29 Nov Von den letzten und den ersten Dingen
Himmel, Hölle, Fegefeuer aus der Sicht von Nahtoderfahrungen
Autor: Klemens Speer
Kategorie: Theologie
Ausgabe Nr: 101
Gottesgericht und Hölle sind uns aus der christlichen Lehre hinlänglich bekannt. Speer bringt eine neue Deutung, die uns mit der richtenden Funktion Gottes versöhnen kann. Das Gericht ist nämlich durch Liebe motiviert. Das Fegefeuer ist das Reinigende, was unsere eingeschränkten Sichtweisen hinwegwäscht. Am Ende bleibt unser wahres Selbst und unsere liebevolle Anbindung an Gott: das ewige Hier und Jetzt.
Die Worte unserer Sprache sind wie eine Landkarte, aber die Landkarte ist nicht das Land.
Einführung: Um was es geht
Zu diesem Text hat mich das Buch von Frank Buskotte, Himmel, Hölle, Fegefeuer – Was kommt nach dem Tod inspiriert (siehe Lit.-Verz.). Frank Buskotte ist tragischerweise plötzlich und unerwartet kurz nach dem Erscheinen seines Buches verstorben. Er war promovierter Philosoph und Theologe und engagierter Leiter der Katholischen Erwachsenenbildung in Osnabrück (KEB). Als ich ihn 2016 bei der Planung des Kongresses GanzMenschSein, den die KEB organisatorisch unterstützte, kennenlernte, sprachen wir kurz darüber, was mich zu diesem Kongress inspiriert hat und ich erzählte ihm von meiner Nahtoderfahrung.
Frank Buskotte meint in seinem Buch, dass das Thema Himmel, Hölle, Fegefeuer in der katholischen Erwachsenenbildung ein Dauerbrenner sei. In diesem Buch beschreibt er ausgehend von den alten mittelalterlichen christlichen Vorstellungen, die sich in bildgewaltigen Darstellungen niedergeschlagen haben, eine sehr moderne theologisch, rationale Sichtweise auf die letzten Dinge. Das Buch wird ergänzt durch einen abschließenden Beitrag seines ebenfalls promovierten katholischen Kollegen und Theologen Martin Splett zu »Alles beginnt mit der Sehnsucht«. Splett ergänzt mit seinem Beitrag »vom Kopf für das Herz« den rational analytischen Blick von Buskotte. Splett hat seine Sichtweise wohl als Referent für Hospitz-Arbeit in der Auseinandersetzung mit diesem Thema gewonnen. Beide Sichtweisen ergänzen sich und sprechen mich an. Ich kann sie gut nachvollziehen und gutheißen und dennoch fehlt mir etwas Entscheidendes.
Es hat mich erschüttert, obwohl hier zwei christliche Experten schreiben, dass in beiden Beiträgen die christliche Mystik nicht vorkommt. Diese Erfahrung hatte ich auch schon zuvor mit einer katholischen Professorin für Theologie im Zusammenhang mit der Kongressorganisation 2016 gemacht. Sie empfahl mir ein Buch von ihr, in dem sie ihren Kollegen erläutert, warum der Jugend die christliche Weltsicht schwer zu vermitteln sei. Dabei zitiert sie viele Theologen, aber klammert ebenfalls die christliche Mystik ganz aus. In der Ökonomie gibt es einen Begriff dafür: »Betriebsblindheit«. Er meint in diesem Fall, dass der Blick so sehr eingeengt ist, dass etwas, das für Außenstehende ganz offensichtlich ist, dass es einbezogen werden sollte, ausgeklammert wird. So als würde in dieser Hinsicht ein »Schatten« oder ein unausgesprochenes Denk- und Wahrnehmungsverbot bestehen.
Mein Anliegen mit diesem Beitrag ist, die wichtigsten Erkenntnisse zu Tod, Fegefeuer, Hölle, Himmel und Sehnsucht aus dem oben genannten Buch allgemein zusammenzufassen und um meine Sichtweise aus der Perspektive von Nahtoderfahrung, Meditation und Mystik zu erweitern und, soweit möglich, sie aus meiner Auseinandersetzung mit dem Daoismus und dem Buddhismus zu ergänzen. Das Buch von Franz Buskotte möchte ich dennoch allen, die in christlicher Tradition aufgewachsen sind, sehr empfehlen.
Um meine Sichtweise auf das Thema zu beschreiben, ist es erforderlich, zunächst das Leben, die Entfaltung des Lebens und dann Sterben und Tod einmal ganz allgemein zu betrachten. Auch dieser Aspekt wird von den oben angegebenen Autoren leider ganz außeracht gelassen.
Leben und Tod
Das Leben entfaltet sich in der Evolution: Sehr vereinfacht von Mineralien, zur Pflanze, zum Tier bis zum Menschen. Menschliches Leben bewegt sich zwischen den Polen Geburt und Tod, männlich und weiblich, Einsamkeit und Geborgenheit, Kindheit und Erwachsensein, Individualität und Gemeinschaft, innen und außen, Himmel und Erde, Erschaffung und Auflösung, Sinn und Unsinn, Yin und Yang. »Überall, wo menschliches Leben ist, gibt es Zeugung und Empfangen, Verheißung und Not, Freud und Leid, Sicherheit und Angst, Schutz und Gefahr, Sattheit und Hunger, Wachen und Schlafen, Krankheit und Heilung. In all diesen Gegensätzen erscheint das LEBEN.« (Karlfried Graf Dürkheim)
In diesem polaren Spannungsfeld der Evolution entwickelt sich das menschliche Bewusstsein vom archaischen über das magische und mythische zum rationalen und transrationalen beziehungsweise mystischen oder integralen Bewusstsein (Jean Gebser, Ken Wilber). Diesen Bewusstseinsebenen entsprechen verschiedene Stufen von Religiosität: die archaische Religiosität der Schamanen, die magische der Hexen und Medizinmänner, die mythische der Priester der großen Weltreligionen, die rationale der westlichen Theologen und die integrale Religiosität der Weisen und Meister aller tiefen spirituellen Weisheitstraditionen.
In meinem Buch »Taiji und Daoismus im Westen«, stelle ich ausführlich die spirituelle, integrale Entwicklungspsychologie und -philosophie vor, so wie sie Ken Wilber herausgearbeitet hat, siehe Lit.-Verz. Sie ist der Hintergrund für meinen Blick auf das hier behandelte Thema. An dieser Stelle ein paar kurze Erläuterungen zu den oben genannten fünf individuellen und kollektiven Bewusstseinsebenen der menschlichen Entwicklung, um meine Sichtweise verständlicher zu machen. Wilber bezieht sich dabei auf die Erkenntnisse der westlichen Psychologie, die Arbeit von Jean Gebser und anderen Wissenschaftlern.
Von Tod kann nur sinnvoll gesprochen werden, wenn wir uns klargemacht haben, was Leben bedeutet.
Alle individuelle Entwicklung vollzieht sich nach Wilber auch auf der kollektiven Ebene. Die Bewusstseinsentwicklung, die jeder einzelne Mensch durchläuft, durchlaufen also auch alle Nationen und Gesellschaften. Die wichtigsten fünf Stufen, die oben genannt wurden, können jedoch noch weiter aufgefächert werden. Hier möchte ich mich jedoch auf die genannten fünf Ebenen beschränken. Auch religiöses oder spirituelles Bewusstsein entfaltet sich über diese Ebenen, die Wilber auch Stufen oder Spiralen nennt. Sie sollen hier kurz charakterisiert werden:
Archaisches Bewusstsein erkennt das göttliche Wirken, die letzte Wirklichkeit in den Naturgewalten: Feuersbrünste, Sturmfluten, Wirbelstürme, Erdbeben, die Macht der Himmelskörper oder ganz allgemein in: Himmel und Erde, Feuer und Wasser, usw. Der Mensch ist diesen Gewalten hilflos ausgeliefert. Gottesbild: Die Natur als Mutterbrust.
Magisches Bewusstsein ist ebenfalls auf die Natur bezogen. Jedoch ist die Welt verhext und belebt von geheimnisvollen Wesen, Naturgottheiten mit denen der Mensch in Kontakt treten kann, die er durch Bitten und Beten zu seinen Gunsten beeinflussen kann. Gottesbild: Stammesgötter, helle und dunkle Geister.
Mythisches Bewusstsein wendet sich ganz von der Natur ab und den Menschen zu, denen alle Macht und Weisheit zugeschrieben wird, die vergöttlicht werden: Kaiser und Könige, Religionsstifter, Helden, Priester, Heiler und Ärzte, usw., ob männlicher oder weiblicher Ausprägung werden verehrt. Ihrer Macht muss sich der einfache Mensch unterwerfen. Gottesbild: Machtgötter, die ihre Feinde vernichten.
Rationales Bewusstsein geht einen Schritt weiter. Der Verstand und damit die Wissenschaft werden vergöttlicht. Nur was wissenschaftlich bewiesen ist, kann geglaubt und als Wirklichkeit angenommen werden. Archaische, magische und mythische Erkenntnisse und Bewusstsein werden radikal abgelehnt und abgewertet. Das integrale Bewusstsein wird als irrational missdeutet. Gottesbild: Es gibt nur einen Gott, als Gesetzgeber und Richter oder keinen Gott und nur einen universellen Urgrund des Seins.
Integrales Bewusstsein dagegen erkennt, dass jede Entwicklungsebene einen Teil der Wahrheit in sich trägt. Ihr sollte Wertschätzung entgegengebracht werden. Integrales Bewusstsein lehnt jedoch ab, was als unwahr oder unwirklich erkannt worden ist. Ein göttliches, heiliges Bewusstsein entspringt aus der Erfahrung der Einheit. Gottesbild: Das »Reich Gottes« oder das Erwachen umschließt den Erfahrenden, die innere Erfahrung und die äußere Welt.
Meine folgenden Ausführungen beziehen sich auf die fünfte Ebene, auf das integrale Bewusstsein.
Es ist mir wichtig, dass wir uns bewusst machen, dass alles, was wir sprachlich ausdrücken möchten, sich zwischen den oben genannten Polen bewegt. Diese polaren Gegensätze möchte ich nicht als Dualismus verstanden wissen, sondern als sich ergänzende komplementäre Seiten. Den einen Pol kann ich sprachlich nur ausdrücken, indem der andere Pole bereits vorhanden ist, auch wenn er sprachlich nicht genannt wird. Etwas als Schwarz zu benennen, macht also nur Sinn, wenn der Gegenpol Weiß auch wahrgenommen wird. Krieg und Auseinandersetzung kann es nur geben, wenn ebenfalls Frieden und Harmonie möglich sind. Zudem, die Worte unserer Sprache sind wie eine Landkarte, aber die Landkarte ist nicht das Land, das gilt es sich bewusst zu machen, sowie die Speisekarte nicht die Speise ist.
Dennoch: Die menschliche Sprache hat sich im Alltag bewährt, insbesondere im technischen Bereich sind klare Definitionen (Eingrenzungen) sehr hilfreich. Sprache weist jedoch, wenn es um die letzten Dinge geht, deutliche Grenzen auf, weil sie sich immer zwischen diesen Polen bewegt. Selbst wenn ich behaupte alles ist Eins, gibt es dennoch die Vielheit. Oder wenn ich von Allverbundenheit spreche, steht sprachlich die Unverbundenheit oder die Trennung mit im Raum.
Daher gibt es ein großes Problem, wenn über mystische Erfahrungen gesprochen werden soll und es in einem Text nur die Möglichkeit gibt, sich über Worte aus unserer Sprache verständlich zu machen. Dennoch soll dieser Versuch hier unternommen werden. Er ist verbunden mit der Hoffnung, nicht missverstanden zu werden, obwohl ich das nicht ausschließen kann. Am ehesten werden mich Menschen verstehen, die ebenfalls mystische Erfahrungen oder eine Nahtoderfahrung gemacht haben.
Nach Wilber verstehen Menschen auf der mythischen Entwicklungsebene Rationalität nicht. Zudem erhebt sich Rationalität über die mythische Sprache in Bildern oder Metaphern und kann sie oft nicht mehr verstehen. Zudem wird Mystik von der Rationalität nicht verstanden. Jedoch können rational denkende Menschen, die sich zum mystisch-integralen Bewusstsein entwickelt haben, Mythos (die Sprache und Weltwahrnehmung in Bildern) und Mystik (ein offenes weites stilles Bewusstsein) in ihrer Wahrnehmung klar unterscheiden.
Dies ist nur der Anfang des Artikels. Der vollständige Beitrag ist in der Tattva Viveka 101 erschienen.
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Tattva Viveka Nr. 101
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Schwerpunkt: Tabuthema Tod
Erschienen: Dezember 2024
Klemens J.P. Speer – Von den letzten und den ersten Dingen • Viktor Terpeluk – Nahtoderfahrung und Persönlichkeitsentwicklung • Bartosz Werner – »Heute ist ein guter Tag, um zu sterben.« • Philipp Feichtinger – Durch die Trauer zu einem erfüllten Leben • Irene Schneider – In Gemeinschaft vom Leben Abschied nehmen • Sophie Baroness von Wellendorff – Das Wunder der zwölf heiligen Rauhnächte • Teresa Brunnmüller – Fürchtet euch nicht • Dr. Sylvester Walch – Wege zur Ganzheit (1) • Christiane Krieg – Heiliger Kakao • Buchbesprechungen • u.v.m.
Zum Autor
Klemens Speer ist Zen-Lehrer, Qigong-Lehrer, Taiji-Lehrer und -Ausbilder. Als Autor hat er eine Reihe von Büchern über Taijiquan, Qigong, Zen und Spiritualität im Lotus-Press Verlag veröffentlicht. Er hat fast 35 Jahre Unterrichtserfahrung und 25 Jahre Taiji-Kursleiter und -Lehrer ausgebildet. Heute begleitet er Taiji- und Qigong-Kursleiter und -Lehrer und Zen-Schüler mit vertiefenden Seminaren und Einzelcoaching.
Webseite: ost-west-spirit.de
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