29 Mai Buchbesprechungen Juni 2022
Dass unsere kapitalistische Marktwirtschaft, unser politisches Regierungssystem und unsere sozialen Beziehungsstrukturen in einer tiefen Krise stecken, kann kaum noch wegdiskutiert werden. Statt Egoismus, Individualität und Konkurrenz müssen andere Lösungen gefunden werden. Doch: »Können Menschen miteinander kooperieren?« Diese Frage stellen sich Silke Helfrich und David Bollier in ihrem umfassenden Grundlagenwerk »Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons.« Sie fordern ein Umdenken auf gesamtgesellschaftlicher Ebene. Ein Miteinander, statt ein immer höher, schneller, weiter.
Commons, oder »Gemeingüter«, sind kleinteilige Selbstorganisationsstrukturen, durch die beispielsweise Lebensmittel angebaut und verteilt, Wälder geschützt, Wohnraum geschaffen, Menschen gepflegt oder gemeinwohlorientierte Kreditsysteme kreiert werden. Dabei ist Commoning ein lebendiger Prozess, in dem die Bedürfnisse der Menschen durch Selbstorganisation und Eigenverantwortung befriedigt werden. Das Commoning findet dabei in der »Triade der Commons« statt, die sich auf die soziale, politische und wirtschaftliche Sphäre bezieht. Als Schlüsselelement des Commoning sehen Helfrich und Bollier das Übertragen von echten Befugnissen an die Menschen, so dass sie ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen können.
Grundlage des Commoning bildet der Gedanke, dass unser Wohlergehen auch das Wohlergehen der anderen voraussetzt. Die Sozialwissenschaftlerin Helfrich und der Commons-Experte Bollier gehen unter anderem der Frage nach, ob wir als Gesellschaft die gegenwärtigen Probleme auf dieser Grundlage meistern können. Dabei stellen sie eine Vielzahl von Projekten vor, in denen der Keim der Transformation bereits sichtbar ist. Initiativen, Kooperationen, Genossenschaften, offene Werkstätten, Vereine oder Verbünde, allen ist gemein, dass sie ohne kommerzielles Interesse, jedoch bewusst selbstorganisiert sind.
Ob Weltverständnis, Menschenbild, Miteinander, Organisationsformen, Wirtschaften, Eigentumskonzepte und Besitz, das Verhältnis zum Staat oder die Gestaltung von Institutionen und Politik, Helfrich und Bollier entwerfen nicht weniger als ein neues Gesellschaftsverständnis und geben Mut, neue Wege zu wagen. Der Leser bekommt eine Handlungsanleitung, mit der er Transformationsprozesse anstoßen und alle Skepsis hinter sich lassen kann. Packen wir es an!
Stefanie Aue
Folgendes Poesiebüchlein passt hervorragend in diese Ausgabe, denn seine 38 Autorinnen und Autoren leben selbst in Gemeinschaften und Gemeinschaftsdörfern – insgesamt in 14 verschiedenen – und teilen in Form von Gedichten ihre Erfahrungen und Eindrücke im Spannungs- und Experimentierfeld »Gemeinschaft«. Jedes Gedicht regt den Lesenden zu einer Begegnung und Reflexion mit Poesie an, mit der Welt in einem selbst und um einen herum auf. Dabei wird der Lesende durch vier Dimensionen geführt: ich – du – wir – es.
Der Zusammenhang zum Kernthema ist wie so oft bei poetischen Texten mal stärker klar und deutlich, manchmal eher versteckt, und manchmal ist der Zusammenhang nur dem Autor oder der Autorin offenbart worden, wenn überhaupt. Dennoch schwingt in diesem Büchlein ein Gefühl von Verbundenheit, von Lebensfreude und Gemeinsinn mit, sowie die Absicht, die Schönheit der mannigfaltigen Erfahrungen und Perspektiven durch Worte und Buchstaben Beständigkeit zu schenken und andere daran teilhaben zu lassen. Obwohl die Gedichte für sich alleine stehen und sich nicht aufeinander beziehen, ergeben sie eine harmonische Gesamtkomposition. Neben Gedichten stoßen wir auch auf Haiku, die ursprünglich eine traditionelle, japanische Kurzgedichtform und von Schlichtheit und Einfachheit geprägt ist. Die Herausgeber waren nicht nur bei den poetischen Texten auf inhaltliche Ästhetik und Qualität bedacht, sondern auch bei der äußeren Gestaltung des Buches: gedruckt auf feinem Werkdruckpapier mit einem schlichten und dennoch expressiven Cover.
Die Auflage ist auf 500 Exemplare limitiert, und da jedes Buch eine fortlaufende Nummer hat, ist jedes Exemplar ein Unikat. Das Poesiebüchlein wird mit den kreativen biographischen Angaben aller Autorinnen und Autoren abgerundet, die weit über die Konvention dieser Angaben hinausgeht, über Beruf und Werdegang, sondern den Wesenskern der Dichtenden umfasst. Gedichte für Poesieliebhaber, Gemeinschaftsmenschen und alle, die sowohl von einem wie dem anderen nicht genug haben können.
Alice Deubzer
Heide Göttner-Abendroth studierte Philosophie und lehrte ca. zehn Jahren an der Universität. Sie traf dann im Jahre 1978 jedoch die Entscheidung, sich ganz der Erforschung des Matriarchats zu widmen. In ihr kommen zwei Einflüsse in einem äußerst kreativen Prozess zusammen: die Wissenschaft und die ganzheitliche Spiritualität, denn matriarchale Gesellschaften beruhen immer auf einer »sakralen Kultur […], in der das Weiblich-Göttliche das Weltbild prägt« (S. 23). Gleichwohl ist Göttner-Abendroths Arbeit der wissenschaftlichen Methode verpflichtet, und bringt auch eine Ideologiekritik zur Anwendung, die mehr als notwendig ist, wenn es um Fragen der Kulturgeschichte und auch der Archäologie geht. Die bisherige Forschung zu diesen Themen erfolgte nämlich aus dem patriarchalen Paradigma, und wurde – wen wundert’s – von Männern vorgenommen. So wurde auch das landläufige Verständnis des Matriarchats gerade als das Gegenteil des Patriarchats verstanden, nämlich als Herrschaft der Frauen analog zu der Herrschaft der Männer. Göttner–Abendroth macht jedoch deutlich, dass in matriarchalen Gesellschaften das Verhältnis zwischen Mann und Frau eher ein egalitäres ist, und keine Herrschaft im Sinne des Patriarchats zu finden ist.
In ihrer theoretischen Einleitung bezieht sie sich auch auf Fragen der post-kolonialen Studien und des Feminismus und macht deutlich, dass Imperialismus, Rassismus und Sexismus »auf allen Kontinenten indigene Männer und Frauen zu den ›Anderen‹ macht und sie in die Unsichtbarkeit und Unwirksamkeit stößt« (17). Dies ist in der modernen Forschung auch als ›Othering‹ bekannt, eine beliebte Methode, um auch spirituelle Kultur zu diffamieren. Sie wird einfach als das andere hingestellt, dass nicht dazu gehört und abgewertet wird. So sind auch Frauen »immer Fremde in einem patriarchalen System, immer unsichtbar, ungehört, immer die ›Anderen‹« (S. 16).
Zugleich überschreitet das matriarchalen Paradigma Auffassungen des Feminismus, die der europäisch-westlichen Denkweise verhaftet bleiben. »Die moderne Matriarchatsforschung bezieht sich dagegen auf das gesamte Gefüge einer Gesellschaft aus Frauen und Männern, aus Alten und Jungen und schließt das Verhältnis von menschlicher zu außermenschlicher Natur ein.« (S. 17)
»Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie« ist eine Aussage der Autorin, die auf recht prägnante Art ihr Denken auf den Punkt bringt. Sie will einen theoretischen Rahmen schaffen, um matriarchale Gesellschaft überhaupt zu erkennen und angemessen darstellen zu können, denn andernfalls wären wir hilflos den patriarchalisch geprägten sozio-kulturellen Wissenschaften ausgeliefert.
Notwendige Merkmale der Definition von Matriarchat sind die Matrilinearität und die ökonomische Verteilungsmacht der Mütter oder Frauen, bei gleichzeitiger Egalität der Geschlechter. Wir finden in Matriarchaten eine Ausgleichsökonomie, d. h. jeder bekommt das, was er braucht – was auch zu einer Ökonomie des Schenkens führt. Politisch ist es eine Konsensgesellschaft, und wie gesagt, spielt auch das Heilige eine wichtige Rolle. Dabei möchte Abendroth keine Idealtypen postulieren, denn das sei das alte Paradigma der traditionellen Philosophie und ihrem imperialistischen Wahrheitsanspruch. Vielmehr ginge es um eine offene Struktur, in der matriarchale Gesellschaftsformen in unterschiedlichen Gestalten auftreten und im fortlaufenden Forschungsprozess immer weiter ausgearbeitet und präzisiert werden.
Neben der Ideologiekritik bedarf es auch einer Interdisziplinarität, die »nicht weniger als sämtliche Sozial- und Kulturwissenschaften« (26) umfasst. Insofern ist die Erforschung des Matriarchats ein sehr ganzheitlicher Zugang, der auch für Wissenschaftstheorie und zeitgemäßes spirituelles Denken einen Beispielcharakter hat. Hier kommen nämlich viele Felder zusammen, die bisher im herkömmlichen Denken Gegensätze darstellten. Daraus kann sich im besten Falle »eine Neuinterpretation der menschlichen Kulturgeschichte entfalten« (30). Es ist auch die »Geschichte von unten« (31), eine »Geschichte der Frauen, der unteren Klassen, der indigenen Völker, d. h. der Subkulturen und Randkulturen« (ebd.).
Das dreibändige Werk, das von 1988-1999 erstmalig erschienen war, ist nun von der Autorin überarbeitet und aktualisiert worden und liegt in einer Neuausgabe vor. Es deckt in drei Bänden matriarchale Gesellschaften der Gegenwart und der Vergangenheit ab. Hauptinhalt sind die detaillierten Beschreibungen dieser Gemeinschaften rund um die Welt. Die Bände sind damit wohl das umfassendste Werk zum Thema.
Ronald Engert
Hubral ist den Leser:innen der Tattva Viveka, die schon länger dabei sind, gut bekannt. Vielfach publizierten wir Aufsätze von ihm. Nun hat er ein neues Buch in zwei Bänden veröffentlicht, indem er die von ihm gefundenen Zusammenhänge zwischen der griechischen Antike, dem Daoismus und anderen Kulturen vertieft und erweitert darstellt.
Sein Wissen kommt nicht aus dem kognitiven Studium der Schriften, sondern zunächst aus einer praktischen Körperübung aus dem Daoismus: das absichtslose Stehen und dem daraus von selbst emanierenden Bewegen (wuwei). Dies führt zu einem Wissen aus dem Inneren, das also nicht von außen angelernt ist, sondern auf der eigenen (spirituellen) Erfahrung beruht. Er nennt diese innere Wahrnehmung griech. sophrosyne, die zu episteme führt, im Dao Taijixue, die äußere Wahrnehmung griech. aphrosyne, die zu empeiria führt, im Dao Xing. Mit zahlreichen weiteren Begriffen aus den Traditionen erklärt er diese beiden Seiten des Wissens immer wieder in neuen Varianten. Grundsätzlich geht es darum, dass es ein wahres Wissen gibt, dass die ursprüngliche Wahrheit über die Wirklichkeit vermittelt, sowie ein geglaubtes Wissen, dass nicht unbedingt unwahr, so doch aber ein Wissen aus zweiter Hand ist, dass die Wahrheit nicht erreicht. Es ist also der Unterschied zwischen episteme und empeiria, Logos und Mythos, philosophía und Philosophie.
Interessanterweise ist bei ihm das empirische Wissen das geglaubte Wissen, das aus innerem Sehen und Wahrnehmen hervorgehende Wissen das wahre Wissen. Wieviele erkenntnistheoretische Implikationen dies hat, kann hier nicht ausgeführt werden.
Nach Hubrals Verständnis ist die heutige Wissenschaft vollständig auf dieser Seite des mythisch-empirischen Wissens, und ihm fehlt eine Ebene der Wirklichkeit. Vollständiges Wissen kann nur erreicht werden, indem man den Zugang zum Seienden, dass er unter anderem mit dem Logos identifiziert, öffnet. Logos bekommt hier eine andere Bedeutung als im empiristischen Denken. Das transzendentale Wissen nennt er auch das Schöpfungsprinzip. Im chinesischen heißt es Wu, im griechischen pneuma. So findet er in diesen beiden Kulturen sehr viele Parallelen und liest die griechische Antike ganz anders als man es aus der gewöhnlichen Philosophie kennt. Nach seinem eigenen Bekunden war ihm dies nur möglich durch seine Dao-Praxis, die er bei dem Meister Fangfu erlernte. In diesem Band nun erweitert er seine Forschungen auch auf die islamische Mystik, die Veden und den biblischen Paradiesmythos. Alle diese Überlieferungen werden in sein vollständiges System eingeordnet und ergeben erstmals einen einheitlichen Sinn.
Insofern kann man schon davon sprechen, dass Hubral eine ganz besondere Entdeckung gemacht hat. Natürlich sagen viele spirituell bewegte Menschen, dass alles eins ist, und in jeder Kultur im Grunde das gleiche gesagt wird. So etwas ist schnell behauptet. Wenn es nicht belegt ist, bleibt es jedoch Beliebigkeit. Hubral dagegen steigt tief in die Überlieferungen ein, studiert die Originaltexte und übersetzt sie neu. Jede Übersetzung ist so gut wie der Übersetzer und sein Wissen, deshalb kann nur ein Mensch, der selbst das innere Wissen erfahren hat (wuwei, philia, brahman etc.), die Texte richtig verstehen.
Hubral leistet diesen Dienst unermüdlich und beschreibt die, wie man durchaus sagen darf, richtige Ordnung in immer neuen Perspektiven. Damit schreitet er vom geglaubten Wissen (doxa) zum wirklichen Wissen (episteme) fort. Dieses echte Wissen ist von unschätzbarem Wert und unbedingt notwendig, wenn unsere Welt weiter existieren soll. Hätten die Menschen dieses Wissen, dann würden sie auch keine Kriege mehr führen, denn dann ginge es nicht mehr um Sieger und Verlierer.
Ronald Engert
Dieses Buch ist eine Dissertation im Fachbereich Ethnologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und wurde dort als Doktorarbeit angenommen. Das Besondere daran steckt bereits im Untertitel: es geht um ein sakrales Thema, oder, wie die Autorin auch durchaus nicht verschweigt, um eine spirituelle Thematik. Dies ist bemerkenswert, da Spiritualität in den Wissenschaften sehr stark diskreditiert wird. Insofern ist das Buch auch eine Pionierarbeit, was die Integration von Wissenschaft und Spiritualität betrifft.
Thema ist eine afro-brasilianische spirituelle Tradition, die Umbanda, die einige Ableger im deutschsprachigen Raum haben. Die Autorin untersucht diese Gruppierung, in der sie auch selbst praktiziert. Dabei geht es zum Beispiel um die Frage, wie eine solche Tradition aus einem anderen Kulturkreis in einer deutschen Umgebung möglich ist. Der Begriff der Sakralen Globalisierung wird mit den Konzepten der postkolonialen Studien in Verbindung gebracht: „Zentral in dieser Analyse ist das Verständnis von Spiritualität, ihrer Vorstellungswelten und einer Dekolonialisierung des Denkens nach Walter Mignolo als einer Form von innerer Globalisierung“ (34). Unter anderem ist es ihr auch ein „Anliegen, Trance als religiöse und emotionale Erfahrung zu ent-exotisieren und durch den Begriff der ›BeGeisterten Wahrnehmung‹ anschlussfähig für Erfahrungswelten im westeuropäischen Raum zu machen. Diesen religiösen Emotionspraktiken, die auch Liebe beinhalten, sollte hierfür ein Raum geöffnet werden.“ (39) Sie akzeptiert als real auch „nicht-menschliche Akteur:innen (den spirituellen Entitäten)“ (32).
Die Ablehnung der Spiritualität durch die Wissenschaft erscheint hier als eine Form des Kolonialismus, in der andere spirituelle Traditionen und Spiritualität überhaupt als das Andere und Fremde (›Othering‹) abgewertet wird, Spiritualität wiederum als Auflehnung gegen diesen Kolonialismus.
Bei Spiritualität handelt es sich um transnationale und interkontinentale Prozesse, die nicht nur afroamerikanische Religionen betrifft, sondern generell ein Phänomen der Neuzeit ist. Tatsächlich gibt es eine aktuelle religiöse bzw. sakrale Globalisierung, die sich auf eine „transnationale Transzendenz“ (55) bezieht, die durch Migration, Mobilität und Medialität geprägt ist. Dies geht weit über die hegemoniale Religionspraxis der abrahamitischen Religionen hinaus.
Als wissenschaftliche Arbeit ist das Buch nicht immer leicht zu lesen. Es enthält aber viele Anregungen und ist auch theoretisch auf der Höhe der Zeit.
Ronald Engert
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