15 Jun Aspekte der Liebe
Auf den Spuren unseres natürlichen Zustands
Autor: Dolores Richter
Kategorie: Mann/Frau
Ausgabe Nr: 79
Die Liebe betrifft nicht nur unser subjektives Gefühl oder die Beziehung zwischen zwei Menschen isoliert von der Außenwelt. Die Autorin wirft einen Blick auf den spirituellen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext der Liebe. Sie spricht von ihrer Erfahrung, dass eine tragende Gemeinschaft unabdingbar ist, damit die Liebe gelingt.
Es wird viel über die Liebe gesprochen und geschrieben. Der Wunsch nach erfüllenden Liebesbeziehungen ist groß. Es gibt Beratungen, Therapien und Seminare, die Liebende unterstützen. Was ich dem heute hinzufügen möchte, ist der Kontext der Liebe, der über die Personen der Liebenden hinausgeht. Es ist der spirituelle, geschichtliche und gesellschaftliche Kontext, den wir immer wieder aus den Augen verlieren, der aber einen entscheidenden Einfluss auf unser Liebesleben hat.
Um dies zu verdeutlichen, habe ich die Liebe in vier Aspekte aufgegliedert. Nach meiner Erfahrung ist es die gelebte Balance dieser Aspekte, die der Liebe die Chance auf ein dauerhaftes Gelingen eröffnet. Es sind vier Aspekte, die sich gegenseitig nähren und befruchten.
Man kann diese Aspekte auch als vier Felder in einem Kreis betrachten. Es gibt bei diesen Feldern ein Zentrum und eine äußere Begrenzung. Das Zentrum steht für das Innere, den Raum, das Essenzielle, den universellen Aspekt des Personalen (Vertikale). Die Außenlinie (die Peripherie) markiert das Äußere, das Manifeste, die Form, den biografischen Aspekt des Personalen (Horizontale).
Ich beginne mit dem Ich an der Peripherie. Meist beschreiben wir dieses Ich mit unserem Namen, unserem Beruf oder für uns typischen Eigenschaften. Wir empfinden unsere Identität in unserem Körper, durch unsere Handlungen, durch die Wahrnehmung der Sinne oder unser Denken.
Je mehr wir ins Zentrum kommen, desto lichter, essenzieller, flexibler wird das Identitätsgefühl. Das Persönliche ist durchlässig geworden; es ist noch vorhanden, aber durchwoben von überpersönlichen Qualitäten. Im Zentrum ist ein Ich, das mit Eigenschaften nicht mehr zu beschreiben ist. Dort ist das pure Leben, ich nenne es gerne einen »Klang von Ewigkeit«. Was Kinder in den ersten Monaten ausstrahlen, wirkt auf uns so anziehend, weil dieser Klang durch sie hindurch tönt.
Wenn ich in ihre Augen schaue, habe ich den Eindruck, ich schaue in das Leben selbst.
Spirituelle Liebe
Ich gehe davon aus, dass es Kulturen und Zeiten gibt und gegeben hat, in denen der Seinszustand von Richtigkeit zum Leben gehört. In diesen Kulturen hatte die Spiritualität keine so herausragende Rolle. Bevor die Menschheit versuchte, das Leben auf die Materie zu begrenzen, war Spiritualität dem Leben immanent und wurde in allem zelebriert, was dem Leben diente. Erst nachdem Dogmen und Religionen begannen, unseren Kontakt zur Quelle regeln und übernehmen zu wollen, und später der Begriff der Existenz gar ganz auf die Materie reduziert wurde, bekam Spiritualität die heutige Bedeutung einer Praxis, die Materie und Geist wieder verbindet und den Tanz zwischen Raum und Form, zwischen Peripherie und Zentrum wieder in unser Leben gebiert.
Sofern wir eine tägliche Praxis haben, trainiert sie uns darin, unsere Person in immer größere Dimensionen eingebunden zu erfahren. Dies ist Festigung und Auflösung zugleich: Wir erfahren die Liebe als die Kraft, die immer ungehinderter durch uns fließen kann. Wir werden wieder durchlässig für die Wirklichkeit, die wir eigentlich sind.
Von unserem Bild her gesprochen liegt die Religion auf der Außenlinie. Im Zentrum dagegen wird der ganz eigene direkte Zugang erfahren, der mich wissen lässt, dass das Leben mehr ist als das, was ich physisch, emotional, biografisch erfassen kann.
In der Berührung mit diesem Klang, mit diesem Glanz, diesem Licht, dieser Wärme gibt es eine innere Kraft, die mich leitet und mich zur Ruhe bringt. Fragen der Art, ob ich gut genug bin, genug leiste, was ich tun soll, sind still geworden.
Eine Sufi-Weisheit lautet:
Suche nicht nach Gott, suche den, der Gott sucht.
Doch warum suchen: Er ist dir näher als dein eigener Atem.
Am Ende des Beitrags gibt es den vollständigen Artikel zu bestellen, in dem Sie lesen können, welche weiteren Formen der Liebe es nach Ansicht der Autorin gibt.
Wenn ich vor einem Mann stehe, sehe ich meist, was mir gefällt und was er in meiner Vorstellung für mich sein kann. Ich hätte gerne einen Partner, hätte gerne Kinder, guten Sex, Inspiration, ein offenes Herz, ein Verständnis für mein Wesen, dafür, wie ich funktioniere, eine Erweiterung und Ergänzung, ich hätte gerne Sicherheit und Halt, gleichzeitig Freiheit und Autonomie. Das alles hätte ich gerne. Das sehe ich im anderen aufgrund dessen, wie ich mein Schauen eingestellt habe.
Wir alle wissen, dass kein einzelner Mensch all unsere Bedürfnisse erfüllen kann. Aber wir lieben und entlieben uns so, als wüssten wir es nicht. Der große Mangel unserer Kultur ist der, dass es wenig Erfahrungsmöglichkeiten dafür gibt, wie es sich anfühlt, wenn die Liebe zwischen zwei Menschen an den richtigen Platz fallen kann, weil die vielen Ausdrucksformen von Bedürfnissen und Intimität von einem viel größeren System beantwortet werden können.
Ich will das mal ganz schlicht veranschaulichen: Wenn wir einen Mann und eine Frau, die miteinander verbunden sind, in einen gemeinschaftlichen Kontext stellen und beide sich eingebunden fühlen, auch beim eigenen Geschlecht, verändert sich etwas ganz Wesentliches. Ich kann als Frau auf diesen Mann schauen und erkennen: Er ist nicht nur der Mann, den ich sehen möchte. Er ist ein Mann mit einer kollektiven Geschichte, mit einer biografischen Herkunft, er hat ein bestimmtes Verhältnis zu seinen Eltern, er hat Qualitäten und Schwächen, er hat Bedürfnisse, die zum Teil zu den meinen passen, und andere wiederum, die nicht passen usw. Das alles kann in der Einbindung in ein größeres soziales System auf viel klarere Weise wahrgenommen werden, weil ich ihn als Mann unter Männern sehen kann und meine verengte Blickweise größer wird. Es tritt instantan eine Entspannung in der Liebe ein.
Um das, was hier zwischen einem Mann und einer Frau passiert, zu weiten und zu ermöglichen, dass wir sehen können, wer der andere wirklich ist, gibt es nichts Besseres als eine Gemeinschaftserfahrung, die sich in den Dienst der Bewusstwerdung gestellt hat.
Über die Autorin
Dolores Richter hat 1991 die ZEGG-Gemeinschaft mitbegründet. Sie ist Autorin des Buches »Die Liebe ist ein soziales Kunstwerk« und begleitet seit über 30 Jahren Menschen auf ihrem Weg in Bewusstwerdung, Gemeinschaftsbildung, Liebe, Partnerschaft und Sexualität. Heute liegt ihr Engagement im Aufbau von gemeinschaftlichen Netzwerken, in denen Liebende sich einbetten und gegenseitig unterstützen. Mehr dazu auf: www.liebeskunstwerk.org
Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.
Erfahre, wie eine stabile Gemeinschaft die Beziehung zwischen Liebenden nähern und halten kann, und wie dies alles auch mit Selbstliebe und Menschenliebe verwoben ist.
Lesen Sie die vollständige Fassung in Tattva Viveka 79 oder downloaden Sie diesen Artikel einzeln als ePaper für 2,00 € als ePaper erhältlich (Pdf, 6 Seiten).
Aspekte der Liebe (PDF)
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Dolores Richter
Aspekte der Liebe
Die Liebe betrifft nicht nur unser subjektives Gefühl oder die Beziehung zwischen zwei Menschen isoliert von der Außenwelt. Die Autorin wirft einen Blick auf den spirituellen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext der Liebe. Sie spricht von ihrer Erfahrung, dass eine tragende Gemeinschaft unabdingbar ist, damit die Liebe gelingt.
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Bildnachweise: © Sidharth Bhatia / Shane Rounce via unsplash.com
Ulfi
Gepostet am 10:41h, 19 FebruarWow. Ja. Richtig gut! Besonders die verengte blickweise vergrößern ist so richtig und wichtig. Habe mir auch direkt die Webseite von Dolores Richter angeschaut. Sehr zu empfehlen!