14 Mai Rettet mehr Spiritualität die Welt?
Von der Notwendigkeit ganzheitlicher Lösungen
Autor: Prof. Dr. Dr. Katharina Ceming
Kategorie: Spiritualität
Ausgabe Nr: 51
Die habilitierte Theologin macht in diesem Aufsatz auf einen Blinden Fleck aufmerksam. In spirituellen Kreisen wird Spiritualität oft als Allheilmittel für jegliche Probleme der Welt betrachtet. Die Autorin zeigt auf, dass eine ganzheitliche Heilung des Menschen und der Welt nur über einen ganzheitlichen Ansatz, der Spiritualität integriert, nicht aber glorifiziert, möglich ist.
Sehr häufig kann man heute die Überzeugung antreffen, nur mehr Spiritualität könne diese Welt retten. Hinter dieser Auffassung steht die Überzeugung, dass die spirituelle Entwicklung eine Art Super-Entwicklung ist, die den Menschen in seiner Gesamtheit transformiert. Doch diese Vorstellung entspricht nicht ganz der Realität, auch wenn die verschiedensten spirituellen Systeme des Ostens wie des Westens seit fast drei Jahrtausenden davon überzeugt sind. Spiritualität ist nur einer von vielen Bereichen im Menschen, die sich im Laufe eines Lebens entwickeln. Dies bedeutet, wenn wir nur sehr einseitig einen ganz bestimmten Entwicklungsstrang in uns kultivieren, wachsen die anderen nicht zwangsläufig mit. Wir werden nicht zwangsläufig ethischer, intelligenter oder bessere Mathematiker, nur weil wir in der Meditation tiefere Ebenen der Wirklichkeit erschließen. Wir können unter Umständen auch immer arroganter werden, weil wir uns für weiterentwickelter als die anderen halten und auf unsere Umwelt mit der entsprechenden herablassenden Art reagieren.
Wir werden nicht zwangsläufig ethischer, intelligenter oder bessere Mathematiker, nur weil wir in der Meditation tiefere Ebenen der Wirklichkeit erschließen.
Wenn wir uns mit der spirituellen Entwicklung beschäftigen, müssen wir uns zudem vergegenwärtigen, dass sich in der Geschichte der Menschheit verschiedene Bewusstseinsstufen entwickelt haben. Jean Gebser, einer der Pioniere in diesem Feld, rekonstruierte fünf Phasen. Sie stehen für die Art und Weise, wie der Mensch oder das menschliche Bewusstsein Weltwirklichkeit wahrnimmt. Jede Stufe emergierte dabei aus der vorausgegangenen und integrierte diese in sich. Wenn ein Mensch eine bestimmte Stufe oder Ebene erreicht hat, wird er – mit Ausnahmen von physiologischen Vorfällen – nicht mehr auf eine niedere Stufe zurückfallen. Gebsers Überzeugung nach entsprach die phylogentische Entwicklung der Menschheit mehr oder weniger der ontogenetischen vom Säugling zum Erwachsenen. Die älteste Phase bezeichnete er als eine archaische, auf die eine magische, eine mythische, eine rationale und eine integrale, folgt.
Die Weltwirklichkeit liegt dem Menschen nicht einfach als vorgegebenes Objekt vor, sondern er interpretiert sie entsprechend seiner Bewusstseinsstufe.
Entscheidend war für Gebser die Erkenntnis, dass diese Ebenen die Weltsicht des Menschen prägen, da die Weltwirklichkeit dem Menschen nicht einfach als vorgegebenes Objekt vorliegt, sondern er sie entsprechend seiner Bewusstseinsstufe interpretiert. Eine Bewusstseinsstufe zeigt somit an, wo der Schwerpunkt des Werte- und Aktionssystems des Einzelnen liegt. Sie bestimmt den Zugang zur Wirklichkeit und unser Weltbild, d.h. wie wir Erfahrungen, die wir in der Welt machen, interpretieren. Wir können einen Tsunami als Strafe Gottes verstehen oder als ein Naturereignis. Erstere Betrachtung ist sehr typisch für eine mythologische Bewusstseinsebene, letztere für eine rationale. Beide Betrachtungsweisen ziehen völlig unterschiedliche Handlungsoptionen nach sich. Wenn ich den Tsunami als Strafe Gottes sehe, werde ich eher darauf achten, dass das, was ich als sündhaftes Verhalten verstehe, minimiert wird. Im anderen Fall werde ich eher in technische Entwicklungen wie ein Frühwarnsystem investieren, um in ähnlichen Fällen besser gerüstet zu sein.
Die Einsicht, dass unsere Weltsicht von unserer Bewusstseinsebene abhängt, hat auch weitreichende Auswirkungen auf die Spiritualität. Zwar erleben wir in tiefen spirituellen Einsichten, insbesondere wenn diese non-dual sind, Wirklichkeit auf eine völlig andere Weise als wir das alltäglich tun, doch diese Erfahrung vollzieht sich immer in unserem Bewusstsein. Das bedeutet, die Bewusstseinsebene, die uns wesentlich prägt und bestimmt, interpretiert diese Erfahrung. Wir lösen uns bei meditativen Einheitserlebnissen ja nicht in Luft auf. Selbst wenn sie im besten Falle zeitlich nicht begrenzt sind, sondern als dauerhaftes Erleben in den Alltag integriert werden können, müssen wir in diesem Alltag handeln und leben. Ein Mensch kann durchaus tiefe Einheitserfahrungen machen, aber seine Weltsicht ist unter Umständen noch patriarchal, hierarchisch, autoritär und ethnozentrisch geprägt. Wer in einer patriarchalen Kultur lebt, deren Werte er teilt, wird diese nicht einfach in Frage stellen, nur weil er eine tiefe Einheitserfahrung mit dem Göttlichen gemacht hat. So kann ein spirituell erfahrener und geachteter Lehrer trotzdem davon überzeugt sein, dass Frauen niemals eine tiefe spirituelle Erfahrung machen können, weil die Inkarnation als Frau von Haus aus schon Ausdruck schlechteren Karmas sei, welches diese Erfahrung prinzipiell verunmögliche. Die Geschichte der Spiritualität legt für diese Ansicht reichlich Zeugnis ab. D.h. auch eine Erleuchtungserfahrung ist immer in den konkreten historischen und sozialen Kontext eingebunden, der uns prägt. Was wir erfahren, interpretieren wir von dem aus, wo wir stehen. Nur wenn wir bereit sind, die eigenen Grundlagen kritisch zu reflektieren, kann die spirituelle Erfahrung ebenso zu einer Weiterentwicklung in anderen Bereichen führen. Wo dem nicht Rechnung getragen wird, kann es schnell zu Problemen kommen. Dies können wir im Kontext von Religionen und spirituellen Systemen immer wieder erleben. […]
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Prof. Dr. Dr. Katharina Ceming
Rettet mehr Spiritualität die Welt?
Von der Notwendigkeit ganzheitlicher Lösungen
Die habilitierte Theologin macht in diesem Aufsatz auf einen Blinden Fleck aufmerksam. In spirituellen Kreisen wird Spiritualität oft als Allheilmittel für jegliche Probleme der Welt betrachtet. Die Autorin zeigt auf, dass eine ganzheitliche Heilung des Menschen und der Welt nur über einen ganzheitlichen Ansatz, der Spiritualität integriert, nicht aber glorifiziert, möglich ist.
Artikel zum Thema in früheren Ausgaben:
TV 27: Prof. Dr. Johannes Heinrichs – Die spirituelle Dimension der Demokratie
TV 33: Jörg Chemnitz – Spirituelle Politik – Die Zeit ist reif. Die junge Partei der Violetten
TV 37: Tom Amarque – Boomeritis. Ein Rückschritt im Fortschritt oder das Sprungbrett zu höherem Bewusstsein?
TV 40: Anonym – Die dunkle Seite der Spiritualität. Die spirituelle Ursache von Groll und Sucht
TV 41: Hardy Fürch – Ein Yoga für die Erde. Green Yoga, Plädoyer für ein öko-yogisches Bewusstsein
TV 45: Mike Kauschke – Sein und Werden. Bericht vom Retreat mit Andrew Cohen
TV 48: Andreas Bummel – Soziale Evolution, Weltparlament und Bewusstsein
TV 49: Gerard Kever – Das Ego der Religionen. Ausblick auf eine Spiritualität des 3. Jahrtausends
Bildnachweis: © deviantart
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