03 März Wege zur Ganzheit (2)
Spiritualität und Psychotherapie im Dialog Teil 2
Autor: Dr. Sylvester Walch
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 102
Laut dem Autor, Psychotherapeuten und langjährigen spirituellen Praktiker Dr. Sylvester Walch ergänzen sich Spiritualität und Psychotherapie auf hervorragende Weise auf dem Weg zu Heilung und Ganzheit. Was dabei beachtet werden sollte und wieso eine spirituelle Praxis eine Psychotherapie nicht überflüssig macht, erfährst du im folgenden Beitrag.
Seelische Integration und Psychodynamik
Da sich viele Menschen gerade aus inneren Nöten heraus spirituellen Richtungen anvertrauen, soll an dieser Stelle eines ganz klar zum Ausdruck gebracht werden. Eine spirituelle Praxis macht Psychotherapie nicht überflüssig.
Trotz der Hochkonjunktur esoterischer, schamanischer und spiritueller Angebote landet man allmählich wieder auf dem harten Boden der Realität, nachdem überzogene Heilserwartungen enttäuscht worden sind. Man muss leider feststellen, dass die dauerhafte Veränderung von chronifizierten behindernden Lebensmustern nur sehr schwer gelingt. Es ist auch klargeworden, dass umfassende Bewusstseinsexperimente und langjährige Meditationspraxis alleine keine psychischen Probleme lösen können. Freimütig bestätigt das Ram Dass (1989), wenn er einräumt, dass er in der gesamten Zeit seines spirituellen Weges nicht eine einzige seiner Neurosen losgeworden sei. Es ist der Gefahr entgegenzutreten, dass sich hinter einer spirituellen Fassade eine einsame, an sich selbst leidende, Persönlichkeit verbirgt, die sich überdies dafür schämt und verachtet. Aus diesem Grunde bleibt die psychodynamische Perspektive immer aktuell und ist nicht mit dem Eintreten in eine spirituelle Praxis erledigt.
Psychische Probleme können, falls sie unbearbeitet bleiben, sogar spirituelle Prozesse nachhaltig behindern. Zum Beispiel berichtete ein Klient, der seit Jahren in einem Ashram lebt und sich regelmäßig den Übungen unterzieht, eines nachts von Selbstbefriedigung geträumt zu haben. Anschließend litt er unter Verfolgungs- und Bestrafungsfantasien, sobald er sexuelle Gelüste bekam. Das spirituelle Gebot, ein gutes Leben zu führen, wurde durch ein bestrafendes Über-Ich ersetzt. Anerkennung von spiritueller Autorität hat aber nichts mit Unterwerfung und Strafe zu tun. Gesunde Spiritualität ist auch eng mit der Bewusstmachung von Schattenaspekten verknüpft. Die mangelnde Integration des je eigenen Schattens kann folgende Auswirkungen haben: Rigidität, unbarmherzige Strenge, subtile Aggressivität, Fassadenhaftigkeit, Falschheit, Härte gegen sich und andere. Selbstdestruktive Askese, Kasteiung oder Selbstverletzungen, wie sie zum Beispiel in ekstatischen Selbstgeißelungsritualen vorkommen, sind extreme Formen eines Krieges gegen die Natur.
Ein offener Umgang mit Konflikten, Aggressionen und Sexualität ist unumgänglich, denn sonst entstehen Tabus, verdeckte Normen, ein Hang zur Harmonisierung von Widersprüchen und ein rigider Umgang mit Zweifeln. Das Eingeständnis von Zweifeln ist indes kein Zeichen von Schwäche, sondern eine Folge ehrlichen Interesses um innere Wahrhaftigkeit und für den spirituellen Weg außerordentlich wichtig. Wer das nicht beachtet, gerät in die Sackgasse der Abhängigkeit. Einer reifen Persönlichkeit, die in der Lage ist, autonom zu handeln und Verantwortung für sich zu übernehmen, gelingt es besser, spirituelle Erfahrungen zu integrieren und nicht abzuheben.
Eine spirituelle Praxis macht Psychotherapie nicht überflüssig.
Psychotherapie ist eine Hilfe auf Zeit, um seelische Bruchstellen zu heilen, psychische Blockierungen zu überwinden, zur Liebe zu befähigen und Lebensfreude zu empfinden. Spiritualität hingegen ist ein lebenslanger Entwicklungsweg, um dem Geheimnis des Lebens auf die Spur zu kommen und bedingungslose Liebe im Alltag zu verwirklichen.
Gerade am Beispiel der Liebe lassen sich auch die je verschiedenen Wirkungsbereiche von Psychotherapie und spiritueller Praxis differenzieren. Während Psychotherapie sozusagen auf den Nahbereich der personalen Liebe gerichtet ist, sollen die spirituellen Übungen dazu befähigen, diesen auf die transpersonale Erfahrungsdimension hin zu erweitern. Liebe als spirituell-transpersonale Erfahrung bewirkt damit eine Ausdehnung der Liebesfähigkeit. Im Alltag erleben wir dies zum Beispiel als Mitgefühl zu fremden Menschen vor allem dann, wenn uns tragische Einzelschicksale berühren oder wenn wir unter dem Eindruck von Katastrophen stehen. Wir öffnen unser Herz und sind bereit, zu helfen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Die segensreiche Wirkung des Mitgefühls strahlt dann auf uns selbst zurück, da wir im Nächsten auch jenen spirituellen Grund würdigen, aus dem heraus wir selber existieren.
In der Metta Sutra (Reuter, 2007, p. 17), einem zentralen Text des Theravada-Buddhismus, verheißt dieses voraussetzungslose Mitgefühl das »Weilen im Heiligen« und verbindet es mit der Erfahrung frühkindlicher Geborgenheit: »Wie eine Mutter mit ihrem Leben ihr einzig Kind beschützt und behütet, so möge man für alle Wesen und die ganze Welt ein unbegrenzt gütiges Gemüt entwickeln, ohne Hass, ohne Feindschaft, ohne Begrenzung.«
Niemand kann eine angemessene Beziehung zu seinem spirituellen Wesensgrund entwickeln, wenn darin nicht auch das Verhältnis zum Mitmenschen miteinbezogen ist.
Erich Fromm (1977, p. 70) hat diesen umfassenden Anspruch von Liebesfähigkeit vor dem Hintergrund der schrecklichen historischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts formuliert: »Nächstenliebe ist Liebe zu allen menschlichen Wesen; charakteristisch für sie ist das Fehlen der Ausschließlichkeit. Wenn ich die Fähigkeit des Liebens entwickelt habe, kann ich nicht umhin, meinen Nächsten zu lieben. In der Nächstenliebe liegt das Erlebnis der Vereinigung mit allen Menschen, das Erlebnis der menschlichen Solidarität und der menschlichen Einheit«.
Zwischen Ich und Du wird die Wesenseinheit zur erfahrbaren Wirklichkeit.
Zwischen Ich und Du wird die Wesenseinheit zur erfahrbaren Wirklichkeit. »Tat tvam asi« bezeichnet in den Upanischaden (Thieme, 1985) die höchste Stufe der menschlichen Erkenntnis: Dieses da bist du. Es ist die Einsicht in die Wesensidentität, durch die wir alle miteinander verbunden und vernetzt sind auf die Weise, dass nichts mehr für sich allein Bestand haben kann. Liebe in dieser umfassenden Sichtweise zielt auf die Vereinigung von Individualität und Universalität. Darin eben besteht ihre spirituelle Qualität, dass sie sich nicht ausschließend, sondern jeden Menschen, jedes Lebewesen, ja den Kosmos im Ganzen einbeziehend versteht.
Eine weitere Gefahr besteht darin, Spiritualität als Ersatztherapie anzusehen. Eine brüchige Persönlichkeit mit einem schwachen Ich wird darin in der Regel zuallererst Er-Lösung von außen suchen wie ein Süchtiger in einem Suchtmittel. Deshalb werden erfahrene spirituelle Lehrer einem Schüler mit emotionalen Störungen zwischenzeitlich eine Psychotherapie empfehlen, denn nur in einer authentischen Persönlichkeit kann sich eine authentische und lebensfördernde Spiritualität entfalten. Authentizität setzt Wahrhaftigkeit im Verhältnis zu sich selbst voraus. Wird das pathologische Material hinreichend bearbeitet, kann eine spirituelle Praxis zur Auflösung von alten Mustern und verfestigten Gewohnheiten hilfreich sein. Kommunikative Kompetenzen kommen besser zur Geltung, wenn die Strukturen der Persönlichkeit, aus denen unser Handeln entspringt, einerseits stabil und andererseits flexibel sind (Rudolf, 2006). Das ist aber nur dann möglich, wenn seelische Wunden geheilt, unbewusste Konflikte geklärt und die abgespaltenen Anteile der Seele wieder integriert werden. Dadurch entwickelt sich auch ein verfeinerter Spürsinn, der auf verkörperter Selbstwahrnehmung beruht (Fogel, 2013). Darauf aufbauend können sich Authentizität, Lebendigkeit und Empathie besser entwickeln.
Durch regelmäßige Einübung der Entidentifikation und Achtsamkeit, worauf in den spirituellen Wegen Wert gelegt wird, können gerade hartnäckige Fixierungen leichter durchbrochen und die bisherige Opferrolle kraftvoller überwunden werden. Da in der Meditationspraxis das nach Inhalten greifende Bewusstsein etwas zurücktritt und man sich auf den gegenwärtigen Augenblick fokussiert, treten etwaige Sorgen, Pläne oder Frustrationen, mit denen wir uns sonst intensiv beschäftigen, in den Hintergrund. Damit etabliert sich in uns ein Ort der Stille, der frei von alltäglichen Konflikten, Bewertungen und Erwartungen ist. Daraus entwickelt sich mit der Zeit eine inspirierende und heilende Quelle der Kraft, die uns besser erspüren lässt, was uns guttut und was schädlich für uns ist.
Gar nicht hoch genug einzuschätzen ist auch das heilungsfördernde Potenzial spiritueller Erfahrungen. Sie erwecken die Liebe zum Leben, das menschliche Mitgefühl und die Erfahrung der Geborgenheit im Größeren. Das Bedürfnis nach tiefergehenden Erfahrungen tritt meistens dann ins Leben von Menschen, wenn sie merken, dass sie das, was sie haben und was sie sind, nicht wirklich glücklich und zufrieden macht.
Die transpersonale Perspektive in der Psychotherapie
Abraham Maslow (1973, 1994), dessen »Psychologie des Seins« einen entscheidenden Einfluss auf das Entstehen der transpersonalen Psychologie hatte, untersuchte Menschen, die er als selbstverwirklicht einstufte und die von sogenannten peak experiences, also Gipfelerlebnissen, berichteten. Dabei kam er zu der Auffassung, dass jedem Menschen ein Bedürfnis nach Selbstverwirklichung innewohnt. Dieses ist nicht auf das persönliche Glück bezogen, wie es häufig missverstanden wird, sondern zielt mehr in Richtung Gemeinwohl. Maslow fand bei selbstverwirklichten Menschen heraus, dass bei ihnen Werte wie Menschlichkeit, Lebendigkeit, Wahrhaftigkeit, Offenheit, Güte und Ganzheit von zentraler Bedeutung sind. Darüber hinaus berichteten sie von Zuständen spontan erweiterten Bewusstseins, Energie- und Lichtphänomenen sowie dem Erleben transzendenter Verbundenheit, ähnlich den von Mystikern beschriebenen Einheitserfahrungen. Ferner hat Stanislav Grof (1985; Grof & Bennett, 1993) durch seine Arbeiten entdeckt, dass das Bewusstsein unter bestimmten Bedingungen in der Lage ist: » […] die gewöhnlichen Grenzen des Körper-Ichs sowie die Beschränkungen von Raum und Zeit zu überschreiten«.
In der transpersonalen Psychologie sah Maslow die vierte Kraft der Psychologie, neben Behaviorismus, Tiefenpsychologie und humanistischer Psychologie. Sie untersucht Erfahrungen, in denen der alltägliche Wachbewusstseinszustand transzendiert wurde. Ihr Kernanliegen ist es, sich an verborgene Lebensprozesse und die großen Fragen des Seins wieder heranzutasten, denen die herkömmliche Psychologie gewöhnlich ausweicht, um nicht als unwissenschaftlich zu gelten: Woher kommen wir und wohin gehen wir? Existieren wir in irgendeiner Form weiter – über den Tod hinaus? Welchen Sinn haben Krisen, schwere Krankheiten oder Katastrophen? Wozu leben wir und was macht das Leben lebenswert? In ihren Antworten stützt sich die transpersonale Psychologie dabei sowohl auf alte Weisheitslehren als auch auf moderne Bewusstseinsforschung. Ihr Verdienst ist es ebenso, den Dialog zwischen Psychotherapie und Spiritualität in Gang gebracht zu haben, um Menschen mit »spirituellen Krisen« und außergewöhnlichen Seinserfahrungen angemessen begleiten zu können. Für die transpersonale Psychologie ist der Mensch mehr als nur Persönlichkeit, Lebensgeschichte oder ein Ensemble von Rollen. Sie sieht ihn getragen von etwas Größerem und durchdrungen von dem grenzenlosen Einen.
Auch in vielen anderen Denkströmungen wie dem Taoismus, Tantrismus oder der universellen Mystik wird die singuläre, gänzlich untrennbare Totalität des All-Einen in allen Erscheinungen thematisiert (Quekelberghe van, 2005). Diese universale Dimension des Seins kann jedoch nur durch persönliche Erfahrung berührt werden. Wer erkennen will, wer er wirklich ist, muss die Tür nach innen aufstoßen. Für viele Mystiker ist der Weg nach innen der längste Weg, den es zu gehen gilt. Es ist ein steiniger Weg, der uns einiges abverlangt, denn es gilt zunächst, die vererbten und sozialisierten Fühl-Denkschemata (Ciompi, 1999) aufzubrechen, um das Umgreifende und das Dahinterliegende zu erspüren. Dabei können uns Techniken unterstützen, die erweiterte und veränderte Bewusstseinszustände hervorrufen. Das holotrope Atmen, von Stanislav Grof (1987) begründet, führt uns durch den Schirm des Alltagsbewusstseins hindurch, um Einblicke in tiefere Schichten der Existenz zu gewinnen und für die Wirksamkeit der inneren Weisheit empfänglicher zu sein.
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Tattva Viveka Nr. 102
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Schwerpunkt: Wiedergeburt – Kreislauf des Lebens
Erschienen: März 2025
Dr. Pim van Lommel – Bewusstsein jenseits des Körpers • Dieter Hassler – Reinkarnation unideologisch in ihrer Vielfalt untersuchen • Clara Welten – Spirituelle Reinkarnationsreisen • Marina Stachowiak – Das ungeahnte Erbe • Armin Risi – Bewusstseinswandel und »plötzlich große Klarheit« • Dr. Sylvester Walch – Wege zur Ganzheit (2) • Birgit Kayser – Spirituelles Burn-out • Armin Denner – Die Großen Tarot Arkana • Abbas Schirmohammadi & Philipp Feichtinger – Wer einen Baum pflanzt, wird den Himmel gewinnen • Sophie Baroness von Wellendorff – Wenn Licht und Dunkelheit tanzen • Buchbesprechungen • u.v.m.
Zum Autor
Sylvester Walch, Dr. phil., geb. 1950, ist Ausbilder für Psychotherapie. Seit mehr als 25 Jahren verbindet er in seiner Arbeit Psychotherapie und Spiritualität. Er ist Gesamtleiter der Curricula für Transpersonale Psychologie, Holotropes Atmen und körperorientierte Verfahren. Er leitete über viele Jahre eine stationäre psychotherapeutische Einrichtung und hat Lehraufträge an verschiedenen Universitäten. Er verfasste zahlreiche Artikel und mehrere Bücher. Sylvester Walch verfügt über eine langjährige Meditationspraxis und entwickelte einen ganzheitlichen Weg, in dem seelische Heilung und geistige Praxis integriert werden.
Webseite: walchnet.de
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