Fürchtet euch nicht

Fürchtet euch nicht

Alexandertechnik und Spiritualität: eine Einladung zu Absichtslosigkeit und zum Ausschöpfen des Potenzials unseres Menschseins

Autor: Teresa Brunnmüller
Kategorie: Medizin
Ausgabe Nr: 101

Ein wichtiges Prinzip der spirituellen Praxis in vielen Traditionen ist die Absichtslosigkeit. Sie befreit uns von Anspannung und Sorgen, gibt uns mehr Handlungsoptionen und steht im Einklang mit dem Willen Gottes. Die Alexandertechnik beruht auf demselben Prinzip und gibt uns bei körperlichen Beschwerden heilsame Impulse.

Durch das innerliche Lösen vom Zweck, durch bewusstes Absichtsloswerden können wir eine neue Erfahrung machen.

Bekannt ist die Alexandertechnik als Methode, vorteilhaftere Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten zu entwickeln, um Leichtigkeit und Balance im Alltag zu erleben und von positiven Auswirkungen auf die eigene Gesundheit zu profitieren. Der gute Gebrauch des eigenen Organismus, des Selbst, steht im Mittelpunkt der pädagogischen Methode der Alexandertechnik. Sie umfasst den Körper und den Geist, die zum Loslassen eingeladen werden: nachteilige Gewohnheiten; überflüssige Muskelspannung und vorgefasste Denkkonzepte, Glaubenssätze.

Wirklich loslassen können wir nur das, was wir nicht mehr festhalten wollen. Erst wenn wir unsere Absichten, den Zweck unseres Tuns, für einen Moment hintenanstellen, dann können wir unsere Aufmerksamkeit der Tätigkeit selbst widmen. Und diese neu justieren – zum Beispiel uns von nicht benötigter muskulärer Spannung befreien. Durch das innerliche Lösen vom Zweck, durch bewusstes Absichtsloswerden können wir eine neue Erfahrung machen: nämlich, dass wir den alltäglichen Herausforderungen unseres Lebens nicht nur mit Spannung, großer Anstrengung oder Stress begegnen, sondern auch eine Strategie der Gelassenheit, Offenheit und des Vertrauens wählen können. Und dass sich das lohnt – geistig und körperlich.

You translate everything – physical, mental, spiritual – into muscular tension.
-F.M. Alexander

So laden Alexandertechnik-Lehrer weltweit ihre Schüler in einem ersten Schritt gewissermaßen dazu ein, eine absichtslose innere Haltung einzunehmen. Es ist dieser absichtslose Moment, der zum Dreh- und Angelpunkt einer vielschichtigen Veränderung wird, wie später noch weiter erläutert wird.

Diese Einladung zur Absichtslosigkeit in der Alexandertechnik ähnelt erstaunlicherweise der zentralen Gemeinsamkeit vieler spiritueller Wege: der Rücknahme des Ich-konstituierenden Wollens und dem Kultivieren einer absichtslosen inneren Haltung. Verschiedene spirituelle Richtungen legen zwar unterschiedlich formulierte Zielvorstellungen zugrunde. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass das Gehen eines spirituellen Weges von dem Üben im Einnehmen einer absichtslosen Haltung gekennzeichnet ist. Unabhängig vom Erfüllen der jeweiligen Zielvorstellung des Weges beschert das absichtslose Gehen dem Gehenden Schritt für Schritt einen nicht unansehnlichen Nebeneffekt, von dem er nicht erst in einem Jenseits, sondern im Hier und Jetzt profitieren kann – eine doch frappierende Ähnlichkeit von Alexandertechnik und Spiritualität.

Es ist, als ob sie uns zurufen: »Fürchtet euch nicht!« Ein Ruf, der zum Loslassen unserer rastlosen und sorgenvollen Zielstrebigkeit einlädt und zum Lösen von den damit einhergehenden spannungsgeladenen Strategien der Umsetzung. Er ermutigt uns zur Absichtslosigkeit und zum Einlassen auf einen neuen Weg, der so anders und doch verheißungsvoll ist – und nicht ohne (positive) Nebeneffekte bleibt.

Alexandertechnik und Spiritualität

So soll im Folgenden auf verschiedene Ausprägungsformen der Absichtslosigkeit eingegangen und aufgezeigt werden, dass und was wir – wie beiläufig – dadurch gewinnen können, dass wir etwas nicht mehr wollen. Um begriffliche Missverständnisse zu vermeiden: in diesem Text ist mit »Absicht« oder »Zweckorientierung« ein Modus gemeint, der auf ein (wie auch immer gelagertes) »Ziel« oder »Soll« fixiert ist und jegliches Handeln diesem unterordnet. Absichtslosigkeit hingegen zeichnet sowohl die Fähigkeit eines achtsamen Gewahrseins des Augenblicks aus, des »Ist«, als auch – und dahingehend unterscheidet sie sich von Ziellosigkeit –, dass das absichtslose Handeln gleichzeitig ausgerichtet ist auf ein mögliches Ziel. Priorität hat dabei jedoch nicht das Ziel, sondern der Weg, die Qualität des Augenblicks, des gegenwärtigen Handelns.

Alexandertechnik

Wie schon angedeutet kann die Alexandertechnik als kombiniertes Achtsamkeits- und Bewegungstraining bezeichnet werden, welches Menschen aufzeigt, wie sie nachteilige Haltungs- und Bewegungsgewohnheiten identifizieren und diese hin zu einem ganzheitlichen gesundheitsförderlichen Muster transformieren. Nachteilige Komponenten können dabei sowohl körperlicher Art sein, zum Beispiel eine übermäßige Muskelspannung, ein unsachgemäßer Gebrauch des Bewegungsapparats wie das Nicht-Benutzen von Gelenken und kompensatorische Überbelastung anderer Strukturen. Sie können auch geistiger Art sein, wenn wir über die vollständige Fixiertheit auf ein gewünschtes Resultat (das »Was«) die Qualität unseres Tuns (das »Wie«) ignorieren. All diese Aspekte können fester Bestandteil eines unbewussten Bewegungsmusters sein, das die reibungslose und selbständige Arbeitsweise unseres Organismus behindert, wovon irgendwann häufig Schmerzen zeugen.

Bewusste Absichtslosigkeit erfordert Bewusstheit.

Dass körperliche und geistige Prozesse menschlicher Aktivität Hand in Hand gehen, ist durch den Begründer der Alexandertechnik, F. M. Alexander (1869-1955) in seiner Tiefe erkannt und zum Ausgangspunkt seiner Methode gemacht worden. Vor über 100 Jahren hatte er die Entdeckung gemacht, dass seine Stimmprobleme auf den eigenen ungünstigen Gebrauch seiner Stimme beim Sprechen zurückzuführen war. In einem mehrjährigen Prozess der Beobachtung in Spiegeln und der Introspektion fand er zunächst muskuläre Spannungen, die den Sprechapparat beeinträchtigten. Richtunggebende Gedanken der Weite, Länge, Weichheit und Entspanntheit wirkten diesen Tendenzen entgegen. Später erkannte er, dass seine Muskulatur in dem Moment verkrampfte, da er im Geiste beabsichtigte zu sprechen. Erst als es ihm gelang, in diesem Moment innezuhalten und er die drängende Absicht, endlich zu sprechen, zurücknehmen konnte; er innerlich an dem Punkt war, dass er auch schweigen oder etwas völlig anderes hätte tun können, konnte er auf eine neue Weise sprechen, die ihm keine Heiserkeit mehr bescherte. Der Moment der Zurücknahme seines Wollens und das absichtslose Ausrichten auf begünstigende Tendenzen der Weite und Entspanntheit seines Sprechapparats stellte den Wendepunkt dar; den Moment, wo tiefgreifende Veränderung möglich wurde.

Absichtslosigkeit als Veränderung

Häufig motiviert Menschen der Wunsch nach einer künftigen Veränderung, beispielsweise nach einem besseren Gesundheitszustand, Erfolg, selbstbewussterem Auftreten, nach mehr Gelassenheit oder Ausgeglichenheit. So machen sie sich auf einen Weg, von dem sie denken, dass er zu dem gewünschten veränderten Zustand führt. Aus der Perspektive der Alexandertechnik ist die eigentliche Veränderung aber nicht erst ein neuer Zustand, sondern die neue Einstellung, die einen gewünschten Zustand eben nicht mehr herbeisehnt und unmittelbar zu etablieren beabsichtigt. Von seiner Zweckorientierung befreit ist der Blick nicht mehr fixiert auf diesen Zweck (endgaining), sondern offen, sich voll auf den Weg dahin einzulassen. Eine bewusst eingenommene absichtslose innere Haltung hilft uns, auf einen Stimulus nicht in der gewohnten (unbewussten und möglicherweise nachteiligen) Weise zu reagieren. Erst wenn wir für einen Moment nichts mehr bezwecken wollen, dann erkennen wir neben der einen, vermeintlich zweckdienlichen Reaktion weitere Handlungsmöglichkeiten und können bewusst wählen, wie wir eine bestimmte Bewegung ausführen oder ganz allgemein in einer gegebenen Situation handeln.

Alexandertechnik und Spiritualität

Ist es nicht logisch, was schon Einstein sagte? »Wir können unsere Probleme nicht mit dem gleichen Denken lösen, das sie verursacht hat«. Wo wir häufig so vieles beabsichtigen, zielstrebig erreichen oder vermeiden wollen und dabei mittelfristig weder gesünder noch glücklicher werden – warum probieren wir es nicht einmal ohne Wollen, mit Absichtslosigkeit? Für diese gedankliche und körperliche Kehrtwende sind Mut und Vertrauen nötig. Es ist die Aufgabe von uns Lehrenden der Alexandertechnik, unsere Schüler auf diesem Weg ins Neue, Unbekannte, zu begleiten. Sie einzuladen, gewohnte Anspannung loszulassen, um eine neue Erfahrung zu machen. Vielleicht zunächst der Orientierungslosigkeit und Fragilität. Aber schon bald der Lebendigkeit, Beweglichkeit und der entspannten Gelassenheit. Paradoxerweise ähneln diese neuen Erfahrungen häufig dem, was man zuvor so gerne zielstrebig und doch erfolglos erreichen wollte. Meine eigene Erfahrung mit der Alexandertechnik ließ mich genau dies erleben.

Bewusste Absichtslosigkeit erfordert Bewusstheit. Sie ist das immer wieder aufzufrischende Instrument, unbewusste nachteilige Gewohnheiten bewusst und tatsächlich durch vorteilhaftere zu ersetzen. Die ganzheitliche Entwicklung und Entfaltung von Bewusstheit ist der eigentliche Kern der Lehre von F. M. Alexander. Marjory Barlow, eine der von ihm in erster Generation ausgebildeten Lehrerinnen sagte in einem Gedächtnis-Vortrag zehn Jahre nach dem Tod Alexanders im Jahr 1955:

Alexanders Vision von der Möglichkeit der individuellen Entfaltung in der Entwicklung von Bewusstsein und wacher Bewusstheit war die stärkste Triebfeder seines Lebenswerkes. Es ist dieser Aspekt seiner Lehre, die ihn in die direkte Tradition der großen Menschheitslehrer stellt. Genau diese Seite seiner Lehre ist es, die so leicht verlorengehen könnte.
- Marjory Barlow

Tattva Viveka Nr. 101

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Schwerpunkt: Tabuthema Tod
Erschienen: Dezember 2024

Klemens J.P. Speer – Von den letzten und den ersten Dingen • Viktor Terpeluk – Nahtoderfahrung und Persönlichkeitsentwicklung • Bartosz Werner – »Heute ist ein guter Tag, um zu sterben.« • Philipp Feichtinger – Durch die Trauer zu einem erfüllten Leben • Irene Schneider – In Gemeinschaft vom Leben Abschied nehmen • Sophie Baroness von Wellendorff – Das Wunder der zwölf heiligen Rauhnächte • Teresa Brunnmüller – Fürchtet euch nicht • Dr. Sylvester Walch – Wege zur Ganzheit (1) • Christiane Krieg – Heiliger Kakao • Buchbesprechungen • u.v.m.

Zur Autorin

Teresa Brunnmüller ist Lehrerin der F. M. Alexander-Technik, studierte Kulturmanagerin und Vorstandsmitglied des Alexander-Technik-Verbands Deutschland e.V. Im Christentum verwurzelt hat sie sich seit 2020 eingehend mit Weltreligionen und der spirituellen Dimension der Alexandertechnik beschäftigt. Sie gibt Einzelstunden und Gruppenseminare, immer wieder auch in Klöstern.

Webseite: muehelosigkeit.de

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