24 Aug Die Familie steht im Zentrum
Im Gespräch mit einer Frau aus einer matrilinearen Gesellschaft
Autor: Illin Masar
Kategorie: Soziologie
Ausgabe Nr: 88
Illin Masar gehört zum indigenen Volk der Khasi – abgeleitet vom Eigennamen Ki Khasi, »Die von einer Frau Geborenen« –, die eine matrilineare Gesellschaft bilden. In dieser sind der Clan, die eigenen Verwandten und die Beziehungen untereinander elementar. Im folgenden Gespräch gehen wir den Fragen nach, welche Aufgaben bestimmte Familienmitglieder innehaben, wie sich das Verhältnis von Frau und Mann gestaltet und wie sich die Bräuche und Traditionen im 21. Jahrhundert wandeln.
Tattva Viveka: Vielen Dank, dass du dich bereit erklärt hast, dieses Interview mit uns zu führen. Wir sind schon sehr gespannt.
Illin: Es ist mir eine Freude, dass ich dazu beitragen kann.
TV: Zuerst möchten wir dich bitten, uns ein wenig über dich zu erzählen: Was ist dein Familienstand und wie alt bist du? In welchem Beruf bist du tätig? Hast du Kinder?
Illin: Ich heiße Illin Masar, bin verwitwet und 58 Jahre alt. Ich habe fünf Kinder, zwei Töchter und drei Söhne. Mein Mann ist vor 20 Jahren verstorben. Seitdem bin ich eine alleinerziehende Mutter und lebe in meinem eigenen Haus. Früher arbeitete ich als Auftragnehmerin der Regierung. Eine meiner Aufgaben war es, Häuser zu reparieren. Aber seit fünf Jahren bin ich arbeitslos. Mein jüngster Sohn arbeitet und versorgt mich im Moment. Meine anderen vier Kinder sind bereits verheiratet, aber er, der Jüngste, ist noch ledig. Er arbeitet im autonomen Bezirksrat von Khasi Hills und hat einen Master-Abschluss in Computeranwendungen gemacht.
TV: Wohnst du in der Nähe deiner Familienmitglieder?
Illin: Ja, wir leben auf einem großen Grundstück und direkt neben mir wohnt meine Schwester. Ich bin die Älteste. Irgendwann wurde das Land geteilt, und jede hat ihr eigenes Grundstück erhalten, also ich selbst, meine mittlere Schwester und meine jüngste Schwester. Wir sind zu dritt hier. Meine Cousins und Cousinen wohnen ebenfalls in der Nähe.
TV: Du bist also nicht allein.
Illin: Nein! Ich bin nicht allein, denn auch meine Cousins und Cousinen, die Töchter und Söhne meiner Tante, der älteren Schwester meiner Mutter, leben in meiner Nähe. Wir sind eine große Familie.
Lesen Sie im vollständigen Artikel, welches Verhältnis die Familienmitglieder in einer matrilinearen Gesellschaft untereinander pflegen.
Die Khasi – eine matrilineare Gesellschaft
TV: Du lebst in einer matrilinearen Gesellschaft, richtig?
Illin: Matrilinear, ja! Meistens wird es falsch verstanden. Sie ist nicht matriarchal, sondern matrilinear.
TV: Kannst du beschreiben, wie der Clan organisiert ist? Wer ist wofür zuständig?
Illin: Du meinst, wie es in den alten Tagen war, oder? Der Onkel ist das Haupt der Familie. Er ist nicht nur das Haupt des Clans der Mutter, sondern auch im Haus seiner Frau, denn er ist der Vater. Aber leider habe ich keinen Onkel mehr.
Welche Aufgaben anstehen und welche Entscheidungen getroffen werden sollen, dies alles besprechen wir untereinander mit unseren Brüdern und Schwestern.
Meine Geschwister sind verheiratet, und bevor meine Mutter starb, musste sie uns ihr Land geben.
Also kümmern wir uns um unser Land, und die jüngste Schwester hat das meiste geerbt.
TV: Die jüngste Tochter ist die Khado?
Illin: Genau. Nach dem Brauch der Khasi ist die jüngste Tochter, die bei uns Khado genannt wird, die Haupterbin des Landes und des Hauses. Heute ist es aber anders, weil wir meistens mit unseren eigenen Familien leben. Aber früher, als mein Onkel noch da war, hat er meistens entschieden, wem er dieses oder jenes geben wollte. Er musste es ja wissen.
TV: Warum ist der Onkel so wichtig? Er ist der Bruder deiner Mutter?
Illin: Richtig. Der Bruder der Mutter spielt eine wichtige Rolle. Der Onkel ist wirklich von Bedeutung, weil er aus unserem eigenen Clan ist, und er sollte verheiratet sein. Zum Beispiel muss der Onkel informiert werden, wenn man heiraten möchte. Wenn man keinen Onkel hat, wird die Mutter oder der Vater informiert. Diese setzen sich mit der Familie des zukünftigen Ehemannes in Verbindung, zumindest taten sie das früher. Sie mussten zur Familie des Mannes gehen, wenn die Nichte oder die Tochter einen ihrer Söhne heiraten wollte. Daraufhin arrangieren wir uns mit der Familie, wir reden miteinander und dann leben wir zusammen.
TV: Auch die Großmutter spielt eine wichtige Rolle?
Illin: Ja, die Großmutter ist ebenfalls sehr wichtig. Wir haben leider keine Großmutter mehr, denn sie ist vor mehr als 20 Jahren verstorben. Aber wenn wir noch eine Großmutter hätten, würden wir uns sehr gut um sie kümmern. Sie lebte im Haus meiner Mutter, denn meine Mutter ist die Khado. Die Khado muss sich um die Mutter, den Vater oder jene Brüder kümmern, die kein gutes Verhältnis zu ihrer Frau haben, oder wenn sie sich trennen. Zu ihr kann man gehen, wenn man nicht im Haus seiner Mutter wohnt. Da ich aber die Älteste bin, wohne ich in meinem eigenen Haus.
Die Großmutter spielt eine wichtige Rolle, denn von ihr bekommen wir unser Land und den Familienbesitz, da dies alles nur der Großmutter gehört.
Meine Großmutter war die einzige Tochter, also gehörte ihr das ganze Land. Deshalb entschied sie darüber, wer das Land erhält.
Die Großmutter, der Onkel und die Mutter sind wichtige Entscheidungsträger.
Frausein in der Khasi-Gesellschaft
TV: Wie fühlst du dich als Frau? Hast du das Gefühl, dass du ein gutes Leben hast?
Illin: Ja, als Frau schon. Ich bin Gott dankbar, weil er mir das Leben und alles gegeben hat.
Als Frau lebe ich ein gutes Leben.
Als ich noch im Haus meiner Mutter lebte, hatte ich gar keine Sorgen, nichts dergleichen. Aber als ich geheiratet habe, musste ich mich um meine Kinder und meinen Mann kümmern. Er hat mir bei der Arbeit zu Hause geholfen. Damals hatten wir nämlich noch keine Waschmaschine und so, wir haben alles mit den Händen gewaschen. Er hat mir geholfen, Wasser zu tragen, Wäsche zu waschen und so weiter. Das ist schön. Aber das Leben als alleinerziehende Mutter ist sehr schwer. Mein Mann arbeitete in einem Büro, aber da er seine 20-jährige Dienstzeit nicht beenden konnte, erhielt er keine Rente. Ich musste leiden und mich allein um meine Kinder kümmern. Das Leben kann auch hart sein. Aber ich bin stark genug, um mit allem umzugehen. Es gibt gute Zeiten und schlechte Zeiten.
TV: Wie überall auf der Welt. Die Menschen sind nicht perfekt.
Illin: Nein, das sind sie nicht.
Aber es ist sehr wichtig für eine Frau, dass sie ihren Respekt bewahrt. Sie sollte Respekt vor sich selbst haben, Respekt geben und sie wird Respekt gewinnen.
TV: Allgemein, abgesehen von deinem persönlichen Schicksal: Wie gehen Männer und Frauen miteinander um, vor allem in einer Partnerschaft?
Illin: Mann und Frau haben hier ein gutes Verhältnis zueinander.
TV: Sind sie auf der gleichen Ebene und haben sie den gleichen Status? Verhalten sich Männer Frauen gegenüber dominant?
Illin: Nein,
Männer verhalten sich Frauen gegenüber nicht dominant. Das tun sie nicht, weil sie sich gegenseitig verstehen.
Hier werden Ehen nicht häufig geschieden.
TV: Nicht wie in Deutschland!
Illin: Nein. Nicht wie in anderen Ländern und in Deutschland. Die Frauen können arbeiten gehen, zum Beispiel im Büro. Mittlerweile arbeiten sowohl der Mann als auch die Frau.
TV: Also verdienen viele Frauen ihr eigenes Geld?
Illin: Ja. Viele tun das.
Verändern sich im 21. Jahrhundert die Bräuche und Traditionen der Khasi? Lesen Sie dies und vieles mehr im vollständigen Artikel. Unten können Sie das Pdf bestellen.
TV: Viele Khasi konvertieren zum Christentum. Bist du Christin oder lebst du den traditionellen Khasi-Glauben?
Illin: Ich lebe im traditionellen Khasi-Glauben, aber nicht streng traditionell. Ich besuche nicht so häufig religiöse Veranstaltungen. Wie in der »Seng Khasi«-Bewegung sollten Gläubige eigentlich regelmäßig ihren religiösen Aufgaben nachgehen. Aber ich folge der Khasi-Tradition und bin nicht konvertiert.
TV: Verändert sich derzeit die traditionelle Lebensweise stark?
Illin: Das ist schwierig zu sagen. Die Bräuche verändern sich nicht, wohl aber die Menschen, zum Beispiel durch die Bildung. Manche werden zudem von den Medien wie Fernsehen und Handys beeinflusst.
TV: Diese Verbindung zu anderen Ländern und anderen Menschen verändert den Blick auf die Bräuche?
Illin: Das hängt von der Familie ab. Die Familie wird ihre Kinder immer anleiten. Einige Kinder sind anders als andere, aber die Tradition ist immer noch sehr präsent, und unsere Verbindung zu unseren Traditionen ist stark. Selbst wenn viele Khasi mittlerweile Christen sind, müssen sie, wenn sie heiraten und Kinder haben, dasselbe tun wie wir Khasi.
TV: Wir haben bereits über die Khasi-Kultur gesprochen. Wie würdest du die Gesellschaft und Kultur beschreiben?
Illin:
Ich denke, dass unsere Kultur eine gute Kultur ist, denn wir sind miteinander verbunden.
Vor allem mit unserem eigenen Clan, unserer eigenen Familie. Denn viele Familien sind, wie wir in anderen Ländern gesehen haben, nicht mehr geeint. Doch wir schon.
Wir teilen, wir streiten, aber wir sind nicht voneinander getrennt. Wir halten immer zusammen.
Wenn es zu Konflikten kommt, wissen wir bereits sehr früh, dass etwas nicht stimmt, und dann reden wir darüber. Wir sagen es in guten Worten. Und wir denken immer positiv, denn wir haben unseren Clan. Wenn wir zum Beispiel einen Fremden treffen, fragen wir als Erstes nach dem Clan. So können wir herausfinden, ob wir aus demselben Clan stammen, also ob wir miteinander verwandt sind. Wir können nicht innerhalb unseres eigenen Clans heiraten. Das ist ein Tabu. Das ist eine ganz besondere Sache, nicht wahr?
Das Interview führten Alice Deubzer und Ronald Engert.
Die Khasi – Eigenname Ki Khasi (»Die von einer Frau Geborenen«) oder Ki Khun U Hynniewtrep (»Die Kinder der Sieben Hütten«) – sind ein indigenes Volk im Nordosten von Indien mit über 1,4 Millionen Angehörigen im kleinen Bundesstaat Meghalaya in den Vorläufern des Himalaya-Gebirges. Sie machen dort etwa die Hälfte der Gesamtbevölkerung aus. Rund 35.000 Khasi leben im benachbarten Bundesstaat Assam und etwa 100.000 im südlich angrenzenden Bangladesch. Die Khasi bilden eine matrilineare Gesellschaft über Mütterlinien, bei denen Abstammung, Familienname und Erbfolge nur von der Mutter hergeleitet werden, nicht vom Vater. Diese Verhältnisse sind in der Verfassung von Meghalaya verankert, die ihnen besondere Schutz- und Selbstverwaltungsrechte als »registrierte Stammesgemeinschaft« (Scheduled Tribes) garantiert. Nach der Khasi-Tradition liegt der Besitz von Grund und Boden nur in den Händen von Frauen, er sichert den Müttern und ihren Großfamilien soziale und wirtschaftliche Selbstständigkeit und Absicherung. Männer gehören zur Großfamilie ihrer Mutter, erben von ihr den Familiennamen und die Clan-Zugehörigkeit und tragen zu ihrem Unterhalt bei; sie sind Teil der Solidargemeinschaft, können aber normalerweise kein Land erben. Nach einer Heirat zieht der Ehemann meist zu seiner Ehefrau und ihrer Mutter (matrilokale Wohnfolge), seine Kinder werden ihrer Großfamilie zugehören. Der Bruder der Ehefrau gilt als ihr Beschützer und Berater und wird sich traditionell als sozialer Vater um ihre Kinder kümmern (Avunkulat des Mutterbruders).
Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.
Erfahren Sie mehr über die matrilineare Gesellschaft der Khasi, ihre Bräuche und Werte.
Lesen Sie die vollständige Fassung in Tattva Viveka 88 oder downloaden Sie diesen Artikel einzeln als ePaper für 2,00 € (Pdf, 8 Seiten).
Die Familie steht im Zentrum (PDF)
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Illin Masar
Die Familie steht im Zentrum
Im Gespräch mit einer Frau aus einer matrilinearen Gesellschaft
Illin Masar gehört zum indigenen Volk der Khasi – abgeleitet vom Eigennamen Ki Khasi, »Die von einer Frau Geborenen« –, die eine matrilineare Gesellschaft bilden. In dieser sind der Clan, die eigenen Verwandten und die Beziehungen untereinander elementar. Im folgenden Gespräch gehen wir den Fragen nach, welche Aufgaben bestimmte Familienmitglieder innehaben, wie sich das Verhältnis von Frau und Mann gestaltet und wie sich die Bräuche und Traditionen im 21. Jahrhundert wandeln.
Über die Autorin
Illin Maser lebt im Nordosten Indiens in Shillong, Meghalaya, und ist Teil des indigenen Volkes der Khasi, die eine matrilineare Gesellschaft bilden. Sie ist die älteste Tochter ihrer Familie, 58 Jahre alt und verwitwet.
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Bildnachweis: © Uscha Madeisky
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