Bücher und Filme März 2023

Bücher und Filme März 2023

Gnostika 68. Die Zeitschrift für Symbolsysteme

Gnostika 68
Die Zeitschrift für Symbolsysteme

Archiv für altes Gedankengut und Wissen

hg. von Dr. Wolfram Frietsch unter Mitarbeit von Dr. H. T. Hakl
Jahrgangsband, 2022, 26. Jahrgang
Taschenbuch,
243 Seiten, 40,00 €
ISBN 9-783-937592-53-4

Seit 1996 sammeln die Herausgeber und mit ihnen verbundene AutorInnen hochkarätiges Wissen aus den Bereichen Gnosis, Hermetik, Okkultismus und Metaphysik. Ursprünglich erschien die Zeitschrift vierteljährlich, dann halbjährlich und nun einmal jährlich mit entsprechend höherer Seitenanzahl.

Jede Ausgabe beginnt mit einem weiträumigen und gut informierten Überblick zu Aktuellem, zu Tagungen und Projekten. Da zeigt sich schon, dass die Herausgeber sehr gut informiert sind und es erstaunt auch, wie viele Projekte oder Aktivitäten es zu diesen Themen in der akademischen Welt gibt. Die Herausgeber sind ja selbst Wissenschaftler, aber offen für die Transzendenz. Es ist ihr Anliegen, Spiritualität und Wissenschaft zu verbinden, und sie treten für einen seriösen Begriff der Esoterik ein, denn die ursprüngliche Esoterik im Sinne von innerem Wissen ist eine alte und kontinuierliche Tradition des Abendlandes, die immer schon als dritte Kraft neben Theologie und Aufklärung eine eigene Erklärung der Welt zur Verfügung stellte, aber bis dato mehr im Untergrund wirkte, da sie früher von der Theologie beziehungsweise den etablierten Kirchen genauso bekämpft wurde wie später von den agnostischen Wissenschaften.

Des Weiteren finden sich in der Zeitschrift ausführliche Artikel zum Thema. So etwa in der vorliegenden Ausgabe von Prof. Roland Pietsch je ein Artikel über Jakob Böhme und den ukrainischen Mystiker Hryhorij Skovoroda, oder etwa von Dr. Felix Herkert über den Orientalisten und Psychonauten Rudolf Gelpke. Immer wieder begegnen einem so regelrechte Juwelen, die bis dato in irgendwelchen staubigen Schubladen ein trostloses Dasein fristeten, weil niemand von ihnen wusste. Hier kommt bei den Herausgebern richtiger Forschergeist zum Ausdruck. Insbesondere Hackl, der Gründer der Zeitschrift, ist ein unermüdlicher Forscher, in unterschiedlichen Sprachen unterwegs und stolzer Eigentümer einer beeindruckenden Bibliothek, über die er auch vier Bücher herausgegeben hat. In dieser Bibliothek sind religionswissenschaftliche, philosophische und in besonderem Maße esoterische Titel gesammelt. Wolfram Frietsch wiederum hat auch schon in der Tattva Viveka zum Thema Rosenkreuzer (TV 15), Wissenschaft und Esoterik (TV 32) und Illuminaten (TV 46) publiziert und ist Autor zahlreicher Bücher, unter anderem auch eines zu Husserls »Krise der europäischen Wissenschaften«, das in dieser Tattva-Ausgabe ebenfalls besprochen wird.

Ein weiterer Artikel, der extra erwähnt werden sollte, ist der sehr fundierte Beitrag zu Julius Evola und Alistair Crowley von Hans Hackl. Es ist faszinierend, hier wissenschaftliches Handwerk mit Themen wie Magie und Esoterik kombiniert zu sehen. Des Weiteren findet man in jeder Ausgabe zahlreiche Buchbesprechungen sowie Texte aus dem Archiv, die teilweise faksimiliert abgedruckt werden.

Insgesamt also ein schier unendliches Kompendium des inneren Wissens, ganz viel aus der westlichen Tradition der Hermetik, Magie und der jüdischen Mystik, aber auch aus anderen Kulturen wie dem Sufismus oder den indischen Veden. Wer dann noch nicht genug hat, kann auf die Buchpublikationen zurückgreifen, die unter diversen Verlagsnamen auch von dieser Forschergruppe herausgegeben werden.

Ronald Engert

Thomas Metzinger: Bewusstseinskultur

Thomas Metzinger

Bewusstseinskultur
Spiritualität, intellektuelle Redlichkeit und die planetare Krise

Berlin Verlag, 2023
gebunden, 208 Seiten, 22,00 €

In einer historischen Epoche beispiellosen Scheiterns, in der allenfalls noch intelligentes Krisenmanagement und Schadensbegrenzung möglich sind, bedarf es nach Metzinger mehr denn je einer neuen Radikalität, eines radikalen Willens und Mutes zu Bewusstheit, Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Offenheit, ganz im Sinne einer Bewusstseinskultur, die aus einer Integration philosophischer, wissenschaftlicher und meditativer Praktiken erwächst und hier gleichsam als neue Leitkultur zur Befähigung eines lebensdienlichen Umgangs mit existenziellen Irritationen und Krisen gedacht ist.

Unter Bewusstseinskultur versteht Metzinger die kulturelle Umsetzung einer säkularen Bewusstseinsethik, basierend auf einem naturalistischen Menschen- und Weltbild. Dabei lautet die Leitfrage einer Ethik des Bewusstseins: Was ist ein guter Bewusstseinszustand? In einer Bewusstseinskultur richtet sich das vorrangige Bemühen darauf, die Bedingungen und Möglichkeiten wertvollen Erlebens zu erschließen, gleichsam die Mannigfaltigkeit des je eigenen Bewusstseinsraumes daraufhin zu erkunden, was gute, lebensdienliche Bewusstseinszustände auszeichnet, wie diese zu erreichen, kultivieren und enkulturieren sind, um von da aus ein bewusstseinsethisches und selbstbestimmtes Leben gestalten zu können.

Völlig neu ist die Idee einer Bewusstseinskultur nicht, sie findet sich in vielen Variationen in unterschiedlichen kulturellen und historischen Kontexten und bezeichnet ganz allgemein das Bestreben, Denk-, Fühl- und Verhaltensweisen so zu kultivieren, dass sie ein tieferes Selbstverständnis ermöglichen, um das eigene Leben und das Miteinander so sinnvoll und lebenswert wie möglich zu gestalten, auch in Abkehr von einem antiquierten sozioökonomischen Modell, das sich in konsumistischen Zwängen verliert. Bewusstseinskultur, wenn auch noch nicht als Leitkultur institutionalisiert, bezeichnet eine kulturelle Praxis auf individueller und kollektiver Ebene, die Zustände und Modi des Bewusstseins ihrer Mitglieder nach ethischen und empirischen Bewertungskriterien beschreibt, analysiert und die als wertvoll erachteten pflegt. Dabei ist entscheidend zu verstehen, dass eine Kultur des Bewusstseins antidogmatisch und antimetaphysisch ist, dass sie zu Mündigkeit und Selbstverantwortung aufrütteln will und damit in der Kontinuität des Projekts der Aufklärung steht, weit entfernt von esoterischem McMindfulness-Gedöns oder ähnlichem pseudospirituellen Lifestyle-Brimborium. Als besonders wertvoll erweist sich in diesem Zusammenhang, dass Metzinger seiner Leserschaft ein philosophisch differenziertes und substanzielles Instrumentarium zur resignifizierenden Aneignung des Spiritualitätsbegriffs anbietet, das diesen von eher folkloristischen Auslegungen entlasten soll, wie sie etwa vielen Anhängern irrationaler, antiszientistischer Glaubenssysteme oder von Selbstoptimierern im Zwangskorsett kapitalistischen Leistungsdrucks vertreten werden.

Eine solche bewusstseinskulturelle Strategie, so Metzinger, sei geeignet, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene zu greifen, unabhängig davon, welches globale Szenario eintrete. Neben ihren zahlreichen Anwendungsfeldern (zum Beispiel der Umgang mit Sterblichkeit, Sterben und Tod) könnte eine rationale Bewusstseinskultur einen subversiven Stachel darstellen, der die institutionell verankerten Religionen oder – als Hauptfaktor der planetaren Krise – das vorherrschende Vulgärmodell einer von Begehrlichkeiten perpetuierten und den Zwängen der Verwertungs- und Wachstumslogik unterworfenen Marktökonomie zu überwinden vermag. Eine Kultur des Bewusstseins, so betont Metzinger, erscheint darüber hinaus unverzichtbar, um Autonomie und Resilienz – mental wie politisch – zu erhalten, zu stärken oder überhaupt erst zu ermöglichen, sei es in gelingenden Phasen transformatorischer Umbrüche hin zu »grünem Schrumpfen« in den Industrieländern und »grünem Wachsen« in den Entwicklungsländern, sei es in Phasen anhaltenden Scheiterns. So könnte eine Kultur des Bewusstseins dabei helfen, die psychische Gesundheit (zum Beispiel Frustration, Apathie, Burnout infolge des Scheiterns) und das demokratische Gefüge nicht zu gefährden. Für Metzinger eröffnet gerade die Erfahrung reiner Bewusstheit – als Zustand oder Modus des Bewusstseins, dessen Erlangung wohl der Kernbereich jedweder bewusstseinskulturellen Praxis sein dürfte – die Möglichkeit, innere Gelassenheit, Mitgefühl und Offenheit gegenüber sich selbst und seinen Mitmenschen zu entfalten und so dem Leiden – gerade auch in einer nicht mehr abwendbaren Klimakatastrophe – mit mehr Resilienz begegnen zu können. In diesem Zusammenhang verdient Metzingers erweitertes Verständnis von Würde im Kontext eines ichlosen Selbstbewusstseins besondere Beachtung; es ist eine der subtilsten und berührendsten Reflexionen des Buches.

Mehr denn je sind wir auf neue Erlebens- und Lebensweisen angewiesen, die den Wachstumsimperativ aufheben und auch im Scheitern eine Stütze bieten, so Metzinger. Anstelle materiellen Wachstums strebt der bewusste, gewissenhafte Mensch – man könnte ihn »Homo consciens« nennen –, nach spirituellem Wachstum, beseelt von unbeirrbarem Erkenntniswillen, Rationalität, mentaler Autonomie, intellektueller Redlichkeit, einer bestimmten Form von Bewusstheit sowie Achtung und Mitgefühl für sich und andere, ohne sich dabei dem Rückzug ins Private zu überlassen. Unmissverständlich macht Metzinger deutlich, dass Bewusstseinskultur als antiautoritäres, dezentralisiertes, egalitäres und nicht zuletzt dem Prinzip Verantwortung verpflichtetes Unterfangen zutiefst sozial ist. Gleiches gilt für eine regelmäßige meditative Praxis, die nicht selten und völlig zu Unrecht mit einem klischeehaften Vorbehalt oder Vorwurf der Weltabgewandtheit begegnet wird. So kann bereits eine kurzweilige, aber regelmäßige Meditationspraxis (zum Beispiel eine formale, systematische und säkularisierte Achtsamkeitsmeditation) mentale Ressourcen bereitstellen (zum Beispiel wider die Aufmerksamkeitsökonomie), die entscheidend dazu beitragen können, die Bedingungen der Möglichkeit von Rationalität zu erfüllen und damit die Mündigkeit der Bürger, nicht zuletzt im Hinblick auf gesellschaftliche Partizipation, zu begünstigen. Metzinger argumentiert in überzeugender Weise, dass es sich bei der Ausübung meditativer Methoden (im umfassendsten Sinne) um eine epistemische, das heißt erkenntnisorientierte Praxis handelt, die wie die wissenschaftliche und philosophische Praxis auf Erkenntnisstreben, auf Wissen ausgerichtet ist und nicht auf bloßes Glauben. Metzinger bringt es auf den Punkt: Das Gegenteil von Religiosität ist Spiritualität. Die spirituelle Haltung im Allgemeinen ist, wie auch die Meditation als Methode spiritueller Menschen im Besonderen, auf Selbsterforschung und Selbsterkenntnis ausgerichtet.

Cyril Costines

Paramyjoti Carola Stieber: Mandala

Paramyjoti Carola Stieber

Mandala

Regie: Paramjyoti Carola Stieber
Film, 6:37 min, 2023

Dies ist ein Tanzfilm, dessen Kürze von nur sechseinhalb Minuten eine Dichte und Intensität gegenübersteht, wie sie ein Zwei-Stunden-Film wohl sonst kaum aufbringen kann. Wir tauchen ein in die Welt der Lebendigkeit und der göttlichen Liebe, in die Schönheit der Natur und des Tanzes. Ein Gedicht von Rumi trägt den Verlauf des Films, intoniert als Gesang und Musik von hypnotischer Qualität. Wir sehen neunzehn Frauen und zwei Männer, die in sufiähnlicher Kleidung tanzen und sich drehen. Der Film ist professionell und mit suggestiven Bildern gefilmt. Er trägt die ZuschauerInnen sehr schnell in einen anderen Bewusstseinszustand und gibt ihnen ein spirituelles Gefühl der Erhabenheit, der Schönheit, der Reinheit und der Gottesliebe. Es ist wunderschön, die Tänzerinnen und Tänzer anzuschauen. Auch eine junge Frau mit Down-Syndrom tanzt. Die zwei bärtigen Männer wirken sehr mit ihrer Anima verbunden und doch auch männlich.

Mandala ist ein Blick in eine neue Form von Mensch, getragen von dem höchsten Potenzial, das wohl in Menschen liegt: seine unmittelbare Lebendigkeit, die sich in dem ekstatischen Tanzen ausdrückt, in dieser Ästhetik und Schwerelosigkeit, wie Seelen, die fliegen können. Ja, hier verstehen wir, dass wir spirituelle Wesen sind, die eine körperliche Erfahrung machen. Dieser Körper gehört zu uns, und er ist unser heiliger Tempel. Aber er dient auch einer höheren Sache, dem Gebet und der Meditation über das Höchste. Dann erreicht unser Leben die Vollkommenheit und die unbändige Freude, die eigentlich unser Wesen sind. Der Film gibt Ermutigung und Inspiration. Er erzählt sehr kurz mit eindringlichen Bildern eine große Geschichte.

Am 1. April 2023 um 23:59h wird in Berlin im Kino Babylon die Premiere sein. Um den Film herum wird es an dem Abend Musik und Tanz geben, die Regisseurin Paramjyoti Carola Stieber und der Cinematograph Eckart Reichl werden zum Gespräch zugegen sein. Alle sind eingeladen, auf diesem Fest der Lebendigkeit mitzutanzen. Weitere Termine auf der Webseite: www.infinite.dance/mandala

Ronald Engert

Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie

Edmund Husserl

Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie/strong>
Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie

Felix Meiner Verlag, Hamburg 2012
Taschenbuch, 328 Seiten, 22,90 €

Die Verbindung von Wissenschaft und Spiritualität ist nicht trivial zu haben. Es reicht nicht, zu behaupten, dass Channeling Wissenschaft sei, bloß weil sich das seriös anhört. Wissenschaft hat heute immer noch weithin einen guten Ruf. Sie gilt als valide und vertrauenswürdig. Die meisten Menschen gehen immer noch davon aus, dass wir durch Wissenschaft echtes Wissen bekommen. Leider weicht diese positive Grundhaltung in jüngster Zeit zunehmend auf. Was die Welt der Religion schon vor 50 oder 100 Jahren in der Breite erfahren musste – eine grundsätzliche Infragestellung ihrer Wirklichkeitsangebote –, erreicht nun langsam die Wissenschaft. Es gibt gerade in der spirituellen Szene viele Menschen, die eine grundsätzliche Kritik an der Wissenschaft vorbringen, in dem sie zum Beispiel den Standpunkt vertreten, dass Denken und Theorie generell unzulängliche Unterfangen seien. Vielmehr ginge es um das Fühlen oder um die Praxis. Man lehnt das Denken rundweg ab und ist sich dessen sicher, dass die eigene Intuition und das Fühlen zu wesentlich wahreren Gewissheiten führen kann als die Wissenschaft. Gleichwohl lässt sich doch auch in der esoterisch-spirituellen Szene die positive Bezugnahme auf die Wissenschaft auf andere Weise fast flächendeckend beobachten. Wenn es der Promotion dient, verwendet man doch gerne das Etikett der Wissenschaftlichkeit. Dann werden plötzlich Aussagen der Quantenphysik als Beweis dafür genommen, dass wir uns die Wirklichkeit nach freiem Gutdünken erschaffen können, einfach durch das Denken.

Allen diesen ›wissenschaftlichen Beweisen‹ fehlt jegliche Grundlage. Es ist einfach nur Fürwahrhalten oder bloßes Meinen. Hier werden Glaubensbekenntnisse zu wissenschaftlichen Erkenntnissen umbenannt, um die gute Reputation der Wissenschaft abzugreifen. Das führt aber nicht nur zu einer Verballhornung der Wissenschaft und einer Schädigung ihres guten Rufes, sondern auch zu einer Zerstörung der esoterischen beziehungsweise spirituellen Reputation. Der große Kabbalist Eliphas Levi prägte den Spruch: »Um sie zu verbinden, darf man sie nicht vermischen«. Wir sollten Wissenschaft und Spiritualität nicht vermischen. Nur so können wir sie verbinden. Channeling, Bauchgefühle oder Intuition als Wissenschaft zu bezeichnen, führt zur Verwirrung und trifft weder auf die Wissenschaft noch auf die Intuition zu. Es ist nur eine babylonische Sprachverwirrung, hinter der Absichten des Egos versteckt sind. Man möchte sich aufwerten oder seriös wirken, man möchte als jemand wahrgenommen werden, der sich auskennt und alles weiß und die absolute Wahrheit erklären kann. Aber so einfach ist das nicht.

Wer wirklich wissen will, wie Denken funktioniert und wie man zu Wissen gelangt, sollte dieses Buch von Edmund Husserl lesen. Hier wird darüber gesprochen, was der Urboden unmittelbaren Wissens ist. Wie kommen wir zu echtem Wissen, das nicht von vorgegebenen Urteilen, Überzeugungen oder Stellungnahmen abhängt. Wie kommen wir zu einem Sehen ohne Vorurteil? Husserl zeigt, dass die ganze objektive Wissenschaft, aber auch die vorwissenschaftliche Lebenswelt auf vorgegebenen Setzungen aufbaut, Grundannahmen, die wir ungefragt akzeptieren und als gegeben annehmen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Er geht immer weiter zurück hinter diese Grundannahmen auf den tiefsten Grund einer möglichen Erkenntnis. Er nennt dieses Innehalten und Verzicht auf jegliches Urteil ›Epoché‹: Die radikale Reduktion auf das, was ich unmittelbar evident erkennen kann. Alles Denkbare, Fühlbare und Wahrnehmbare wird in seiner Seinsgeltung eingeklammert, in seiner Geltung suspendiert. Der Philosoph vollzieht diese Geltungen nicht mehr in der natürlichen Weise, wie wir es im Alltag und in unserem normalen Denken gewohnt sind. Er kann immer noch in diesen Gefilden denken, fühlen oder handeln, aber er verwertet es nicht mehr für seine Erkenntnis. Er betrachtet es nur wie ein Beobachter und sieht es als Phänomen. Daraus entwickelte Husserl die durch ihn bekannt gewordene philosophische Methode der ›Phänomenologie‹.

Im Grunde ist das, was Husserl beschreibt, das gleiche wie die Erleuchtung in den spirituellen Traditionen, nur etwas komplizierter formuliert, dafür aber auch gründlicher und genauer – und nicht vermischt. Wissenschaftlich ist eine Anstrengung des Begriffs notwendig, um diese Dinge zu erklären. Es ist anstrengend, es zu lesen, lohnt aber, weil es unser Denken und Erkennen trainiert.

Husserl erreicht eine Metaebene, nicht nur des Denkens, sondern des Bewusstseins, und damit erkennen wir die ganzen verschiedenen Ebenen, in denen sich uns Wissen offenbaren kann. Das stellt die Spiritualität keineswegs infrage, aber es macht uns etwas demütiger. Es macht uns fragender. Es ist ein großer Fallstrick des spirituellen Egos, dass es diese Weltformel zu haben glaubt, mit der man alles erklären kann. Es ist eine fast schon dümmliche Selbstgewissheit, die nur auf Glauben gründet, aber nicht auf Wissen. Am Ende ist es nur eine beliebige Meinung, die zum wissenschaftlichen Faktum hochstilisiert wird. Dass solche Menschen das nicht merken, ist die eigentliche Peinlichkeit: dass sie immer noch mit dem Brustton der Überzeugung unterwegs sind und denken, sie wüssten Bescheid, obwohl bei ihren geistigen Konstrukten noch nicht einmal das Denken wirklich begriffen ist. Die Frage, was Denken ist, ist Gegenstand der Philosophie. Die Untersuchung beinhaltet auch das Wahrnehmen, Fühlen, Wollen, Urteilen und Handeln und ordnet diese Bereiche in die Wirklichkeit ein. Sie zeigt ihre Konstellation. In der Epoché wiederum tritt man von der naiven Anwendung zurück und wird sich klar darüber, wie man diese Akte einsetzt und wie viel oder wie wenig sie mit der Wirklichkeit jeweils zu tun haben. Dann tritt vielleicht im besten Falle die Wirklichkeit vor unsere Augen, so wie sie ist. Das ist dann echte Erkenntnis. Ob das durch Fühlen, Denken oder Intuition zu uns kommt, bleibt sich gleich. Aber man weiß dann, was man tut.

Ronald Engert

Gerd Heinz Kumpf: Kultplätze und Heilige Berg im Odenwald

Gerd Heinz Kumpf

Kultplätze und Heilige Berg im Odenwald
Eine Materialschale Spurensuche

Kohlhammer, Stuttgart 2023
Taschenbuch, 214 Seiten, Abb., 33,00 €

Anlässlich unseres Göttinnen-Themas ist es eine schöne Synchronizität, dass gerade ein Buch über die matiarchale Kultur des Odenwalds herausgekommen ist. Ich muss dazu sagen, dass ich aus der Gegend komme und der Odenwald praktisch meine Heimat ist. Umso mehr erfreut es mich und umso besser kenne ich die Situation vor Ort.

Wenn man dort lebt, hört man eigentlich nie davon, dass es hier einst eine matriarchale Kultur gab, dass hier Quellheiligtümer existieren, Megalithanlagen, Kultplätze der Frühzeit, dass es hier früher eine Muttergöttin gab, die ›die weiße Frau‹ genannt wurde, dass es hier Geschichten von dem alten Volk, den Naturgeistern, den wilden Frauen, Hainzen, Elfen und Wasserfräulein gibt. Das ist heute alles unbekannt.

Der Vordere Odenwald und seine Neckar- und Main-Abschnitte sind seit bandkeramischer Zeit besiedelt – eine Epoche, die spirituell durch die Große Erd- und Muttergöttin geprägt ist – und weisen eine Vielzahl von Kultstätten zur Verehrung der Großen Mutter Mitteleuropas auf. Die Christliche Mission hat diese Kulte weitgehend umgewertet und christliche Kultorte, zum Beispiel Michaels-Patrozinien auf Wodansplätzen und Marien-Wallfahrtsstätten geschaffen, die die Region heute prägen.

Kumpf ist ein studierter Germanist, Geograph und Historiker und forscht zur Geografie und Geschichte des Odenwalds sowie der Nibelungensage. Kumpf bezieht sich auf die Methode der Landschaftsmythologie, die von Kurt Dehrungs entwickelt und von der Begründerin der modernen Matriarchatsforschung, Heide Göttner-Abendroth entscheidend ausgestaltet wurde. Insbesondere zwölf frühbesiedelte Berge des Odenwaldes mit großer spiritueller Bedeutung werden nach Form und Namen, Geländebeschreibung, Geschichte und Hinweisen auf Heiligkeit analysiert und i. S. d. matriarchalen Landschaftsmythologie gedeutet.

Das Rheintal und der vordere Odenwald sind heute eine wichtige Verkehrsachse, die sehr zentral gelegen ist. Man kann sich gut vorstellen, dass auch damals schon dieses Gebiet eine wichtige geographische Rolle spielte. Diese matriarchale Kultur liegt zeitlich noch vor den Kelten, Germanen und Römern. Es ist schön, dass wir hier nicht nur an ein altes, historisches Erbe, sondern vor allen Dingen auch an eine elementare Idee anknüpfen können, die unsere heutige Kultur dringend braucht: die heilige Erde, die vom Geist des Weiblichen beschützt wird.

Ronald Engert

Bildnachweis: © Adobe Photostock

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