Die Soziologie in der »Wissensgesellschaft«

Die Soziologie in der »Wissensgesellschaft«

Zur Unterscheidung von Wissensformen als Voraussetzung wissenschaftlicher Erkenntnis

Autor: Prof. Dr. Dr. Robert Hettlage
Kategorie: Soziologie
Ausgabe Nr: 53

Die Soziologie war lange Zeit eine Wissenschaft, die stark an die Philosophie und die „Fragen des Guten Lebens“ angebunden war. Mit dem Aufbrechen der positivistischen (Natur-)Wissenschaften sah sich die Soziologie gezwungen sich stärker an deren „harten“ Methoden zu orientieren und vergaß ihr Erbe. Robert Hettlage kontrastiert in diesem Kontext die unterschiedlichen Formen des Wissens, ihr Gehalt und vor allem das Problem moderner selbsternannter „Wissensgesellschaften“ nur eine Wissensform, die positivistische, als „Wissen“ schlechthin geltend zu machen.

Die moderne Gesellschaft sonnt sich derzeit in der Meinung, sie sei nun endlich (natürlich »unumkehrbar«) eine »Wissensgesellschaft« geworden. Von früheren Gesellschaften würde sie sich dadurch abheben, dass alle gesellschaftlichen Sektoren von wissenschaftlichem Wissen durchdrungen seien (Stehr). Dieser Feststellung kann man in ihrer Allgemeinheit durchaus folgen, sie lässt bei genauerer Betrachtung aber mehr Fragen offen, als das Konzept zu beantworten vorgibt. »Wissensgesellschaft« zu sein, gibt nämlich keine Antwort auf die Frage, mit welchem Verständnis von Wissen sie arbeitet.

Die Soziologie in der »Wissensgesellschaft«

1) Sie sagt uns nicht, was (relevantes) Wissen ist, welche Arten von Wissen gemeint sind und ob nur wissenschaftliches Wissen den Anspruch von »Wissen« aufrechterhalten kann. Die ständige Verkürzung der Halbwertzeit etwa des naturwissenschaftlichen Wissens mahnt hier zur Vorsicht. Handelt es sich dabei um einen Wissensbestand oder nur um ein hypothetisches Wissen, das dem Prozess der ständigen Umarbeitung unterliegt? Unser angeblich fester, unumkehrbarer Erkenntnisstand wäre dann aber vom Muttermal der Vorläufigkeit gezeichnet. Im Rückblick käme er dem derzeitigen Stand des Irrtums gleich. Egal ob der Erkenntnisprozess eher auf theoretisches oder auf praktisches Wissen zielt, das angeblich sichere Wissen erweist sich mit einem zeitlichen Abstand meist als höchst unsicher, einseitig, veraltet und landet auf dem Friedhof ehemaliger Wahrheiten. Das zu wissen, ist manchmal recht heilsam.

2) Offen bleibt auch, wer ein solches Wissen besitzt und auf welchem Weg man es erwerben kann. Damit werden gewichtige Methoden- und Vermittlungsfragen aufgeworfen. Denn es könnte sein, dass wir mit dem Konzept »Wissensgesellschaft« ein Vorurteil verfestigen, das »den im akademischen Milieu akkulturierten und mit Bildungstiteln dekorierten Kopfarbeiter zum Idealmenschen unserer Zeit kürt« (Hirschi 2012:5). Wird hingegen ein breiteres Verständnis von Wissen zugrunde gelegt, das z.B. auch das »Alltagswissen«, das Funktions- und Rezeptwissen einschließt, dann erweist sich die Aussage, unsere Gesellschaft sei »wissensbasiert« als »etwa so spezifisch wie die Feststellung, sie beruhe auf geschlechtlicher Fortpflanzung« (ebenda).

Erst durch Theorie wissen wir, was wir beobachten wollen.
– Albert Einstein

3) Der Begriff »Wissensgesellschaft« verhüllt auch, dass damit zu großen Teilen ein Spezialistenwissen gemeint ist, das für die Mehrheit der Menschen direkt gar nicht erreichbar ist. Es beruht also auf einer gehörigen Portion von Vertrauen in das Wissen anderer, eben der sog. Experten. Schon seit einiger Zeit haben uns die Erkenntnistheorie und die Wissenssoziologie darauf aufmerksam gemacht, dass Wissenschaft oder genauer: der Erwerb von Expertenwissen weder wertfrei noch gänzlich »objektiv« verläuft. Auch Experten sind allemal Menschen und unterliegen als solche den gesellschaftlichen Voraussetzungen ihres Handelns. Nicht weniger als andere reagieren Experten u.a. auf den Mechanismus von Macht und Reputation und auf die Zwänge der Hierarchie.

4) Schließlich transportiert die »Wissensgesellschaft« eine optimistisch-evolutionistische Glaubensüberzeugung, dass man nämlich die Geheimnisse der Welt schon alle knacken werde, wenn man immer nur auf dem Weg der naturwissenschaftlich-objektiven, auf universale Gesetzmäßigkeiten ausgerichtete Methodologie weiterschreite. Immer mehr vom gleichen Wissenstypus verschaffe ein allgemein höheres Wissensniveau, das die Menschen aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit« befreien werde. Ausgeblendet wird meist, dass man auch »immer mehr über immer weniger« wissen kann, während die großen Fragen der Praxis, also des Wissensgebrauchs, der Lebensführung, des sittlich guten Lebens in der Gesellschaft (nicht nur des Überlebens) als »unwissenschaftlich«, als mythische, »große Erzählungen« und/oder metaphysische Überzeugungen der veralteten, unaufgeklärten (vormodernen) Art ausgeblendet bleiben. Sie gelten als irrelevantes, diffuses »Privatwissen«. Sind wir seit Sophokles, Sokrates und Aristoteles um »2500 Jahre dümmer … Oder sind sie 2500 Jahre klüger?« (Becker 2012) Heute hat man eher den Eindruck, als sei man in vielen wesentlichen Fragen nicht wirklich vorangekommen, ja vielleicht sogar »devolutionistisch« abgestiegen, also eine »Nichtwissens-« oder sogar »Wissensverlustgesellschaft« geworden ist.

Die Soziologie in der »Wissensgesellschaft«

Diese vier Fragenkomplexe zeigen uns schon, wie voraussetzungs- und folgenreich ein bestimmtes Vorverständnis von Wissen und Wissensgesellschaft sein kann. Das geht auch die Geistes- und Sozialwissenschaften an. Die Geschichte der Soziologie etwa ist bis in unsere Tage hinein kaum zu verstehen, wenn man sie nicht auch als kontinuierliche Auseinandersetzung mit den so erfolgreichen Naturwissenschaften um die »richtigen« Erkenntnismethoden und -ziele begreift. Auch die engagiertesten Aufklärer dürfen sich nicht gegen (Selbst-)Aufklärung immunisieren. Das soll im Folgenden näher betrachtet werden. […]

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Zur Unterscheidung von Wissensformen als Voraussetzung wissenschaftlicher Erkenntnis

Die Soziologie war lange Zeit eine Wissenschaft, die stark an die Philosophie und die „Fragen des Guten Lebens“ angebunden war. Mit dem Aufbrechen der positivistischen (Natur-)Wissen-schaften sah sich die Soziologie gezwungen sich stärker an deren „harten“ Methoden zu orientieren und vergaß ihr Erbe. Robert Hettlage kontrastiert in diesem Kontext die unterschiedlichen Formen des Wissens, ihr Gehalt und vor allem das Problem moderner selbsternannter „Wissensgesellschaften“ nur eine Wissensform, die positivistische, als „Wissen“ schlechthin geltend zu machen.
 

 

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