29 Nov Wege zur Ganzheit (1)
Spiritualität und Psychotherapie im Dialog – Teil 1
Autor: Dr. Sylvester Walch
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 101
Der Dialog zwischen Psychotherapie und Spiritualität kann konstruktiv geführt werden, wenn die jeweiligen Leitlinien beachtet und aufeinander abgestimmt werden. Nach der Erläuterung des Begriffes Spiritualität und einer ideologiekritischen Auseinandersetzung mit dem Ganzheitskonzept werden die Schlüsselkonzepte von Selbst, Ich und Ego differenziert. Die Integration von seelischen, transpersonalen und spirituellen Aspekten des Menschseins unterstützt umfassende Bewusstseinsprozesse auf dem Wege zur Ganzheit. Dadurch können wir dem Leben, so wie es sich vollzieht, mehr und mehr vertrauen.
Heilung und Wachstum bedeutet deshalb, auf dem Wege zu sein, ganz zu werden, mit allen Aspekten des Lebendigen verbunden zu sein und zum Wesentlichen vorzudringen.
Das Thema – Psychotherapie und Spiritualität – hat in den letzten Jahren große Beachtung gefunden, nicht zuletzt deswegen, weil zum einen bei vielen Psychotherapeuten selbst verstärkt der Wunsch nach Sinnfindung, Tiefe und Transzendenz auftritt. Auf der anderen Seite wissen wir, dass in der Arbeit mit schwer beschädigten Klienten der spirituellen Ebene eine wegweisende Bedeutung in der Genesung zukommt. So ist es nicht verwunderlich, dass heutzutage viele Kliniken die Psychotherapie mit meditativen Verfahren ergänzen. Auch die zunehmende Anzahl von Kongressen, empirischen Forschungsansätzen und Fortbildungsangeboten, die sich diesem Thema widmen, sind bemerkenswert. In diesen Diskussionen geht es aber in erster Linie darum, gesundheitsunterstützende Faktoren kontemplativer Übungen in Coping Strategien einzubauen. Der konzeptionelle Hintergrund sowie der höhere Bezugsrahmen der jeweiligen spirituellen Traditionen werden dabei meistens außer Acht gelassen. Dabei dürften zwei Gründe eine Rolle spielen: Erstens ist das tiefere Verstehen spiritueller Praxis nur durch persönliche Erfahrung möglich. Viele scheuen dabei die Mühen, die damit verbunden sind. Zweitens regt sich unter Psychotherapeuten immer noch Widerstand gegen religiös anmutende Grundsätze und Begriffe, die dem ursprünglichen emanzipativen Anliegen der Psychotherapie zu widerstreben scheinen. Das ist bedauerlich, denn durch eine nur oberflächliche und pragmatisch-eklektische Verarbeitung spiritueller Erkenntnisse, die auf lang entwickelten Traditionen beruhen, werden sich die ihnen innewohnenden Potenziale nicht entfalten können. Wenn es gelingt, bewährte Einsichten von Weisheitsschulen mit den neueren Erkenntnissen von Psychodynamik und Bewusstseinspsychologie stringent zu verknüpfen, wird zusammenkommen, was zusammengehört.
Deshalb soll in dieser Untersuchung aufgezeigt werden, wie sich seelische und spirituelle Prozesse sinnvoll ergänzen können. Zunächst werde ich darlegen, wie sich der Stellenwert der Spiritualität mit der Zeit verändert hat. Dabei soll deutlich werden, was unter dem Begriff Spiritualität verstanden wird. Notwendige kritische Einwände gegen ganzheitliche Kosmologien, die der allgemeinen Sehnsucht des Menschen nach umfassenden Welterklärungen entspringen, sollen einer Ideologisierung von vorneherein entgegenwirken. Danach werden die anthropologischen Grundlinien zu den Themenkomplexen Selbst, Ich und Ego erörtert, da sie für beide Seiten relevant sind und deren undifferenzierte Betrachtungsweise in der Vergangenheit häufig zu Missverständnissen geführt hat. Gleichzeitig kann durch diese Konzeptualisierung eine übergreifende und integrierte Sichtweise entwickelt werden, die später in praxeologische Entwürfe einfließen kann. Durch diese Gedankengänge wird verständlich, weshalb die psychodynamische Perspektive weiterhin in Heilungsprozessen wichtig ist und nicht durch eine spirituelle ersetzt werden kann. Entlang der Skizzierung einiger Leitlinien der transpersonalen Psychologie wird deutlich, wie beide Bereiche voneinander profitieren können.
Da der Zusammenhang zur Natur in der spirituellen Verfasstheit des Menschen stets implizit hergestellt ist, wird hier nicht explizit darauf eingegangen. Die Natur, die Welt und der Kosmos sind unausgesprochen in der Begriffsverwendung des »größeren Ganzen«, der »Totalität des All-Einen« oder der »grenzenlosen Verbundenheit allen Existierenden« stets mitbedacht. Menschsein ist immer auch Person sein, Geist sein, Seele sein, Leib sein, Natur sein, Welt sein und Kosmos sein. Heilung und Wachstum bedeutet deshalb, auf dem Wege zu sein, ganz zu werden, mit allen Aspekten des Lebendigen verbunden zu sein und zum Wesentlichen vorzudringen.
Wie sich der Stellenwert der Spiritualität veränderte
Vor etwa 35 Jahren entschloss sich ein junger Mann dazu, sich für eine psychotherapeutische Ausbildung zu bewerben. Er musste, wie es damals üblich war, Aufnahmeinterviews absolvieren. Im Verlauf des Gesprächs kam von einem Beisitzer die Frage auf, ob er religiös sei. Er antwortete etwas verschämt: »Ja, ich bin in einer spirituellen Gemeinschaft und wir meditieren regelmäßig.« Ergebnis des Aufnahmeinterviews: Angenommen, mit der Auflage, vorher 50 Stunden Einzeltherapie zu absolvieren, um die religiöse Abhängigkeit zu bearbeiten. Das Bedürfnis nach Spiritualität wurde als frühkindliche Sehnsucht nach einer heilen Welt pathologisiert und als eine Indikation für eine psychotherapeutische Behandlung gewertet. Der aufgeklärte, seiner selbst bewusste Mensch sollte autonom und unabhängig von etwas Größerem sein. Diese Interpretation spiritueller Einstellungen wurde vor allem durch Sigmund Freuds (1993) Werk »Die Zukunft einer Illusion« aus dem Jahre 1927 grundgelegt. Darin deutete er illusionäres Wunschdenken und kindliches Anlehnungsbedürfnis als die wesentlichen Motive religiöser Sehnsüchte.
Es kann nicht geleugnet werden, dass gerade eine dogmatische und zu Gehorsam verpflichtende Religiosität unverarbeiteten infantilen Schemata entgegenkommt. Die Abneigung gegen religiöse Gemeinschaften, ihre autoritären Methoden und Tabus wurden durch die aufgedeckten Missbrauchsfälle und ausbeuterischen Vorgehensweisen weiter verstärkt. Menschen in heilenden Berufen ist es zu verdanken, dass diese Form von Gewalterfahrungen in einer breiten Öffentlichkeit detailliert diskutiert wurde. Aber nicht nur sexuelle Übergriffe, sondern auch der unreflektierte Umgang mit Sünde, Schuld und Sühne hinterlassen gravierende Spuren in der Seele. In psychotherapeutischen Sitzungen musste daran gearbeitet werden, das schlechte Gewissen abzulegen und einem selbstbestimmten Weg zu folgen.
Um herauszufinden, wer wir wirklich sind, müssen wir unseren Blick in erster Linie nach innen wenden.
Was allerdings in dieser wichtigen Auseinandersetzung auffiel, ist die häufig identische Verwendung der Begriffe Spiritualität und Religion. Auch wenn es zwangsläufig durch die Verwandtschaft dieser Termini zu Überschneidungen kommt, erscheint es für ein übergreifendes Verständnis dieser Untersuchung sinnvoll, spirituelle Praxis und institutionalisierte Religionsausübung zu differenzieren. Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, die häufig schon mit der Geburt einsetzt, ist prinzipiell mit der expliziten Anerkennung eines Schöpfungsmythos und eines daraus entwickelten Sets von Regeln, Geboten und Verboten verbunden. Je mehr unumstößliche Glaubenssätze, Kritikfeindlichkeit, strenge Hierarchien, die Ablehnung Andersdenkender und sektiererisches Verhalten davon abgeleitet wurden, desto massiver entwickelten sich dysfunktionale und menschenverachtende Ideologien. Eine Neigung zu autoritären, moralisierenden, terrorisierenden und tabuisierenden Verhaltensweisen ihrer Anhänger war zwangsläufig die Folge.
Spiritualität, so wie sie hier vertreten wird, steht mit den Menschenrechten sowie einem humanistisch-emanzipativen Menschenbild im Einklang. Das Bedürfnis nach Spiritualität, das zumeist im Erwachsenenalter wach wird, geht mit der Suche nach einem tieferen Sinn des Lebens einher. Die Sehnsucht nach einem umfassenderen Verständnis von sich selbst und dem, was Leben bedeutet, spiegelt sich in der Frage: »Wer bin ich wirklich?«. Um darauf Antworten zu finden, ermutigen spirituelle Lehrer den Suchenden, in die Stille zu gehen, den Blick nach innen zu wenden und der eigenen Erfahrung zu vertrauen. Im Unterschied zu einem exoterischen Religionsverständnis sieht also der spirituelle Weg in der persönlichen Erfahrung die höchste Autorität. Natürlich kommunizierten auch spirituelle Richtungen ihre Erfahrungen in übergeordneten Denkfiguren. Diese sind aber so flexibel und offen gefasst, dass sich der Suchende darin frei bewegen kann. Der Begriff Spiritualität, wie er in dieser Untersuchung verwendet wird, stützt sich auf folgende Anschauungen:
Es gibt eine die Person transzendierende Wirklichkeit, die sie durchdringt und umfasst und in die sie eingebettet ist. Diese Wirklichkeitsebene wird unter anderem als das All-Eine, das größere Ganze, das Seinsganze, höhere Wirklichkeit, innere Weisheit, höheres (universales) Selbst, inneres Licht oder das Göttliche bezeichnet. Diese transzendente Wirklichkeit kann persönlich erfahren und dem bewussten Erleben zugänglich gemacht werden. Wenn uns dieses größere Ganze als zu uns gehörig gegenwärtig wird, erleben wir uns mit allem Existierenden verbunden. Diesen metaphysischen Zustand, in dem wir dem All-Einen in seiner Tiefe, Weite und Unendlichkeit begegnen, können wir gewahren, aber nicht gänzlich kognitiv erfassen. Da unser Bewusstsein einerseits davon durchdrungen ist und sich andererseits reflektierend darauf beziehen kann, können sich implizite Strukturen dieses erlebten Seinsganzen in repräsentierenden Bewusstseinsprozessen spiegeln. Die sich in uns zeigenden Inhalte erfahren wir als übergeordnete Sinngestalten, die durch die jeweiligen kulturellen Chiffren, persönlichen Schemata und sprachlichen Codes subjektiviert werden.
Da im Sein stets das »Zur Welt sein« (Merleau-Ponty, 1966) und das »Du« (vgl. Buber, 1979) mitvollzogen ist, wird mit Spiritualität auch eine besondere Art von Beziehung zu sich, zum Mitmenschen, zur Welt, zur Natur und zum Göttlichen beschrieben. Die Merkmale dafür sind: achtsam, mitfühlend, hingebungsvoll, authentisch und wahrhaftig. Wenn wir im Bewusstsein des All-Einen diese Art des Umgangs mit allem und jedem pflegen, werden wir gelassener, freudvoller, mutiger und zufriedener leben.
Die spirituellen Übungen wie etwa die meditative Versenkung unterstützen uns darin, dafür offener und durchlässiger zu werden. Wenn wir innehalten und beginnen loszulassen, was uns an der Oberfläche unseres Bewusstseins an Inhalten begegnet, kommen wir unserer Wesensnatur näher. Um herauszufinden, wer wir wirklich sind, müssen wir unseren Blick in erster Linie nach innen wenden. Der subjektive Erkenntnisweg, der uns über die Introspektion zum inneren Wissen führt, ist demzufolge im Bereich der Spiritualität das Mittel der Wahl. Die Meditation ist ein Weg voraussetzungsloser Seinserkundung, die ohne religiöse Deutungen einhergeht. Wenngleich in der Geschichte der modernen Psychologie der phänomenologisch-hermeneutische Zugang immer wieder in Kritik gerät, werden wir über die Bedeutung von inneren Zuständen, wie etwa dem Phänomen der Liebe oder in den großen Fragen des Seins, allein durch Laborbedingungen keine hinreichenden Antworten finden. Wissenschaftstheoretisch schließen sich subjektive und objektive Methoden in der Wahrheitsfindung keinesfalls aus, wenn die Fragestellung die Methode auswählt und nicht umgekehrt. Wollen wir also Einsichten in das Wesen des Menschen gewinnen, ist die kontemplative Selbstversenkung eine herausragende Möglichkeit. Dafür muss das Bewusstsein einen Schritt zurücktreten, also in eine Position des Bezeugens und Gewahrens eintreten.
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Tattva Viveka Nr. 101
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Schwerpunkt: Tabuthema Tod
Erschienen: Dezember 2024
Klemens J.P. Speer – Von den letzten und den ersten Dingen • Viktor Terpeluk – Nahtoderfahrung und Persönlichkeitsentwicklung • Bartosz Werner – »Heute ist ein guter Tag, um zu sterben.« • Philipp Feichtinger – Durch die Trauer zu einem erfüllten Leben • Irene Schneider – In Gemeinschaft vom Leben Abschied nehmen • Sophie Baroness von Wellendorff – Das Wunder der zwölf heiligen Rauhnächte • Teresa Brunnmüller – Fürchtet euch nicht • Dr. Sylvester Walch – Wege zur Ganzheit (1) • Christiane Krieg – Heiliger Kakao • Buchbesprechungen • u.v.m.
Zum Autor
Sylvester Walch, Dr. phil., geb. 1950, ist Ausbilder für Psychotherapie. Seit mehr als 25 Jahren verbindet er in seiner Arbeit Psychotherapie und Spiritualität. Er ist Gesamtleiter der Curricula für Transpersonale Psychologie, Holotropes Atmen und körperorientierte Verfahren. Er leitete über viele Jahre eine stationäre psychotherapeutische Einrichtung und hat Lehraufträge an verschiedenen Universitäten. Er verfasste zahlreiche Artikel und mehrere Bücher. Sylvester Walch verfügt über eine langjährige Meditationspraxis und entwickelte einen ganzheitlichen Weg, in dem seelische Heilung und geistige Praxis integriert werden.
Webseite: www.walchnet.de
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