Normopathen, Gehirnwäschen und Anti-Kult

Normopathen, Gehirnwäschen und Anti-Kult

Sekten und Sektenmacher

Autor: Dr. Gerald Willms
Kategorie: Soziologie
Ausgabe Nr: 54

Menschen verfolgen und ächten Menschen, seit es die menschliche Kultur gibt. Misstrauen, Feindseligkeitserwartung und die Verfolgung Andersgläubiger haben eine jahrtausendealte Tradition. Der Kultur- und Religionssoziologe Willms beleuchtet in diesem Beitrag das Sektenphänomen nicht von der sensationsheischenden Perspektive des Boulevard-Journalismus, sondern bemüht sich um eine nüchterne Einschätzung. Er beschreibt, wer die Sekten macht, und welche soziologischen Dynamiken hier am Werke sind. Es zeigt sich, dass die meisten Vorbehalte gegenüber »Sekten« auf unhaltbaren Vorurteilen beruhen.

Keine religiöse Gemeinschaft hat sich jemals selbst als Sekte betrachtet. »Sekte« ist immer ein Begriff, der von »außen« und in eindeutig unfreundlicher Absicht an eine religiöse bzw. weltanschauliche Gemeinschaft herangetragen wird. In seiner langen Geschichte ist das Wort zu einem sogenannten Containerbegriff geworden, der, wie zum Beispiel auch »Liebe«, unzählige verschiedene, oft unklare und nicht selten auch gänzlich unvereinbare Klischeevorstellungen lose verbinden. Während aber »Liebe« gewissermaßen das Schmuckkästchen für allerlei positive und warmherzige Vorstellungen ist, ist der Sektenbegriff eher ein Mülleimer, denn er enthält letztlich nur abwertende und negative Vorstellungen: die Sektenklischees.

Sektenklischees

Sektenklischees, also die öffentlich verbreiteten und mehrheitlich geteilten Vorstellungen darüber, was Sekten sind und was alles so in Sekten passiert, sind exakt so alt wie die sogenannten Sekten selbst. Denn: Es sind ausschließlich die Klischees, die die Sekten zu Sekten machen. »Sekte« war und ist seit jeher gleichbedeutend mit: Gottlosigkeit und Verwahrlosung, Vielweiberei und Unzucht, Geldschneiderei und Quacksalberei, Verschwörung und Subversion, Teufelsanbetung und perverse Rituale oder kurz gesagt: moralisch-ethische Irreführung der Gutgläubigen in der ganzen Bandbreite vorstellbarer Möglichkeiten. Und zwar mit den niederträchtigsten Motiven und den hinterlistigsten Methoden!


So sehen es seit jeher die »Normopathen«, also jene, die wahnhaft dem Glauben daran verfallen sind, dass ihre je eigene Weltanschauung und/oder Religion die einzig normale und richtige ist. Deswegen galt tatsächlich schon immer: Einer sogenannten Sekte anzugehören, ist höchst gefährlich. Aber nicht, weil man »in« dieser um Leib und Leben fürchten muss, sondern weil man als Sektenanhänger stets die Anwälte der »richtigen« Lebensweise, die Verteidiger der »echten Kirche« und die Hüter der »wahren Religion«, die Wächter von »Anstand und Moral« zu fürchten hat. Und diese sitzen, so lehrt es die Geschichte, immer am längeren und damit potenziell gewaltsamen Hebel der Macht. In Bezug auf die bunte Welt der religiösen Phänomene sind die Normopathen die »Sektenmacher«. Sie sind jene, die den Andersdenkenden und damit auch den anderen religiösen Gemeinschaften den Stempel des Abseitigen und Perversen aufdrücken. In diesem Sinne sind sie die eigentlichen Erfinder jener Klischees, in der sich das Abseitige und Perverse als Kehrseite ihrer eigenen Vorstellungen von Normalität spiegelt.

»Sekte« ist immer ein Begriff, der von »außen« und in eindeutig unfreundlicher Absicht an eine religiöse bzw. weltanschauliche Gemeinschaft herangetragen wird.

Das Basismodell der Sektenklischees, der kulturgeschichtlich stereotype Vorwurf des Glaubens an die »falschen« Götter, der »Religionsfrevel« und die »Verführung der Jugend« zur Unmoral, hatte schon Sokrates (ca. 469–399 v. Chr.) den Schierlingsbecher eingebracht. Und dem historischen Jesus ging es bekanntlich nicht besser, denn auch ihm wurden Volksverhetzung und Religionsfrevel nachgesagt, weil Sektenklischees niemals irgendeiner größeren Wahrheit verpflichtet sind als der Wahrheit ihrer Erfinder. Sie waren und sind stets Hilfsinstrumente, mit denen ein wie auch immer geartetes anderes Denken oder Handeln in die Kategorie des monströsen Verbrechens gegen Gott und die Welt eingeordnet werden kann – und damit nicht nur in einem abstrakt-moralischen Sinn, sondern auch ganz konkret »strafbar« oder mindestens »anrüchig« war. Deswegen basiert ein Gutteil der Sektenklischees seit jeher auf »Sex and Crime«.


Zwar kann die römisch-katholische Kirche durchaus das Urheberrecht auf die Erfindung vieler, auch heute noch gängiger Sektenklischees beanspruchen, aber schon lange bevor die späteren Kirchenchristen die Legende vom jüdischen Ritualmord an Säuglingen verbreiteten, mussten sie selbst die gleichen Anwürfe von den Anhängern der antiken römischen Religionen erdulden, die sich das Blutopfer des Abendmahls wohl etwas zu plastisch vorstellten. Selbst der so kirchentreue historische Templerorden wurde – als er in hochherrschaftliche Ungnade fiel – mit den Vorwürfen von Kreuzschändung, Dämonenanbetung und Sodomie (im Mittelalter war damit zumeist Homosexualität gemeint) zu Fall gebracht. Und der mittelalterliche Universalvorwurf, »mit dem Teufel im Bunde zu stehen«, ging stets einher mit den Vorwürfen von Sexorgien, Kindstötungen und Schadenszaubern.
Mit der »Luther-Sekte« – zu Anfang selbst allen denkbaren Vorwürfen ausgesetzt – werden die Sektenklischees dann gegen das römische Papsttum, die Juden, die Täufer und die religiösen Schwärmer gewendet, wobei das Schmuddel- und Fäkalniveau der Verbrechensbeschuldigung der »anderen« nochmals neue Höhen erreicht. Und auch wenn angesichts der Machtteilung zwischen den beiden deutschen Großkirchen gegenwärtig Waffenstillstand herrscht: Im Auftrag der etablierten Kirchen ziehen leider noch immer einige Weltanschauungsbeauftragte mit den Klischees von den »falschen« Religionen und ihren vorgeblichen Missetaten durch die Lande – wobei die evangelischen Dogmatiker mittlerweile ihre katholischen Gesinnungsgenossen an Schärfe regelmäßig übertreffen.

»Normopathen« sind jene, die wahnhaft dem Glauben daran verfallen sind, dass ihre je eigene Weltanschauung und/oder Religion die einzig normale und richtige ist.

Etwa Mitte/Ende der 1970er Jahre – in Reaktion auf die neureligiösen Phänomen der 1970er Jahre – kam es zur letzten größeren Reformation der Sektenklischees. Die bedeutsamste Anpassung dieser Zeit ist, dass die Anhänger der »Sekten« nun nicht mehr selbst »böse« Menschen, sondern »Opfer« sind. Und zwar Opfer von macht-, sex- und geldgierigen »Sektenführern« und einer kleinen skrupellosen Clique von »gelernten Verführern«. Diese Wendung ist insofern interessant, weil diese Theorie des »bösen« (Ver-)Führers, der mit seinen wenigen Helfern lauter unschuldige Opfer produziert, so verdächtig an die Strategien der deutschen Vergangenheitsbewältigung in den 1950er und 60er Jahren erinnert. Man muss das hier nicht ausbreiten, aber im angelsächsischen Raum sind solche kollektiven Rechtfertigungsmuster weit weniger anzutreffen.


Sekten jedenfalls – so der neue und bis in die Gegenwart gültige Tenor – sind stets »falsche« und das heißt: gar keine Religionen, und sie dienen einzig dem Zweck der materiellen Bereicherung und der Machtgier ihrer »Führer«. Die »Sektenopfer« seien vorwiegend labile oder sozial orientierungslose, also vor allem junge Menschen, die nicht freiwillig, sondern allein durch Täuschung in die »Fänge der Sekte« geraten sind. Ein »Entrinnen« sei unmöglich, denn die ahnungslosen Opfer würden sofort und vollständig den Manipulationstechniken der Sekten ausgesetzt: Gruppenzwang und ständige Kontrolle, gewaltsame Konditionierung auf die Gruppenziele, unterstützt durch Drogen, Psychotechniken und Sprachmanipulation, Aufgabe der Privatsphäre, Nahrungs-, Vitamin- und Schlafentzug sowie zuletzt die »Abrichtung« auf die Sektenideologie. Und diese beinhalte bei allen Sekten die umfassende Verdammung der Gesellschaft und eine Totalverweigerung gegenüber der »Realität«. […]

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Normopathen, Gehirnwäschen und Anti-Kult
Sekten und Sektenmacher

Menschen verfolgen und ächten Menschen, seit es die menschliche Kultur gibt. Misstrauen, Feindseligkeitserwartung und die Verfolgung Andersgläubiger haben eine jahrtausendealte Tradition. Der Kultur- und Religionssoziologe Willms beleuchtet in diesem Beitrag das Sektenphänomen nicht von der sensationsheischenden Perspektive des Boulevard-Journalismus, sondern bemüht sich um eine nüchterne Einschätzung. Er beschreibt, wer die Sekten macht, und welche soziologischen Dynamiken hier am Werke sind. Es zeigt sich, dass die meisten Vorbehalte gegenüber »Sekten« auf unhaltbaren Vorurteilen beruhen.
 

 

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