31 Mai Orte, die zur Seele sprechen
Die Erkundung spiritueller Orte in Deutschland
Autor: Dr. Rüdiger Sünner
Kategorie: Kunst/Musik/Literatur
Ausgabe Nr: 103
Für seinen neuen Film »Seelenlandschaften. Spirituelle Orte in Deutschland« begab sich der Filmemacher und Autor Rüdiger Sünner auf eine Erkundungsreise der anderen Art, die ihn kreuz und quer durch Deutschland führt. Dabei hielt er die besondere Atmosphäre, die er an diesen Orten vorfand, mit der Kamera für das Publikum fest, und lädt somit dazu ein, Deutschland aus einer anderen, spirituellen und naturverbundenen Perspektive zu betrachten, jenseits von Polarisierungen und politischen Ideologien.
Tattva Viveka: Lieber Rüdiger, dein neuer Film heißt: »Seelenlandschaften. Spirituelle Orte in Deutschland«. Was kann man sich unter Seelenlandschaften vorstellen? Wie würdest du sie jemandem, der diese Wortneuschöpfung zum ersten Mal hört, erklären?
Dr. Rüdiger Sünner: Wenn ich Menschen fragen würde, was ihre Seelenlandschaft ist, würden viele sofort etwas antworten können, ohne diesen Begriff definieren zu müssen. Ihnen würden Orte in den Sinn kommen, an die sie gerne fahren oder an denen sie gerne verweilen, zum Beispiel im Urlaub. Es wären die Landschaften, die ihre Seele am stärksten ansprechen. Das kann für den einen das Mittelmeer sein, der andere macht eine Sahara-Wüstendurchquerung oder steigt einen Berg hinauf. Für mich jedoch ist der Begriff weiter gefasst, denn bei den Orten, die ich im Film aufsuche, handelt es sich oftmals um heilige Orte für verschiedene Formen von Religion. Diese Orte spielen nicht nur für das Christentum eine Rolle, sondern können auch heidnische, naturreligiöse Orte sein. An diesen Orten finden sich zum Beispiel heilige Bäume, heilige Quellen oder Höhlen und Berge. In ihnen kommt eine Weltsicht zutage von Kulturen, vor allem aus der Vergangenheit, die in der Natur so etwas wie eine Seele sahen. Für diese war ein Baum nicht bloß tote Materie, ein eindrucksvoll geformter Felsen und ein gewaltiger Berg waren nicht nur leblose Steine, sondern sie trugen etwas Seelenhaftes in sich. Ich würde sagen, dass dies ein weiterer Aspekt des Begriffs Seelenlandschaften ist. Auf diese Weise über die Natur zu sprechen, gilt in der Gegenwart als unmodern. Jeder Naturwissenschaftler würde einem auf die Finger klopfen und sagen, dies sei Quatsch. Denn weder ein Baum hat eine Seele noch ein Stein oder ein Fels.
Indigene Kulturen sehen alles in der Natur als etwas Beseeltes an.
TV: Sicherlich sind Menschen eher dazu bereit, Pflanzen und Tieren etwas Seelenhaftes oder eine Seele zuzusprechen. Aber die Vorstellung, dass Felsen, Steine oder ein Bach eine Seele haben, liegt dem modernen Menschen doch sehr fern.
Rüdiger: Genau. Viele indigene Kulturen rund um den Globus in der Gegenwart und Vergangenheit werden beispielsweise von der Ethnologie, die sich mit indigenen Völkern und Kulturen befasst, als animistische Kulturen bezeichnet. Das bedeutet, dass sie alle Wesen, also Pflanzen, Tiere, Felsen, Berge oder Flüsse als beseelt ansehen. Sie machen keinen Unterschied. Zum Beispiel die Aborigines in Australien, indigene Völker in Amerika, in Indien oder in Afrika. Indigene Kulturen sehen alles in der Natur als etwas Beseeltes an. Diese Weltsicht ist uns in Europa jedoch abhandengekommen. Die Kelten und die Germanen, die als die indigenen Völker Europas in der Vergangenheit betrachtet werden konnten, dachten genauso. Orte, die ihre starke seelische Atmosphäre bewahren konnten, suche ich gerne auf, weil sie mich stark faszinieren und berühren. Meine Filme, Bücher sowie Reisen sind Forschungsexpeditionen, um herauszufinden, was mich an ihnen so stark berührt und warum. Zum Teil ist es schwer, dies in Begriffen zu beschreiben. Das Schöne für den Filmemacher dabei ist, dass er in Bildern erzählen kann, in Atmosphären, in Stimmungen, gemeinsam mit Musik und Geräuschen. Deswegen ist dieses Medium wunderbar geeignet für Seelenlandschaften.
An bestimmten Orten war es mir wichtig, das herbeizuführen, was der Dichter Novalis die »Aussöhnung der heidnischen mit der christlichen Religion« nennt.
TV: Wie ist die Idee entstanden, Filme über Seelenlandschaften zu machen? Bei den Filmen über Seelenlandschaften handelt es sich um eine Filmreihe. In den ersten beiden Filmen hast du in England und Wales sowie Schottland spirituelle Orte besucht und deine Beobachtungen und Erfahrungen im Film festgehalten. Nun hast du Deutschland bereist. Wieso?
Rüdiger: Vor 35 Jahren habe ich zum ersten Mal in meinem Leben – ich wurde in Deutschland geboren – während einer Schottlandreise eine Seelenlandschaft bewusst wahrgenommen. Dabei saß ich im Zug und weinte und ich wusste nicht, warum. Ich fuhr an grünen Hügeln mit wahnsinnigen Lichtstimmungen am Himmel vorbei, an alten Burgen, die am Meer standen, oder an Steinkreisen. Und ich musste nur weinen. Ich konnte es mir nicht erklären, das war vollkommen verblüffend. Ich dachte, dass ich in meiner Heimat Deutschland noch nie geweint habe, während ich an einer Landschaft vorbeifuhr, zum Beispiel als ich als Kind mit meinen Eltern in die Eifel oder an die Nordsee gefahren bin. Doch in Schottland kam es auf einmal über mich. Wie ich später herausfand, hing es mit den keltischen Traditionen in England, Irland, Wales und Schottland zusammen. In den folgenden Jahren reiste ich über zehnmal auf die Britischen Inseln, und deshalb beschloss ich, die Filmreihe in den britisch-keltischen Seelenlandschaften zu beginnen. Unter anderem auch, weil ich dort vor vielen Jahren eben diese tiefgreifende erste Erfahrung gemacht hatte. In England drehte ich den ersten Film, in Schottland den zweiten. Indem ich die für mich berührenden Orte wieder aufsuchte, konnte ich diese Erfahrung für mich aufarbeiten. Doch daraufhin kam die entscheidende Frage auf: Du bist gar kein Engländer, du bist kein Schotte. Du bist in Deutschland geboren. Deutschland ist voll von tollen Wäldern und wunderbaren Landschaften. Wieso hast du diese Orte nicht hier gefunden? In den ersten Kapiteln meines Buches zum Film schreibe ich, dass in Deutschland über manchen heiligen Orten ein Schatten liegt. Nicht unbedingt über der schönen christlichen Kirche in Bayern mit dem Zwiebelturm. Doch zwei geschichtliche Bewegungen warfen einen Schatten auf die vorchristlichen, naturreligiösen Orte. Einmal war es die Christianisierung, die in Deutschland sowie in ganz Mitteleuropa alte heidnische Kultorte vernichtet, zerstört oder überformt hat, um ihre Kirchen darauf zu errichten. Heutzutage stehen oft Kirchen über alten heiligen Quellen, sodass man sie nicht mehr erkennt. Im 20. Jahrhundert überdeckten die Nationalsozialisten sie mit einem ideologischen Schatten, mit einem perfiden Gespür für solche Orte, indem sie diese als »urgermanisch« deuteten. Die Externsteine sowie heilige Bäume, Wälder und Quellen wurden allesamt für urgermanisch erklärt. Diese Rassenideologie behauptete, dass der nordische Herrenmensch allen anderen überlegen sei, und noch heute ist an einigen dieser Orte ein merkwürdiger Schatten spürbar. Außerdem pilgern zum Teil rechtsradikale Personen dorthin, bei denen ich sofort spüren konnte, dass sie aus einem völlig anderen Grund diesen Ort aufsuchten als ich.
In einigen Kapiteln meines Buches bemühe ich mich darum, die Orte mithilfe der Archäologie von diesem Schatten zu befreien, indem ich die Frage stelle, was an diesem Ort früher wirklich einmal war? War das tatsächlich ein germanischer Ort? Oder ist das nur eine ideologische Projektion?
Darüber hinaus fand ich dank ausführlicher Recherchen auch in Deutschland zahlreiche spirituelle Orte, die große Ähnlichkeit mit den Orten aufweisen, die ich in Irland, Wales und Schottland erkundet habe. Darüber bin ich äußerst glücklich. Denn dieser letzte Film sowie das Buch fühlten sich wie eine Art »nach Hause kommen« an.
Ich versuchte diese spirituellen Orte, die mich sehr entzückten, mit meiner Kamera so ins Bild zu setzen, dass auch die Zuschauenden von der starken Atmosphäre ergriffen werden, und um ihnen den Reichtum, den es auch in Deutschland gibt, vor Augen zu führen.
Wir lernen von indigenen Völkern, für die es überhaupt keine Subjekt-Objekt-Trennung gibt.
TV: Es ist dir sehr gut gelungen, die magische Ausstrahlung der Orte einzufangen und zu vermitteln. Deine Reise zu verschiedenen Seelenlandschaften Deutschlands führte dich kreuz und quer durchs Land. Du warst an der Ostsee, im Harz, entlang des Ufers des mächtigen Rheins. Wie hat diese Reise deinen Blick auf Deutschland verändert?
Rüdiger: An diesen Orten spürte ich, dass hier nicht nur das 2000 Jahre alte Christentum mit seinen Kapellen, Kirchen und heiligen Stätten lebendig ist, sondern auch eine in die Jahrtausende reichende, zuvor stattfindende Entwicklung, die von einer Welt der vorchristlichen Mythen, Mysterien und spirituellen Weltbilder erzählt, die bis in die Steinzeit zurückreicht. Für diesen Film bin ich nicht so weit zurückgegangen, dass ich die Höhlen in der Schwäbischen Alb besucht habe, wo Wissenschaftler 40.000 Jahre alte Skulpturen gefunden haben, die eine schamanische Weltsicht bezeugen. Man muss sich vorstellen, dass Menschen in den Höhlen der Schwäbischen Alb vor 40.000 Jahren unfassbare Kunstwerke geschaffen und Rituale in diesen Höhlen abgehalten haben. Dies habe ich in einem anderen meiner Filme, der »Wildes Denken« heißt, ausführlich behandelt, und ich wollte es nicht noch einmal wiederholen.
Dennoch habe ich auf dieser Reise mächtige Steinsetzungen, Dolmen und Hünengräber entdeckt, die circa 5.000 Jahre alt sind. Die Geschichte und die ungeheure Zeitspanne, welche diese spirituellen Orte abdecken, faszinierten mich. Außerdem war es für mich wichtig, die Romantiker noch einmal zu studieren, die deutschen romantischen Dichter, die ähnliche Unternehmungen wie ich gemacht haben. Sie sind wie meine Seelenbrüder: Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Clemens von Brentano und der unvergleichliche Caspar David Friedrich. Sie streiften auch an diesen Orten umher, und obwohl sie aus einer wissenschaftlichen oder archäologischen Perspektive nicht sagen konnten, wie alt diese Orte tatsächlich sind und welche Volksgruppe sie geprägt hat, fühlten sie jedoch, wie alt Deutschland ist und was für ein alter Reichtum an spirituellen Traditionen an diesen Orten gespeichert ist. Es war eine tolle Entdeckung, gemeinsam mit den romantischen Dichtern und ihren Texten an diese Orte und in die Vergangenheit zu reisen. So fühlte ich mich mit dem 19. Jahrhundert verbunden. Insofern war es nicht nur eine Orts-, sondern auch eine Zeitreise.
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Schwerpunkt: Parapsychologie
Erschienen: Juni 2025
Dr. Dr. Walter von Lucadou – Parapsychologie: Ein Beitrag zur Bewusstseinsforschung • Prof. dr. Stefan Schmidt – Experimentelle Parapsychologie • Birgit Feliz Carrasco – Hellfühligkeit • Dr. Gerhard Mayer – Magick in der Praxis • Dr. Marc Wittmann – Wenn die zeit verrükt spielt • Astrid Gutowski – Widerstandskraft in herausfordernden Zeiten • Hajo Michels – Scheinheilig: Entlarve die Schattenseiten der Spiritualität • Armin Denner – Die Großen Tarot Arkana • Dr. Rüdiger Sünner – Orte, die zur Seele sprechen • Kevin Johann – Soma • Sophie Baroness von Wellendorff – Wenn Licht und Dunkelheit tanzen • Buchbesprechungen • u.v.m.
Zum Autor
Dr. Rüdiger Sünner, geb. 1953 in Köln, studierte Musik, Musikwissenschaften, Germanistik und Philosophie. 1985 promovierte er über die Kunstphilosophie von Theodor W. Adorno und Friedrich Nietzsche. Anschließend studierte er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB). Seit 1991 lebt er als freier Autor, Filmemacher und Musiker in Berlin. Seine vielfältigen Publikationen und Filme beschäftigen sich vor allem mit spirituellen Grenzgebieten, so etwa in Schwarze Sonne – Mythologische Hintergründe des Nationalsozialismus (1996), Zeige deine Wunde – Kunst und Spiritualität bei Joseph Beuys (2015), Engel über Europa – Rilke als Gottsucher (2018) und Wildes Denken – Europa im Dialog mit spirituellen Kulturen der Welt (2020).
Webseite: ruedigersuenner.de
Buch:
Seelenlandschaften
Spirituelle Orte in Deutschland
240 Seiten, Klappenbroschur
Preis: 29,00 €
Scorpio Verlag, 2025
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