensfreiheit erleben können. – All diese Phänomene lassen keinen anderen Schluss zu, als dass im lebendigen Wesen zur Materie noch etwas Belebendes, kreativ Gestaltendes hinzukommen muss.

Die Seele als Schaffendes

Wenn nun ein schaffendes, belebendes Etwas notwendigerweise zu fordern ist, so stellt sich natürlich die Frage, wie dieses Etwas selbst beschaffen sein könnte, vielleicht auch wie man es denn benennen könnte: Bildungstrieb, Entelechie, Feld? – Der Biologe und Nobelpreisträger Hans Spemann kam letztlich nicht umhin, dieses gestaltende Etwas in Analogie zu unserer Psyche zu sehen. Von dieser haben wir die intimste Kenntnis. Sie ist uns Erlebnis und nur sehr unscharf Begriff. Nach intensivsten, sehr exakten materialistischen Forschungen zur Embryologie kam Spemann am Ende seines Lebens zu der tiefen und erfahrungsgesättigten Überzeugung, dass jeder belebte Organismus beseelt sein müsse. Das mag einem ja ohnehin klar sein, für einen anerkannten Wissenschaftler und Nobelpreisträger ist eine solche Abkehr von rein materialistischen Vorstellungen aber ein mutiges Bekenntnis. Da Spemann eine Beseeltheit nicht nur fühlenden Organismen, sondern allen, also auch Pflanzen, zusprach, ist deutlich, dass er, wie Aristoteles, allein schon in dem Belebtsein eine gewisse seelische Qualität sah.

Aristoteles fand es für einen Naturforscher unabdinglich über die Seele Bescheid zu wissen. Wesen und Seele waren für ihn dasselbe und wenn ein Naturphilosoph erforschen wolle, wie das Wesen sich im Physischen eines Lebewesens ausdrücke, so müsse er notwendigerweise mit dem Seelischen vertraut sein. Aristoteles untersuchte das Seelische daher sehr intensiv und differenzierte die Seele in drei Anteile, oder besser gesagt, drei Organe, nämlich in die rationale, die sensitive und die vegetative Seele. Das entspricht unserem Selbsterleben. Neben der Wahrnehmung unseres Körpers erleben wir auch unsere unkörperliche, seelische oder geistige Seite. Wir erleben, dass uns Einfälle kommen und wir Gedanken entwickeln können, dass Emotionen in uns aufsteigen und wir uns fröhlich, traurig oder wütend fühlen, dass aufgenommene Nahrung sich in uns verwandelt und Wunden wieder verheilen. Die von Aristoteles vorgenommene Differenzierung des Seelischen, ist unserem Erleben also ganz vertraut.

Auch an der äußeren Welt können wir in dieser seelisch differenzierten Weise teilhaben: Neben dem gedanklichen Erkennen und Benennen der Objekte unserer Wahrnehmung können wir mit unserer sensitiven Seele auch deren Qualitäten empfinden. Beispielsweise können wir ein Kleidungsstück wie eine Jacke je nach Gestaltung, Farbe, Material, Verarbeitung etc. als sportlich und lässig, als leicht und verspielt oder schlicht und dezent empfinden. Eine solche ästhetische Wahrnehmung ist ohne eine empfindende Seele nicht möglich. Das eigene Seelische fühlt sich je nach Fähigkeiten, zum Beispiel je nach ästhetischem Modebewusstsein, mehr oder weniger differenziert in die Qualitäten der äußeren Welt ein und verbindet sich auf diese Weise mit ihr.

 

Lebendiges Spiegeln ist Nachahmen.

 

Auch die vegetative Seele, welche nach Aristoteles das die physischen Prozesse in Bewegung bringende Seelenorgan darstellt, verbindet das eigene Seelische mit der Außenwelt. Dies ist uns meist weniger bewusst. Man kann aber zum Beispiel bei einem Fußballspiel, von dem man ganz ergriffen ist, erleben, wie man innerlich mit dem Stürmer, der gerade das entscheidende Tor schießt, mitgeht und der eigene Fuß die Schussbewegung mitmacht oder zumindest heftig zuckt. Meist geht ein solches Miterleben nicht bis in die körperliche Bewegung. Auf der Nervenebene hat jedoch der italienische Neurologe Giacomo Rizzolatti 1992 bei Makakenaffen feststellen können, dass miterlebte Bewegungen im Gehirn bei bestimmten Nervenzellen immer das gleiche Aktivitätsmuster hervorrufen wie die eigene entsprechende Bewegung. Diese Nervenzellen nannte er Spiegelneuronen. Anders als bei einem optischen Spiegel ist dieses Spiegeln allerdings mit eigener Aktivität, eigenem Nachvollziehen oder Nachahmen verbunden. Lebendiges Spiegeln ist Nachahmen.

Dieses Nachahmen beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Spiegelneuronen, sondern hängt mit dem ganzen Körper zusammen, was besonders bei kleinen Kindern zu beobachten ist. Man kann erleben, wie ein kleiner Junge begeistert von einem enorm dicken Mann erzählt, den er gerade gesehen hat. Dabei macht er sich dick, wölbt die Arme nach außen, bläst die Backen auf und ahmt den dicken Mann unwillkürlich nach. Wir Erwachsenen sind mit unserer Gestik normalerweise zurückhaltender, aber wenn wir uns genau beobachten, können wir auch bei uns noch ansatzweise feststellen, wie wir neben Bewegungen auch wahrgenommene Formen in ihren formenden Kräften innerlich nachahmen. Nach Aristoteles wäre ein Nachahmen eine Aktivität insbesondere der bewegenden vegetativen Seele. Auch mit diesem vegetativen Seelenanteil verbinden wir uns also mit unserer äußeren Welt.

 

Lernen durch NachahmungAuch hier: Lernen durch Nachahmung

 

Die bildenden Kräfte der vegetativen Seele und die Empfindungsqualitäten der sensitiven Seele kann man nun auch nutzen, um dem Lebendigen wissenschaftlich näher zu kommen. Dabei ist natürlich auch immer die rationale Seele beteiligt, die sich allerdings zumindest zunächst mit Benennungen und Begriffen zurückhalten muss. […]

 

Lesen Sie den kompletten Artikel in der TATTVA VIVEKA 65 >>

Artikel zum Thema in früheren Ausgaben:

TV 07: Ronald Engert – Henry Bergsons Kritik des Intellekt

TV 07: Rupert Sheldrake/ David Lorimer – Dialog über Henry Bergson

TV 18: Dr. Hans Jenny – Kymatik. Die Wirkung von Klang auf Materie

TV 45-46: Prof. Dr. Peter Hubral – Logos und Mythos. Ursprung und Untergang der Philosophía

TV 51: Prof. Dr. Peter Hubral – Vom gesellschaftlichen zum natürlichen Denken

TV 53: Engert, Ronald/ Sigg, Gabriele – Der subjektive Faktor und die objektive Wissenschaft

TV 55: Dr. rer. nat. Andreas Freund – Transzendenzoffene Wissenschaft

 

Bildnachweis: © sanjuan-college, aquarium-kosmos.de

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Dipl. Chem. Werner Merker
Lebendiges
Wahrnehmung und Wissenschaft

Das Lebendige ist anders als Materie. Nicht über Zählen, Messen und Wiegen kann man das Lebendige erforschen, sondern über ein intuitives Einfühlen in Qualitäten und Gesten. Dies ist ein subjektiver Akt und dennoch ist eine wissenschaftliche Objektivität möglich, denn die Qualitäten und deren Intuitionen werden von verschiedenen Menschen ähnlich wahrgenommen und sind kommunizierbar. Sie werden nicht nur in unserem Inneren subjektiv erzeugt, sondern stellen tatsächlich eine Eigenschaft der äußeren Welt dar.
 

 

 
 

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