Sehen sieht alles, auch was niemand sehen will

Sehen sieht alles, auch was niemand sehen will

Ein Dialog

Autor: Ronald Engert, Dr. phil. Gabriele Sigg
Kategorie: Philosophie
Ausgabe Nr: 73

Das Sehen ist ein verloren gegangener Erkenntnismodus. Mit der Herausbildung des Subjekts und der Aufklärung trennte sich der Mensch von dem Urgrund des Seins. Rationale Analyse und Verstandestätigkeiten werden überbewertet, mimetische Erkenntnismodi belächelt. Ein sträfliches Vergehen, wie die Autoren in Rückbezug auf spirituelle Weisheitslehren von Ost und West im Dialog erörtern. Das SEHEN, das wir für die heutige Kultur brauchen, muss nun das Subjekt in einer Ich-integrierten Geistesschau verbinden.

Erkenntnisweg des geistigen Sehens

Gabriele: In der Wissenschaft ist momentan die intellektuelle Analyse und das rationale Argument vorherrschend. Gehen wir jedoch in unserer Geistesgeschichte zurück zur Wurzel unserer Universitäten in der antiken Philosophie war nicht die intellektuelle Analyse das Ziel von wissenschaftlicher Erkenntnis oder die höchste Erkenntnisform, sondern die geistige Schau, also das Sehen. Wir möchten uns in diesem Gespräch dieser Erkenntnisform im Dialog nähern und fragen: Was ist eigentlich Sehen? Was ist Sehen, auch im Gegensatz zur intellektuellen Analyse oder dem rationalen Argument? Hat sich Sehen im Laufe der Geschichte verändert? Und warum brauchen wir das Sehen als Erkenntnisform in der Welt?

Ronald: Die Frage ›Was ist Sehen?‹ ist einfach, aber die Antwort ist schwer. Die engste oder direkteste Definition ist: »Es ist eine Ich-freie und intentionslose Sicht auf die Dinge, die die Wahrheit hervorbringt.« Es ist ein rezeptives Nehmen, ein Wahrnehmen. Es wird aber nicht direkt mit den physischen Sinnen, mit dem Auge oder mit dem Ohr vollzogen, sondern mit dem inneren Sehen und dem inneren Hören. Es gibt aber natürlich eine Beziehung zwischen dem akustischen Hören oder dem optischen Sehen und dem geistigem Hören und geistigen Sehen. Das hat viel mit Sprache, Bildern und Ideen zu tun. Es ist etwas Rezeptives im Gegensatz zum Aktiven. Ich-frei meint hier frei vom Ego. Das egoistische Herangehen an die Welt verhindert das Sehen. Wenn ich in der Ego-Perspektive bin, kann ich nichts sehen. Perspektive schließt Sehen aus. Dann sehe ich alles auf meine Befindlichkeit oder auch auf meine Absichten bezogen. Mein großer geistiger Lehrer und Vorbild, der Philosoph Walther Benjamin, prägte den großen Satz: »Die Wahrheit ist der Tod der Intention.«

Sehen sieht alles, auch das, was niemand sehen will.

Wenn ich mit einer Absicht an die Dinge herangehe, kann ich nicht die Wahrheit sehen. Es wird auch in der Bhagavad Gita so beschrieben, dass das reine, erleuchtete Bewusstsein ohne Absicht ist, und dadurch offenbart sich die Wahrheit. Die Wahrheit offenbart sich in dieser reinen, geistigen Schau. Dann kann man die Dinge sehen, wie sie wirklich sind. Man kann hinter den Schleier der Ideologie blicken. Ideologie bedeutet, dass der Mensch immer in einem Meinen und Für-wahr-halten lebt, hinter dem immer ein Wunschdenken steht. Das Sehen ist etwas anderes.

Man sieht auch das, was andere Menschen nicht sehen wollen.

In der Kabbala heißt es ›Omnia Videns‹ (alles sehend). Ein anderes Wort ist ›evident‹ von lat. ›evidens‹ (sichtbar). ›Videre‹ heißt ›sehen‹. Wir kennen heute noch das Wort ›Video‹. Evident ist das, was sich von selbst offenbart. Es ist auch die Wahrheit im Sinne der göttlichen Ordnung. Es ist die Erleuchtung und das spirituelle Erwachen. Erwachen ist das Gegenteil von Schlafen, Ohnmacht oder geistiger Umnachtung. Sehen ist die geistige Schau. Es wird von Platon, Aristoteles und Plotin thematisiert und eigentlich überall in den spirituellen Traditionen. In den schamanischen Traditionen gibt es das zum Beispiel bei Carlos Castaneda. In der Tradition der Hexen gibt es Seherinnen und Seher.

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Das Licht der Wahrheit

Ronald: Ja, das ist ein guter Ansatz, dass das Selbst, wenn es ganz sich selbst geworden ist, auch in diese wahre Schau kommt. Ich unterscheide zwischen richtigem Ego und falschem Ego, oder zwischen Selbst und Ego, oder auch dem wahren Ich und dieser Ego-Maske, die wir manchmal tragen. Es gibt beides. Das, was das Sehen behindert ist natürlich dieses falsche Ego. Im Sanskrit, in der vedischen Philosophie wird das als Ahankara, das falsche Ego bezeichnet. Ahan heißt »ich« und kara heißt »machen, tun«. Also, »Ich bin der Macher. Ich bin der Kontrollierende« und ich identifiziere mich mit zeitweiligen Identifikationen, zum Beispiel »Ich bin Professor«, oder »Ich bin Skifahrer«, oder »Ich bin weiß, ich bin schwarz. ich bin Mann, ich bin Frau. Ich bin Mensch, ich bin Hund, ich bin eine Katze.« Das sind alles zeitweilige Identifikationen, die mit meinem wahren Ich nichts zu tun haben. Darüber hinaus gibt es dieses wahre Ich, dieses wahre Selbst. Ich gehe auch davon aus, dass wir in der Wahrheit ewige, individuelle Wesen sind und dass ich eine ewige Identität habe, ein wahres Ich. Dieses wahre Ich ist in der Wahrheit und hat die Fähigkeit objektiv zu sehen. Das ist auch das, wo alle kollektiv mit einbegriffen werden können. Der Seher oder die Seherin sehen alle Beteiligten in gleichberechtigter Weise. Sie sehen alles, was in einer gewissen Situation mit reinspielt, sämtliche Lebewesen, die da sind, werden in ihrer Wahrheit wahrgenommen, auch in ihrer Berechtigung und Würde ihres Seins.

Gabriele: Ich nehme das sehr ähnlich wahr.

Unser natürlicher Zustand ist, dass wir alles sehen, dass wir mit der göttlichen Wahrheit verbunden alles sehen. Jeder sieht jeden und sieht alles, was geschieht und so wie es ist.

Ich habe aber auch noch das Bedürfnis die Erkenntnisse der Griechen mit einzubringen. Wir sprechen in dieser spirituellen Szene sehr viel mit indischen Begriffen und diesem Erwachen, das ist in Ordnung. Ich finde es nur wichtig, unsere eigenen Wurzeln auch zu kennen und wir haben viele Beispiele aus der Philosophie, die auch diese Dinge beschreiben. Zum Beispiel Platon in seinem Höhlengleichnis. Er spricht auch von Menschen, die nur Schatten sehen, und wie man die aus ihrer δόξα (doxa, Meinung), aus ihrem Schattenspiel, herausbringen kann – bzw. eben nicht. Das Problem ist, dass die da gar nicht raus wollen. Wenn jemand kommt, der sie in das Licht führen möchte, wollen die das gar nicht. Die möchten lieber in der falschen Identifikation leben. Wenn wir die Geschichte betrachten war das meistens so. Menschen, die für die Wahrheit einstanden und wie ich sagen würde »sahen«, wurden eigentlich immer verleumdet, verfolgt und verraten. Man denke an Jesus, Gandhi oder Buddha – traurig ist, dass ich selbst keine Frau kenne und sie im allgemeinen nicht bekannt sind, obwohl es sicher auch Frauen gab.

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Die innere Spaltung des Menschen und ihre Überwindung

Gabriele: Die Charakterbildung ist gewissermaßen eine geisteswissenschaftliche Tradition und sie geht eigentlich durch alle Epochen hindurch. Angefangen von Aristoteles, über Adam Smith, Friedrich Schiller, Goethe, Wilhelm von Humboldt, Georg Simmel und Hannah Arendt – um einige zentrale Denker zu nennen und zu würdigen. Erst mit Anfang der Moderne bzw. Postmoderne hört es auf, sich mit der Charakterbildung zu beschäftigen.

Die Ausbildung des Herzens und des Geistes galt hierbei als erstrebenswert.

Mit Kant gab es einen Bruch. Kant hat die Vernunft überhöht, das gab ihm auch Widerspruch von Schiller, Goethe und Simmel, die sich von ihm abwendeten. Die Aufklärung, die ich als sehr wichtig erachte, hat an dieser Stelle eine Spaltung des Menschen zwischen Gefühl und Denken im weiteren Sinne ausgelöst. Das ist ein großes Problem, das sich heute überall in unseren Bildungseinrichtungen zeigt.

Natürlich waren hier die wichtigen Erkenntnisse aus der Psychotherapie noch nicht verfügbar und müssten ergänzt werden, ebenso die Bereiche der soziokulturellen Prägungen und neurowissenschaftlichen Erkenntnisse.

Sehen sieht alles, auch das, was niemand sehen will.

Ronald: In den spirituellen Traditionen ist diese psychotherapeutische Seite meines Erachtens bisher zu kurz gekommen. Der ganze Bereich der Gefühle wurde weitestgehend ignoriert. Der transzendente oder spirituelle Zustand ist das, was jenseits der Wellen des Geistes und der Gefühle anzustreben ist und wo der innere Frieden stattfinden soll. Das ist der erstrebenswerte Ort, an den man in der Meditation, im Gebet oder in Zeremonien hingeht, um diese weltlichen Zustände zu überwinden. Aber diese weltlichen Zustände, die in den traditionellen metaphysischen Konzepten der Transzendenz als etwas Unwichtiges oder Marginales dargestellt wurden, gilt es doch in den Blick zu nehmen, weil sie das spirituelle Erwachen verhindern können.

Kollektiv-geistig sind wir meines Erachtens eher am devolutionieren als am evolutionieren. Wenn man Aristoteles, Platon oder die Bhagavad-gita liest, so ist das ein so hohes Niveau und sie haben so viel Wissen.

Lesen Sie im vollständigen Artikel mehr über die Wichtigkeit der Ausbildung der Gefühlswelt und des Charakters – im vollständigen Artikel, bestellbar am Ende dieses Beitrags.

Ronald: Ich bin kein Anhänger dieser Auflösung des Ich, wie es im Buddhismus, im Advaita Vedanta oder auch in manchen christlichen, negativen Traditionen propagiert wird. Ich glaube, dass es eine ewige, individuelle Identität gibt. Diese Identität ist unsere Seele, der »Atman« im Sanskrit. Meine Seele, meine spirituelle Identität ist, dass ich ein Gefährte Gottes in dieser göttlichen Realität bin. Diese Identität ist momentan verschüttet, sie müssen wir wieder freilegen.

Es gibt natürlich verschiedene Ansätze. Im Buddhismus zum Beispiel streben sie nach »Anatman« (Nicht-Seele). Da ist nur Leere, es gibt keine Designationen, keine Bezeichnungen, nichts Geformtes. Alles ist eins im Advaita. Es gibt keine Unterscheidung mehr. Alles, was uns von dem anderen trennt, ist etwas Schlechtes, Leiden, was wir hinter uns bringen müssen. Ich glaube nicht, dass Trennung etwas Schlechtes ist. Manchmal ist es ganz gut, das Eine vom Anderen zu trennen. Das ist Unterscheidungsvermögen. Trennung ist eigentlich eine Quelle der Freude, weil ich dann einen anderen treffe, der auch irgendwo aufhört, und dann treffen wir uns da und berühren uns. Und bei dieser Berührung fühlt man etwas. Das ist auch die Berührung mit Gott.

Ohne die Trennung von Innen und Außen durch eine Membran gäbe es kein Leben.

Evolutionäre spirituelle Theorien sagen: »Gott selbst entfaltet sich im Laufe der Zeit.« Es gibt also immer wieder neue Ebenen, die vorher noch gar nicht da waren, die sich entfalten, wo auch Gott den Menschen oder die Lebewesen braucht, um selber weiter zu wachsen. Deswegen gibt es auch auf der göttlichen Ebene Entwicklungen, oder Überraschungen, oder Freude, und all diese Dinge. Deswegen muss man auch nicht immer denken, Unvollkommenheit sei schlecht.

Sehen sieht alles, auch das, was niemand sehen will.

Gabriele: Ja, das was Du zur Trennung sagst, finde ich sehr wichtig! Die spirituellen Traditionen betonen aktuell die weiblich-verbindende Seite und lehnen die Trennung ab. Dies resultiert meines Erachtens aus dem Schatten der kollektiv-weiblichen Seite, auf den ich zuvor hinauswollte. Das Weibliche und Männliche brauchen sich gegenseitig, um sich zu sehen – vor allem auch die Schattenseiten. Das Männliche kann die weiblichen Schattenseiten besser sehen und umgekehrt. Bisher finde ich aber, dass man die männlichen Schattenseiten schon weit und breit diskutiert hat, sich die Frauen aber immer im Opfer-Modus schützen. Erst wenn wir dies zusammendenken, entsteht die Freude an der Verbindung und Trennung, die Du so schön ansprichst –

Und deshalb muss man auch nicht immer alles sehen vielleicht (kurzes lachen), damit man sich überraschen lassen kann.

Zu den Autor*innen

Unsere Autorin Gabriele Sigg

Gabriele Maria Sigg, hat kürzlich ihre Promotion (Dr. phil) erfolgreich an der Humboldt-Universität zu Berlin abgeschlossen. Magistra Artium (Universität Regensburg, 2004-2009), Studium der Soziologie, Philosophie und Kulturwissenschaften. Freiberufliche Tätigkeiten u.a. in der Redaktion von Tattva Viveka.

Bücher: »Ehre revisited – Die Charakterhaltung als gesellschaftliche Grundlage«. Dissertation. Tectum Verlag 2017./ »Emotionale Bildung – Die vergessene Seite der Bildungsdebatte«. Verlag Dr. Kovac. Herausgegeben von Gabriele Sigg und Andreas Zimmermann. www.gabrielesigg.de

Ronald Engert, geb. 1961. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, später Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/ M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 2017 Bachelorabschluss in Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Autor von »Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung« und »Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts«. Blog: www.ronaldengert.com

Portrait von Ronald Engert

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

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Jenseits der Schleier (PDF)

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Isiria
Jenseits der Schleier. Sehen, was wirklich ist.

Die Seherin Isiria verfügt über angeborene mediale Fähigkeiten, mit deren Hilfe sie Menschen dabei unterstützt, ihre Potenziale zu entfalten und im Einklang mit sich selbst und ihrer Umwelt zu leben. Das Interview arbeitet das Sehen als Erkenntniskategorie heraus und diskutiert die Frage, wie das wahrhaftige Sehen jenseits aller Schleier mit einem gesunden Ich verwirklicht werden kann.
 

 

 
 

Ronald Engert und Gabriele Sigg sind die Initiatoren des Online-Symposiums »Wissenschaft und Spiritualität – die Welten verbinden«.

Ihre Interviews können im großen Symposium-Paket mit 37 weiteren Interviews erworben werden.

Bildnachweise: © www.pixabay.com

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