21 Nov Bei Weisheit geht es um eine gute Mitte
Autor: Christof Spitz
Kategorie: Spiritualität allgemein
Ausgabe Nr: 73
Christof Spitz hat das Weisheitstraining im Netzwerk Ethik heute mitkonzipiert. Weise ist für ihn ein Mensch, der ganzheitlich denken und dabei unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen kann. Diese Fähigkeit kann man erlernen, ist Spitz überzeugt.
Was ist für Sie eine gelungene Persönlichkeitsentwicklung?
Spitz: Unsere Entwicklung sollte nicht einseitig verlaufen und möglichst viele Aspekte integrieren. Für eine ausgewogene Persönlichkeitsentwicklung brauchen wir die Integration verschiedener Aspekte des Menschseins: Achtsamkeit ist für mich die Basis, damit wir überhaupt erst einmal mit unserem Körper, den Gefühlen und Gedanken in Kontakt kommen.
Aber wir wollen nicht nur beobachten, also quasi aus einer Distanz auf uns schauen, sondern unser Leben auch gestalten. Dafür ist die kognitive Auseinandersetzung mit Lebensthemen wichtig: das Nachdenken darüber, was für uns ein gutes Leben ist, welche Ziele wir haben und woran wir uns in unseren Entscheidungen orientieren. Hier ist die philosophische Praxis geeignet, die uns erst einmal hilft, Fragen zu stellen und denken zu lernen.
Weiter ist wichtig, dass wir unsere Beziehungen zu anderen Menschen pflegen, sei es in der Partnerschaft, Familie, auf der Arbeit oder in der Nachbarschaft. Hier erleben wir oft Missverständnisse, Frustration und Enttäuschung. Einer entfremdeten Kommunikation wirken wir entgegen, indem wir beispielsweise achtsam zuhören und sprechen lernen. Weise Menschen sind in der Lage, das, was sie bewegt, angemessen auszudrücken. Gleichzeitig können sie anderen frei von eigenen Projektionen zuhören.
Welche Erfahrungen machen Teilnehmer im Weisheitstraining?
Spitz: An den Feedbacks sehen wir: Die Teilnehmer gewinnen mehr Klarheit über sich selbst. Sie lernen, in ihrem stressigen Alltag Prioritäten neu zu setzen und erkennen deutlicher, was ihnen wichtig ist und was sie ggf. ändern wollen. Das kann zum Beispiel dazu führen, dass jemand seine Arbeitszeit verringern möchten und dies dann bei seinem Arbeitgeber zur Sprache bringt. Eine andere Teilnehmerin erinnert sich an den lang gehegten Wunsch, eine längere Reise zu unternehmen, und findet plötzlich Wege und Mittel, ihren Traum zu verwirklichen. Manche merken, wenn es um die Erkundung der Emotionen geht, wo sie festhängen und welche Hindernisse sie in sich selbst haben.
Was allen irgendwie bewusst wird: ihre eigene Verantwortung für ihr Leben. Sie verstehen, welchen Anteil sie selbst an ihrer Situation haben. Wir Menschen neigen ja dazu, andere für unsere und gesellschaftliche Probleme verantwortlich zu machen. Viele, die das Weisheitstraining machen, verstehen, wie sie durch eigene fixierte Sichtweisen und Wahrnehmungen in Schwierigkeiten kommen bzw. schwierige Situationen verfestigen. Das zu sehen ist ein großer Schritt, freier zu werden.
Kann ich mich als Teil eines größeren Ganzen sehen? Es gibt ja viele Workshops, Coachings und Trainings. Man hat oft den Eindruck, dass es darum geht, die eigenen Ziele besser durchzusetzen.
Spitz: Das mag sein, aber ich denke, dass es bei Weisheit um eine gute Mitte geht. Einige sind besonders stark darin, sich selbst und ihre Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen; sie brauchen ein Gegengewicht, dass sie sich auch mal zurücknehmen. Andere gehen immer nur nach dem, was andere von ihnen wollen; sie müssten erst einmal zu sich selbst finden und zu ihren eigenen Bedürfnissen stehen. Weisheit und Ethik gehören für mich zusammen. Wie gehe ich mit meinen Mitmenschen um, was ist meine innere Haltung? Kann ich mich als Teil eines größeren Ganzen sehen? Welche Verantwortung habe ich für die Umwelt, für das Klima? Welcher Lebensstil ist ethisch angemessen?
Was ist für Sie ein weiser Mensch?
Spitz: Unser Leben ist komplex. Alles, was wir tun, hängt mit anderem zusammen, auch wenn uns das nicht bewusst ist. Ein weiser Mensch ist für mich jemand, der um diese Vernetztheit weiß und klug damit umgeht. Ganz konkret: Wir müssen uns zu uns selbst verhalten. Unser Leben ist nicht vorgegeben wie bei einem Tier. Wir müssen etwas lernen und uns entwickeln, Entscheidungen treffen, einem Beruf nachgehen, uns für Ziele engagieren. Mit anderen Worten: unsere Potenziale als Menschen nutzen.
Wir leben im Verbund mit anderen. Wir sind Teil von Gemeinschaften, gehen Beziehungen ein und müssen das ausbalancieren mit unserem Leben als Individuum. Weise ist für mich ein Mensch, der sich in diesem Netz bewegen kann, ohne in die Extreme zu fallen, der ganzheitlich denken und dabei unterschiedliche Perspektiven berücksichtigen kann. Diese Fähigkeit kann man erlernen.
Das Interview führte Ina Heidemann.
Über den Autor
Christof Spitz ist der offizielle Übersetzer des Dalai Lama. Er ist seit 1979 Buddhist und war 13 Jahre Mönch (von 1981 bis 1994). Gründer des Netzwerks “Ethik heute”. Er hat das Systematische Studium des Buddhismus am Tibetischen Zentrum Hamburg mitkonzipiert und die schriftlichen Unterlagen aus dem Tibetischen übersetzt und aufbereitet.
Dieser Artikel erschien in der Tattva Viveka 73.
Alle Bilder: © Thomas Krenz
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