Wirken aus der Ewigkeit – Teil 2

Wirken aus der Ewigkeit – Teil 2

Génesis – Die universelle Erfahrung der Schöpfung

Autor: Prof. Dr. Peter Hubral
Kategorie: Taoismus
Ausgabe Nr: 58

Im 1. Teil des Aufsatzes unterschied Hubral das gesellschaftliche Denken vom natürlichen Denken. In der Dao-Lehre ist dies mit den Begriffen You und Wuyou bezeichnet. Während das gesellschaftliche Denken auf den fünf körperlichen Sinnen basiert, entspringt das natürliche Denken aus der meditativen Versenkung im Nicht-Tun. Lesen Sie im 2. Teil, wie sich dieses ursprüngliche natürliche Wissen in den Weisheitskulturen der Menschheit auffinden lässt.

Ursprüngliches Wissen (gnósis)

Das ursprüngliche, natürliche Wissen kommt im Üben »aus sich heraus«. Es bedarf keiner Hypothese oder Lehre, jedoch eines Lehrers, so wie es Buddha in der Diamant-Sutra zum Ausdruck bringt: Der Dharma-Lehrer lehrt kein Dharma, was gleichbedeutend ist damit, dass er das Dharma (Weg) lehrt. Sein Weg basiert, so wie auch der Taiji-Weg, auf keiner Hypothese. Nur so genügt er dem Naturgesetz: Ruhe erzeugt Bewegung und Bewegung kehrt wieder in die Ruhe zurück. Platon in der Allegorie vom Seelenwagen: Jede Bewegung muss einen Anfang haben. Ein Anfang kann nur etwas Selbstbewegtes sein. Was selbstbewegt ist, wird erst im Nachhinein wahrgenommen. Da es mit den allmählich wiedererweckten Yang-Liugen im Üben erfahren wird, kann es vom Dharma-Praktizierenden nicht infrage gestellt werden. Es ist für ihn wahres Wissen, Weisheit des Herzens.

Hier ein Video von Prof. Dr. Hubral:

Es kann denjenigen, die diese Erfahrung nicht teilen, nur in Metaphern vermittelt werden. Dies sind Worte, die so wie alle Worte der zweiten Natur (You), also der Welt der Sprache, entnommen sind, obwohl sie auf die erste Natur (Wuyou) verweisen. Sie sind für diejenigen unverständlich, die nicht wissen, dass es Metaphern sind, und die Worte folglich wortwörtlich nehmen und sich sogar einbilden, sie würden sie verstehen.

Dazu zwei Beispiele. Das Platon-Zitat Die psyché ist im Körper (soma) eingesperrt erweckt z.B. den Eindruck, Platon sei leibesfeindlich. Das Gegenteil ist aber der Fall, denn Körper ist eine Metapher für das Sein (You). Wir sind also im Sein und nicht im eigenen Leib eingesperrt. Platon zeigt seinen Schülern den Weg da hinaus unter Einsatz ihres Leibes. Er ist also leibesfreundlich.

Dies zeigt auch das zweite Beispiel. Platon schreibt (Gesetze V, 727a ff): Nicht die psyché hat sóma (dem Sein) zu dienen, sondern sóma (der Leib, der im Taiji-Üben zum Einsatz kommt hat der psyché (hier: meditative Bewusstseinserweiterung, entsprechend dem Erwecken der Yang-Liugen) zu dienen; nur dann ist die Beziehung zwischen beiden gesund und steigert die wahre menschliche Eigenschaft, die Tugend.

Das ursprüngliche Wissen bedarf keiner hypothesenbasierten Vorgehensweise.

Heutzutage genügt jedoch für die meisten von uns die psyché im Zustand geistiger Aktivität (Youwei) dem mit den Yin-Liugen greif- und begreifbaren Sein (You) und nicht der Erfahrung in der Stille von Wuwei, der kreativen Wirkung (Wei) aus dem Unbekannten (Wu). Das gilt auch für die moderne Erforschung des Herzens auf der Basis der Yin-Liugen, der materiellen Sinne. Sie kann mit ihren Methoden, z.B. der Vivisektion, nicht das erfassen, was die Yang-Liugen in der Selbstbeobachtung in rigoroser Stille über das Herz und Bewusstsein erfahren lassen. Dazu zähle ich die Erfahrung von Qi und das dialektische Wechselspiel zwischen Youwei und Wuwei in den Yin- und Yang-Meridianen (vgl. Hubral 2012), das sich im dualen vegetativen Nervensystem widerspiegelt. Wuwei aktiviert den Parasympathikus und Youwei den Sympathikus, was jedoch die moderne Herzforschung (vgl. McCraty 2013) bisher nicht erkannt hat und auch nicht erkennen kann, weil sie sich auf die Yin-Liugen beschränkt.

Diese und unzählige andere Beispiele bestätigen die tiefgründigen Worte von Empedokles: Gleiches wird durch Gleiches erkannt. Was mit den Yang-Liugen erfasst wird, kann nicht mit den Yin-Liugen in Erfahrung gebracht werden.

So wie ein Blinder einen Sehenden nicht gänzlich verstehen kann, so kann auch das ursprüngliche Wissen nicht mittels des gesellschaftlichen erfasst werden. Dies versuchen jedoch Naturwissenschaftler, Interpreten und Kommentatoren am laufenden Band. Sie erkennen nicht, dass dies zu dramatischen Fehlinterpretationen führt. Dazu erneut Buddha aus der Diamant-Sutra: Alle konditionierten Wege sind wie Träume, Illusionen, Schatten, Tautropfen und Blitze und sollten so gesehen werden. Doch wer von uns akzeptiert dies schon?

Bettany Hughes schreibt z.B. in The Hemlock Cup: Wir denken so, wie Sokrates es tat. Sie zitiert den bekannten Satz von Sokrates: Das unerforschte Leben ist es nicht wert gelebt zu werden. Und schlussfolgert: Der Satz ist die Basis für unser modernes Leben. Ihre Behauptung ist eine gänzliche Verdrehung der Tatsachen. Sokrates hat das Leben nicht mit Youwei, sondern durch Üben mit Wuwei erforscht. Siehe dazu http://www.the-philosopher.co.uk/reviews/hemlock-cup-review.htm.

Es geht um das Erlangen des ursprünglichen Wissens, um die Erfahrung der Schöpfung.

Laozi, Pythagoras und Zhuangzi vermitteln ursprüngliches Wissen

Laozi schreibt über den mit Yang-Liugen erfahrbaren Schöpfungsverlauf von Wu zu You: Das Dao erzeugt Eins, Eins gebärt Zwei, Zwei die Drei und Drei die 10.000 Dinge. Es handelt sich bei den Zahlen um die Charakterisierungen der drei Welten. Diese haben Inhalte, die persönlich erfahren, aber Nicht-Praktizierenden nicht vermittelt werden können. Diese müssten erst ihre Yang-Liugen wiedererwecken, um zu erfahren, worum es geht. Pythagoras werden ähnliche Worte wie Laozi zugewiesen, die auf die gleiche meditative Erfahrung hinweisen (vgl. Aigmüller et al. 2010, S. 81).

Zhuangzi (ca. 365-290) deutet an, was sich hinter dem ursprünglichen Wissen, dem Wissen über die Schöpfung, verbirgt, das sich durch die Dao-Praxis persönlich erfahren (pathéin) lässt: Das Wissen der Alten ist perfekt. Wie perfekt? Zuerst wussten sie nicht, dass es Dinge gibt. Dies ist das vollkommenste Wissen, nichts kann hinzugefügt werden. Danach erkannten sie, dass es Dinge gibt, aber sie haben sie nicht unterschieden. Danach haben sie sie unterschieden, aber sie haben kein Urteil darüber gefällt. Als sie Urteile darüber fällten, wurde das Dao zerstört. Nachdem das Dao zerstört war, entstanden individuelle Präferenzen.

Ich bin sicher, dass der eine oder andere Leser erkennt, dass in den beiden letzten Zitaten der Übergang von Wu über Wuyou zu You angesprochen wird.

Platon nennt, ich wiederhole, den Wandel von Wu über Wuyou zu You Abstieg (katagogé) der psyché. Er geht einher mit dem Verlust der Yang-Liugen. Er lässt sich dank regelmäßigen Übens als Aufstieg (anagogé) der psyché erfahren. Dabei werden die Yang-Liugen wiedererweckt. Ich zitiere deshalb noch einmal Heraklit: Der Weg nach oben und nach unten ist ein und derselbe.

Einige Leser mögen bei Abstieg an Sündenfall denken, der Daoisten unvertraut ist. Diese sehen im Abstieg, dem Verlust der Yang-Liugen, nichts Negatives. Wäre der Mensch von Natur aus vollkommen, gäbe es für ihn keinen Anreiz zur Wahrheitssuche und Lebenspflege. Stellt beides nicht die interessantesten Aspekte unseres Lebens auf Erden dar?

Ein rein spiritueller Weg macht genau so wenig Sinn wie ein rein materieller.

Ursprüngliches Wissen bei Krishna

Vieles in der Yoga-Lehre erscheint im guten Einklang mit der Dao-Lehre (vgl. Selander 2012). Verweise darauf in den Upanischaden liefern die Worte neti, neti (Nicht, Nicht), avidya maya (gesellschaftliches Wissen), vidya maya (ursprüngliches Wissen), karma (willentliches Tun = Youwei = neikós) und akarma (Nicht-Tun = Wuwei = philía). Avidya maya wie auch karma fesseln den Menschen an die You-Welt (maya, Schein) und vidya maya und akarma helfen ihm, diese im Üben zu überschreiten.

In Kapitel 8, Vers 16 der Bhagavad Gita charakterisiert Krishna vier Kategorien von Menschen, die Wege zum Seelenheil suchen:

  1. diejenigen, die der Welt müde sind und den Schöpfer anbeten, um nach Erleichterung für ihr körperlich-seelisches Leid zu bitten. Auch diejenigen, die sich fürchten und sich von Ängsten befreien wollen.
  2. diejenigen, die ihre Zufriedenheit in weltlichen Dingen suchen, d.h. die den Schöpfer anbeten, um mehr Reichtum, Familienglück, Macht, Anerkennung usw. zu finden.
  3. diejenigen, die nach spirituellem Fortschritt suchen, um sich selbst zu realisieren.
  4. diejenigen, die den Weisheitsweg mit Hilfe des atman gehen.

Ich platziere die vierte Kategorie in den Bereich der ursprünglichen philosophía bzw. der Dao-Lehre, weil darin der Dao-Weg des rigorosen Nicht-Tuns angesprochen wird. Platon nennt ihn meléte thanátou, Praxis des Sterbens. Die Yoga-Lehre spricht vom »Weg des Erwachens mit atman«. Atman findet sein Äquivalent im Qi der Chinesen. Es ist ein Attribut von Wuyou. Das mit Yin-Wurzeln unfassbare, jedoch mit den Yang-Wurzeln fassbare atman wird allegorisiert, so wie Qi, durch Atem oder Odem. Auch Plotin spricht vom »Atem des Einen«.

Atman wird in der Yoga-Philosophie meist mit »innerem Selbst« übersetzt, was den Zusammenhang zum mit den Yang-Liugen spürbaren Qi im Üben kaum erkennen lässt, es sei denn, man hat persönliche Qi-Erfahrung mit dem »Weisheitsweg mit atman«. Auch in der Dao-Lehre kann Weisheit nur mit Qi erlangt werden. Diese Erfahrung haben für Krishna diejenigen, die er zur vierten Kategorie zählt: Nur einer unter vielen Tausenden sucht nach einem tiefen Verständnis der Schöpfung. Und unter diesen wird nur einer unter vielen Tausenden es finden.

Die drei ersten Wege, die Krishna nennt, sind in der Sprache der Taiji-Lehre Youwei-Methoden. Dazu zählen alle Disziplinen zum Vermehren des gesellschaftlichen Wissens genauso wie alle willentlich durchgeführten Übungen inklusive des stillen Sitzens, Kontrolle des Atems und Aufsagens von Mantren. Auch die Dao-Lehre bietet Youwei-Methoden an, um die Erfahrung von Wuwei zu unterstützen. Doch ihre Basisübung ist die formlose stille Stehmeditation unter Einsatz des Wuwei-Prinzips. […]

Lesen Sie den kompletten Artikel in der TATTVA VIVEKA 58

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Prof. Dr. Peter Hubral
Wirken aus der Ewigkeit.
Génesis – Die universelle Erfahrung der Schöpfung, 2. Teil

Im 1. Teil des Aufsatzes unterschied Hubral das gesellschaftliche Denken vom natürlichen Denken. In der Dao-Lehre ist dies mit den Begriffen You und Wuyou bezeichnet. Während das gesellschaftliche Denken auf den fünf körperlichen Sinnen basiert, entspringt das natürliche Denken aus der meditativen Versenkung im Nicht-Tun. Lesen Sie im 2. Teil, wie sich dieses ursprüngliche natürliche Wissen in den Weisheitskulturen der Menschheit auffinden lässt.
 

 

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6 Kommentare
  • Enrico A. Kern
    Gepostet am 18:30h, 11 Oktober Antworten

    Du hast getan was du konntest, hast gelassen was du wolltest, hast erlebt was du dir gewünscht hats, hast erfahren was du wissen wolltest… nun ruhst du ohne TUN ohne Denken im Sein… um dann wiederrum zu tun zu erleben zu erfahren zu erschaffen… sowas nennt man LEBEN. ~♥~

  • Silvia Hall
    Gepostet am 11:23h, 11 Oktober Antworten

    nur durch die selbst-erfahrung kommt der mensch zu selbst-erkenntnis , und diese entspringt aus der natürlichkeit des tiefen inneren wissens dessen WAS IST ♥

  • Sonja Hajdukovic
    Gepostet am 22:23h, 10 Oktober Antworten

    Wie: Natürlich schön und eben Maske.

  • Robins Uncleji
    Gepostet am 22:16h, 10 Oktober Antworten

    Zurück zur NATUR, …
    Bzw.
    Ich will zurück zu meiner Einheit ?

    • Silvia Hall
      Gepostet am 11:25h, 11 Oktober Antworten

      du bist schon dort, denn du bist ein teil der einheit ♥ dies ist zu erkennen

    • Robins Uncleji
      Gepostet am 18:42h, 12 Oktober Antworten

      Danke Silvia. Man sieht nur mit dem HERZEN gut, sagte der kleine Prinz : )

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