Wenn die Zeit verrückt spielt

Wenn die Zeit verrückt spielt

Außergewöhnliche Erfahrungen in der Zeitwahrnehmung

Autor: Dr. Marc Wittmann
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 103

Parapsychologische beziehungsweise paranormale Phänomene legen nahe, dass die vermeintlich festen Größen Zeit und Raum während dieser außergewöhnlichen Erfahrungen durcheinandergeraten und ihren bindenden Status verlieren. Erfahrungen wie die Präkognition, die den »Blick« in die Zukunft erlaubt, oder wenn sich Menschen mittels Retrokognition an vergangene Leben erinnern, zeugen davon. Wie können diese Phänomene methodisch erforscht werden und besteht ein Zusammenhang zwischen unserem Selbstgefühl und unserem Zeitgefühl? Der Psychologe und Hirnforscher Dr. Marc Wittmann gibt uns einen Einblick in die Erforschung von Zeitphänomenen, seine Arbeitsmethoden und vor welchen Herausforderungen die parapsychologische Forschung steht.

Tattva Viveka: Lieber Herr Wittmann, als Hirnforscher und Psychologe untersuchen Sie die »Zeitwahrnehmung« und das »Zeitbewusstsein«. Was genau wird dabei erforscht?

Dr. Marc Wittmann: Das unmittelbare Zeitgefühl, das wir jederzeit spüren können, bildet den Ausgangspunkt. Bei kürzeren Zeitspannen zeigt es sich etwa darin, dass wir ungeduldig werden. Zum Beispiel, wenn wir irgendetwas aus dem Netz herunterladen möchten und die kleine Sanduhr auf dem Bildschirm dreht sich. Was ist der Grund hierfür? Der Grund dafür ist, dass wir uns in diesen Momenten selbst spüren, und daher auch, wie die Zeit vergeht. Zeiterleben ist an unser Körperselbsterleben gebunden. Bei längeren Zeiträumen wird es schnell existenziell. Beispielsweise stellt man erschrocken fest, dass man bereits seit zehn Jahren am selben Arbeitsplatz arbeitet oder dass wieder Weihnachten vor der Tür steht und man damit verbunden das Gefühl hat, dass das Jahr, also die Zeit, schnell vergangen sei.

Allgegenwärtig von Sekunden bis hin zu Jahrzehnten erleben und spüren wir die Zeit, und entweder ist die Zeit gefühlt schnell oder langsam vergangen, was wir infolgedessen als negativ oder positiv bewerten. Grundsätzlich urteilen wir ständig über die Zeit, und diese Gründe für die veränderliche Zeitwahrnehmung untersuche ich. Dabei gehe ich der Frage nach, wie wir zu unserem Zeiturteil gelangen, denn die physikalische Zeit, gemessen an der Uhrzeit oder an den Kalendern, läuft immer gleich ab. Unser subjektives Zeitempfinden und unsere Urteile fallen jedoch unterschiedlich aus, abhängig von der Situation, meinen Gefühlen etc.

Der Grund dafür ist, dass wir uns in diesen Momenten selbst spüren, und daher auch, wie die Zeit vergeht. Zeiterleben ist an unser Körperselbsterleben gebunden.

TV: Wir möchten heute insbesondere auf die Beziehung von parapsychologischen Phänomenen und Zeitwahrnehmung/Zeitbewusstsein eingehen. In der Parapsychologie werden außergewöhnliche Erfahrungen genauer unter die Lupe genommen und viele dieser Erfahrungen hängen mit der Zeiterfahrung zusammen. Zum Beispiel die Präkognition, in der Menschen in die Zukunft blicken, oder wenn Menschen sich an vergangene Leben erinnern. Um zwei Beispiele zu nennen. Wie ist das Verhältnis von Zeitwahrnehmung und Parapsychologie?

Wittmann: Ich arbeite in drei Forschungsbereichen: Der erste Forschungsbereich ist die Grundlagenforschung, in der untersucht wird, welche Faktoren unser Zeitgefühl beeinflussen. Bestimmend sind zum einen die psychologischen Faktoren, zum anderen die dafür zuständigen Gehirnareale, welche die Zeit verarbeiten und uns somit zu unserem Zeitgefühl führen. Veränderte Bewusstseinszustände erforsche ich im zweiten Forschungsbereich. In diesem Kontext werden zum Beispiel erfahrene Meditierende und ihr Zeitempfinden während der Meditation https://members.tattva.de/prof-dr-martin-mittwede-meditation-und-spiritualitat-aus-sicht-des-ayurveda/ untersucht, wie etwa, wenn sie währenddessen das Zeitgefühl verlieren. In meinen neuesten Untersuchungen befinden sich die ProbandInnen in einem Floatation Tank (engl. to float – dt. schweben), in dem sie in quasi sensorischer Deprivation liegen, also beinahe gänzlich von Außenreizen abgeschottet sind. In diesen Floatation Tanks schwebt man in warmem Salzwasser, dort drinnen hört und sieht man nichts.

Floatation Tank
Floatation Tank

Die Körperwahrnehmung ist dabei zunächst besonders ausgeprägt. Aber ähnlich wie in der Meditation kann es mit der Zeit zu einem Verlust der Wahrnehmung des Körperselbst kommen und damit einhergehend verändert sich die Zeitwahrnehmung extrem.

Der erlebte Verlust des Körperselbst und der subjektiven Zeit könnte die Erfahrung von parapsychologischen Phänomenen erklären. Wenn ich zumindest phänomenal eins werde mit dem umgebenden Raum und die Zeit ihren Status der festgelegten Zeitfolge verliert, könnte dies der mögliche Mechanismus sein, um zu erklären, wie Menschen über den Raum und die Zeit hinweg außergewöhnliche Erfahrungen machen können. In meinem dritten Forschungsbereich untersuche ich diese außergewöhnlichen Erfahrungen, die zum Gebiet der Parapsychologie gehören. An dieser Stelle möchte ich ein paar Beispiele nennen: In der Präkognition habe ich Zugang zu Informationen oder Geschehnissen, die noch nicht stattgefunden haben. Oder ich weiß von etwas, das an einem anderen Ort stattfindet, wie beim Remote Viewing.

Zeit und Raum sind in unserem Alltagsverständnis feste Größen, an die wir gebunden sind, aber in veränderten Bewusstseinszuständen kann es passieren, dass Zeit und Raum plötzlich völlig verändert sind.

Zeit und Raum sind in unserem Alltagsverständnis feste Größen, an die wir gebunden sind, aber in veränderten Bewusstseinszuständen kann es passieren, dass Zeit und Raum plötzlich völlig verändert sind. Aus diesem Grund faszinieren mich veränderte Bewusstseinszustände.

Diese Effekte treten auch in Träumen auf, die ebenfalls stark veränderte Bewusstseinszustände sind und in denen Zeit und Raum komplett durcheinandergeraten können. Im Traum kann man beispielsweise auch Traumpräkognition erleben, also dass man etwas träumt, das am nächsten Tag real eintrifft. Die Krisentelepathie ist ebenfalls Teil dieses Erfahrungsspektrums. Hier spürt man plötzlich, dass einem geliebten Menschen etwas zugestoßen ist, wobei sich dieser an einem anderen Ort befindet, und doch nehme ich es wahr, als ob der Raum nicht mehr relevant sei. Zeit und Raum verlieren während diesen außergewöhnlichen Erfahrungen ihren allgemeinen Status.

In veränderten Bewusstseinszuständen, was ich in außergewöhnlichen Erfahrungen erlebe, verliere ich das Gefühl für mein Selbst und somit auch für die Zeit.

TV: Der Zeitverlust geht demzufolge mit einem Selbstverlust während veränderter Bewusstseinszustände einher. Wieso überkreuzen sich diese beiden Aspekte?

Wittmann: Das ist eine Frage für die Grundlagenforschung. Deswegen ist es wichtig, die drei Bereiche, die ich zuvor genannt habe, im Blick zu behalten: die Grundlagenforschung, veränderte Bewusstseinszustände im Allgemeinen und dann spezifisch, anomalistische oder außergewöhnliche Erfahrungen.

Grundsätzlich weiß ich aus Untersuchungen, die ich mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) durchgeführt habe, dass ein Bereich im Gehirn besonders wichtig für die Zeitwahrnehmung ist: die Insula. Gleichzeitig hat die Insula eine weitreichende Bedeutung für die Körperwahrnehmung, denn alle Signale des Körpers werden in der Insula aufgenommen, verarbeitet und dann weitergeleitet. Deswegen sind die Körpergefühle die Grundlage für unsere Emotionen. Wenn ich verliebt oder verärgert bin, spielt der gesamte Körper mit. Dies impliziert, dass die Insula sowohl für das Körpergefühl und die Emotionen als auch darauf aufbauend für die Zeitwahrnehmung zuständig ist. Dies wiederum erklärt, warum sich in bestimmten emotionalen Zuständen die Zeit und/oder die Körperwahrnehmung ändert. Langeweile führt uns zu einem langsameren Zeitgefühl, denn in der Wartezeit bemerke ich mich selbst besonders stark. In der Langeweile bin ich nicht von mir abgelenkt und dadurch habe ich das Gefühl, dass die Zeit langsamer vergeht. Zeit und Selbst sind stark miteinander verflochten, doch während veränderter Bewusstseinszustände, wie in der Meditation oder im Floatation Tank, lösen sich die Grenzen des Körpers und infolgedessen auch die Zeit auf. Wir verlieren unser Zeitgefühl. Das könnte eine Erklärung dafür sein, dass die Möglichkeit der Wahrnehmung jenseits von Zeit und Raum besteht. Wenn die Zeit nicht mehr die übliche Gültigkeit hat, können auch feste zeitliche Folgen wie zuerst t1 (mein nächtlicher Traum) und dann t2 (mein Erlebnis morgen) aufgelöst werden und ich empfinde jetzt im Traum das morgige Ereignis.

Ein weiterer faszinierender Forschungsbereich ist der der außergewöhnlichen Erfahrungen von Kindern.

TV: In spirituellen Kreisen sind Sätze wie »die Seele ist zeitlos« oder »Zeit ist eine Illusion« überaus beliebt. Aus dem, was Sie gesagt haben, lässt sich schlussfolgern, dass unser Verhältnis zur Zeit stark mit unserer Leiblichkeit zusammenhängt.

Wittmann: Genau. Im Alltagserleben ist die Zeit stark an unsere Körperlichkeit und Ich-Wahrnehmung gebunden. In veränderten Bewusstseinszuständen, was ich in außergewöhnlichen Erfahrungen erlebe, verliere ich das Gefühl für mein Selbst und somit auch für die Zeit. In der Traumwelt erleben wir dies alle, denn in diesen sind unser Selbst- und Körpergefühl massiv reduziert. Unser Erleben ist wie in einer Virtual Reality, die beinahe körperlos abläuft, wobei auch die Zeit verrückt spielen kann. Deswegen sind Träume so interessant für die Erforschung paranormaler Erfahrungen sowie für die Hirnforschung.

Menschen, die eine Nahtoderfahrung erlebt haben, berichten oft ebenfalls von völliger Zeitlosigkeit und völliger Selbstlosigkeit. Während dieser Ausnahmeerfahrung befanden sie sich anscheinend in einer anderen Sphäre, in der Zeit, Raum und Selbst plötzlich nicht mehr wichtig sind.

Tattva Viveka Nr. 103

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Schwerpunkt: Parapsychologie
Erschienen: Juni 2025

Dr. Dr. Walter von Lucadou – Parapsychologie: Ein Beitrag zur Bewusstseinsforschung • Prof. dr. Stefan Schmidt – Experimentelle Parapsychologie • Birgit Feliz Carrasco – Hellfühligkeit • Dr. Gerhard Mayer – Magick in der Praxis • Dr. Marc Wittmann – Wenn die zeit verrükt spielt • Astrid Gutowski – Widerstandskraft in herausfordernden Zeiten • Hajo Michels – Scheinheilig: Entlarve die Schattenseiten der Spiritualität • Armin Denner – Die Großen Tarot Arkana • Dr. Rüdiger Sünner – Orte, die zur Seele sprechen • Kevin Johann – Soma • Sophie Baroness von Wellendorff – Wenn Licht und Dunkelheit tanzen • Buchbesprechungen • u.v.m.

Zum Autor

Marc Wittmann studierte in Fribourg (Schweiz) und München Psychologie und Philosophie. Promotion 1997 und Habilitation 2007 an der Medizinischen Fakultät der LMU München in Humanbiologie. Von 2004 bis 2009 an der der University of California San Diego. Seit 2009 am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg.

marcwittmann.de

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