07 Sep Lina Ben Mhenni: Vernetzt euch!
Lina Ben Mhenni: Vernetzt euch!, Ullstein-Verlag, Streitschrift, Juni 2011, 46 Seiten, Pb., € 3,99
Dieses kleine Bändchen, das als »Streitschrift« im Ullstein-Verlag erschienen ist, ist ein furioses Plädoyer für die neuen elektronischen Medien wie Blogs, Facebook, Twitter, YouTube und andere. Erstmals in der Geschichte haben Blogs und soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter ein diktatorisches Regime zu Fall gebracht. Die 27-jährige Lina war eine der Internetaktivisten, die im tunesischen Volksaufstand 2010/2011 den Diktator Ben Ali vertrieben haben.
Ihr Bericht ist eine atemberaubende, spannende und zutiefst berührende Erzählung der wahren Begebenheiten in Tunesien. Sie berichtet, wie sie selbst als Bloggerin ihre Augenzeugenberichte und Videoaufnahmen immer wieder ins Netz stellt, um gegen die Pressezensur und die gleich geschalteten Regierungsmedien anzukämpfen.
Die Übergriffe der Polizei führen immer wieder zu Tötungen von Demonstranten, und die Wut der Bevölkerung wächst stetig. Das Buch liest sich wie ein Krimi, und mehr als einmal kamen mir die Tränen, teils wegen des Leids, das die Bevölkerung in Tunesien unter der Diktatur von Ben Ali erdulden musste, teils aber auch, weil ich ergriffen war von der Lebendigkeit und der Macht dieses Aufbruchs in die Freiheit. »Wenn das Volk eines Tages zu leben beschließt, muss das Schicksal sich beugen, muss die Finsternis weichen, müssen die Ketten aufbrechen.« (Hymne der arabischen Revolutionen)
Es ist faszinierend zu lesen, wie diese jungen Menschen fast ausschließlich über die neuen sozialen Medien des Internets ihren Aufstand organisierten. Und genau das ist (nämlich) der Sinn und Zweck dieser Medien. Hier in unserem saturierten Deutschland hört man gerade aus progressiven Kreisen bisweilen eine Fundamentalkritik am Internet, von wegen, das würde die Menschen träge machen und isolieren. Aber genau das ist nicht der Fall. Am Beispiel der tunesischen Revolution und der Bloggerin Lina wird eindeutig gezeigt, welche Macht diese Medien haben können. Dies ist nicht nur eine Verbesserung des Bestehenden, sondern eine neue Qualität. Es können Dinge verwirklicht werden, die vorher überhaupt nicht möglich waren. Und genau dies beschreibt Lina auch in ihrem Buch. »Stellen Sie sich jetzt vor, der große Aufstand, der 2008 im Bergbau-Becken von Gafsa entbrannte, wäre von diesem gewaltigen Facebook-Potenzial unterstützt worden – ich bin sicher, er hätte ein anderes Ende genommen.« (S. 42)
Ihr Buch ist ein brillantes Beispiel, wie die junge Generation – die Internauten nennt sie sie – sich der neuen Social-Media-Plattformen des Internets bedient. Sie beschreibt, wie sie zu Facebook kam und was das für sie bedeutete:
»Mich hat das Konzept sofort angesprochen, ein weltweites Netzwerk von Freunden zu knüpfen, Artikel, Fotos und Filme mit ihnen zu teilen und auch direkt mit ihnen chatten zu können. Zunächst habe ich Freunde hinzugefügt, die ich kannte. Danach bin ich in die Phase »der Freund meines Freundes ist auch mein Freund« eingetreten. So habe ich – natürlich auf virtuelle Weise – Menschenrechtsaktivisten und Mitglieder der Oppositionsparteien kennen gelernt.« (S. 39)
Und weiter:
»Heutzutage haben viele junge Leute diesen Traum, ich auch: Ich will, dass die Welt sich verändert. Sie wird sich aber nur verändern, wenn die Informationen in Umlauf geraten, wenn die Wahrheit verbreitet wird, wenn wir uns vernetzen. Sämtliche Diktaturen der Welt fürchten das Netz. Denn sie wollen mit allen Mitteln Informationskontrolle betreiben, während wir modernen jungen Leute die neuen Technologien beherrschen und über neue soziale Netzwerke verfügen. So kommen wir direkt an die Informationen heran, können sie mit anderen teilen und immer weiter verbreiten, sie jederzeit abgleichen, überprüfen und aktualisieren. Ein echter Cyber-Aktivist klebt beileibe nicht nur an seinem Bildschirm, der begibt sich an die realen Schauplätzen des Geschehens, fotografiert und filmt vor Ort, befragt Augenzeugen – und dann kehrt er zu seinem Bildschirm zurück, um die Ergebnisse seiner Recherche ins Netz hoch zu laden und andere dann daran teilhaben zu lassen. Unter diesen Voraussetzungen kann die Macht von Diktatoren oder repressiven Staatsapparaten erschüttert werden und eine siegreiche Demokratiebewegung entstehen.
Das Netz ist so mächtig, weil es unmittelbar reagieren und unbegrenzt viele Menschen miteinander verbinden kann. Sobald jemand eine Idee oder Information ins Netz speist, wird sie umgehend empfangen. Andere Internauten können sich gleich anschließen, den Informanten unterstützen, der sich gegen ein Unrecht wehrt. Das Netz ist wie geschaffen, um Solidarität zu üben. So haben wir unseren Erfahrungsschatz an die jungen ägyptischen Revolutionäre weitergegeben und ihnen beispielsweise erklärt, wie sie sich vor Tränengas schützen können.
Das Netz ist auch ein unvergleichliches Mittel der Mobilisierung. Es überwindet sämtliche Schranken, Zäune und Mauern, Verbote und Grenzen, Parteizugehörigkeit und sogar individuelle Hemmungen – wie in meinem Fall die Schüchternheit. (…)
Das Netz eignet sich hervorragend für eine direkte, bürgernahe Demokratie. Wir wollen eine herrschaftsfreie Welt, in der sich alle am Entscheidungsprozess beteiligen können, in der jeder die Gesellschaft mitgestalten darf.« (S. 44f.)
Dieses Buch ist ein eindeutiger Beweis, dass das Internet und die neuen sozialen Medien keine Verblendungsmaschinerie sind, sondern ein qualitativer Fortschritt in Richtung echte Demokratie und Mündigkeit des Bürgers. Es ist dieser technologische Fortschritt, der die Menschen in das neue Zeitalter der globalen Bewusstseinsstämme führen wird. Das Bedürfnis nach Kommunikation und Gemeinschaft, nach Teilen und Solidarität wird über diese virtuellen Netzwerke eine neue Dimension annehmen. Man könnte sogar noch weiter gehen: Die Menschheit tritt in das Vorstadium der Telepathie, der medialen Kommunikation, ein. Technisch haben wir sie ja nun.
Zum Blog von Lina Ben Mhenni > atunesiengirl.blogspot.com
Mehr zum preisgekrönten Blog bei medienmilch.de
Prema
Gepostet am 07:46h, 30 SeptemberHi
Man muss aber sagen, das diese Regime in Nordafrika die Menschen schon so an die Wand gedrückt hatten, dass da eine (R)Evolution sehr schnell auf fruchtbaren Boden gestoßen ist. Leider erfährt man heute nichts, ob nun durch die Flucht der Diktatoren wirklich positive Veränderungen dort statt gefunden haben. Oftmals kommen neue Diktatoren mit vielen Versprechungen. Am Ende der DDR hatten dort auch viele Hoffnungen, die dann sich auflösten.
Das Internet kann uns zusammen führen. Ich freue mich sehr, das die jungen Menschen aufstehen und die bestehende “Ordnung” hinter sich lassen wollen. Basisdemokratie ist richtig und wichtig.