Heil und Heilung bei Ureinwohnern

Heil und Heilung bei Ureinwohnern

Stammeskulturen in Indien: die Adivasi

Autor: Günther Spitzing
Kategorie: Schamanismus
Ausgabe Nr: 55

Der Artikel beschreibt die Heilverfahren eines indigenen Volkes in Südindien: die Irular. Götter, Trance und Pflanzen sind hier wesentliche Heilungsmittel. Der Autor war selbst vor Ort und hat die verschiedenen Heilzeremonien begleitet. Er engagiert sich für den Erhalt dieser Kultur.

Die Irular – ein indigenes Volk in Südindien
Auch in unseren Breiten haben sich vor allem die Ayurveda Medizin, aber auch die Siddha Medizin Südindiens eine guten Ruf erworben. Es handelt sich dabei um Verfahren, die vor allem der Vorbeugung dienen, die aber auch für die Wellness Behandlung genutzt werden.
In Indien selbst wird heute eher die sogenannte »Englische Medizin« (Allopathie), aber auch die »Deutsche Medizin« (Homöopathie) genutzt. Als Grund wird angeben, dass zum Beispiel die Verwendung hochdosierter Medikamente Krankheiten schneller austreibt als traditionelle Heilverfahren. Angesichts der Tatsache, dass sich das Tempo im Arbeitsleben immer mehr verschärfe, könne auf die Behandlung mit robusteren Methoden nicht verzichtet werden, auch wenn damit stärkere Nebenwirkungen verbunden seien.

Heil und Heilung bei den ureinwohnern Indiens

Frauengruppe: Die Mitglieder der Society kommen zusammen.
Es geht darum, bessere Jobs zu erschließen.

Jäger- und Sammler-Kultur
Nun finden wir aber in Indien noch weitere Naturheilverfahren, die weitgehend unbekannt und bisher noch nicht erforscht sind. Es geht dabei um das spezielle Wissen der indigenen Völker, auch Adivasi (Ureinwohner) genannt. Zu ihnen gehören geschätzte acht Prozent der indischen Bevölkerung. Sie splittern sich auf in mindestens 400 kulturell und zum Teil auch sprachlich unterschiedliche Gruppen. Die Irular beispielsweise sind verstreut auf kleine Flecken vor allem in Tamil Nadu, aber auch in angrenzenden südindischen Bundesstaaten. Bis 1976 lebten sie als Sammler und Kleintierjäger in den damals noch wenig zugänglichen Savannen und Berglanden. Nachdem sie ihre heimatliche Wildnis verlassen mussten, waren und sind sie dazu verurteilt, ihr Leben sehr notdürftig mit unterbezahlter harter Arbeit zu fristen.#1 Dennoch ist ihre Kultur und auch die Erinnerung an ihre ursprüngliche Lebensweise noch nicht völlig erloschen. Immer, wenn sie Zeit haben, auch dann wenn sie arbeitslos sind, durchschweifen sie in Verbänden, die mehrere Familien mit Männern, Frauen und Kindern, umfassen, das was von den Savannen noch übrig ist. Ich habe sie auf Sammel- aber auch auf Jagdausflügen begleiten können.

Heil und Heilung bei den ureinwohnern Indiens

Mehrere Familien rücken aus, um Heilkräuter, Knollen
und Gemüsepflanzen zu ernten.

Die Göttin im Niembaum
Zu Beginn der Exkursionen wird ein Niembaum (Azadirachta indica, Engl. Neem Tree) am Rande der Savanne aufgesucht. Hier ist der Haupt-Gottheit der Irular, Kanniyammal, ein Opfer darzubringen. Die Göttin wohnt im Niembaum und verkörpert ihn. Kanniyammal ist für viele Krankheiten zuständig, vor allem für Pocken. Als es diese Erkrankung noch gab, galt die Göttin als verantwortlich für das Aufkommen der Pocken. Zugleich hat sie aber auch davor geschützt und die davon Befallenen geheilt. Pockenkranke wurden auf die der Kanniyammal heiligen Niemblätter gebettet, um Schmerzen und Juckreiz zu lindern. (Die asiatischen Religionen haben auf Grund ihrer konsequent monistischen Grundhaltung in der Regel Gottheiten, die zugleich heilvoll und unheilvoll wirken)

Tatsächlich wird in Indien traditionell – man nimmt an seit zwei Jahrtausenden – Niemlaub und Niemblättersud gegen zahlreiche Leiden erfolgversprechend angewandt, darunter gegen Gelbsucht, Blutarmut und Bluthochdruck. Die Wirkungsweise der in Laub, Früchten und Rinde enthaltenen Stoffe ist noch unzureichend erforscht. Auch die vermuteten Erfolgsmöglichkeiten bei Krebs- und Zuckererkrankungen bedürfen noch der Nachprüfung. Zweifelsfrei hat Niem eine desinfizierende und insektizide Wirkung. Deshalb werde, wie in manchen Reisebeschreibungen und Romanen aus Indien berichtet, Niemzweige als naturgewachsene Zahnbürste benutzt. Niembäume werden rund um einzelnstehende Hütten gepflanzt, um Insekten zu verscheuchen. Die Irular werfen am Abend Niemlaub ins Feuer und halten sich so Moskitos vom Leib. In Südindien ist es zudem allgemein üblich, Genesende zum Abschluss ihrer Behandlung in einem Niemsud zu baden.
Niemlaub begleitet alle Lebensphasen der Irular, insbesondere auch ihre Feste. Auch zum Abschluss der kurzen Opferhandlung vor dem Niembaum werden von ihm Zweige gepflückt, die uns während des Ausflugs begleiten. Die Gottheit soll uns begleiten und schützen.
Für die Irular ist Niem ein Wundermittel und dass dem so ist, das ist durchaus kein Wunder. Ihre Kultur ist eine Niemkultur, in der das universelle Heilgewächs und ihre Hauptgottheit miteinander verschmelzen.

Heil und Heilung bei den Ureinwohnern Indiens

Shanjivi verrichtet eine »puja« für Kanniyammal vor einem Niembaum.

Heilpflanzen sammeln
Die Gruppe zieht weiter durch das lockere Buschwerk. Die Männer graben Wurzeln aus, die zubereitet werden. Die Mädchen und Jungen knabbern Früchte und Stengel. Die Frauen zupfen Heilkräuter und packen sie in ihre Körbe. Die Irular sind mit jeder einzelnen Pflanze, ihrem Nährwert, ihrer medizinischen oder sonstigen Wirkung vertraut. Sie fühlen sich der Natur zutiefst verbunden. Gerade die älteren Frauen stimmen, wenn sie auf bestimmte farbenfrohe Pflanzen treffen, ganz spontan das eine oder andere Lied an. Jeder Blütenpflanze kommt ihr eigenes Lied zu. Die Innigkeit, mit der die Irular sich den Erscheinungen der Natur zuwenden, beeindruckt mich tief. Das ist etwas, was man einmal erlebt haben muss.
Die Adivasi gehen aber auch sehr schonend mit der Natur um, vermeiden es irgendetwas abzupflücken, was sie nicht direkt brauchen. Sie vergraben Wurzelreste, damit sich daraus neue Knollen bilden. Im Gespräch betonen sie, dass sie, solange sie in der Wildnis leben durften, die Wälder geschützt hätten. Jetzt bestünde die Gefahr, dass alles durch Abholzung, Bebauung und Gewinnung von Bodenschätzen zerstört werde.

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Eine junge Irular-Frau durchkämmt das Buschwerk nach Heilpflanzen.

Archaische Kultur oder Evolution einer ganz anderen Art
Mir ist gerade, während ich mit den Ureinwohnern durch die Savanne schweifte, eines ganz klar geworden:
Die Adivasi gehören keineswegs, wie gerne behauptet wird, einer am Anfang der menschlichen Kulturentwicklung stehenden Stufe an. Ihre derzeitige vielschichtige Kultur ist vielmehr das Ergebnis einer Jahrtausende langen evolutionären Entwicklung. Während allerdings die Entwicklung im Westen vor allem Wirtschaft und Technik vorangetrieben hat (und von ihr jetzt getrieben wird), hat die Entwicklung bei den Ureinwohnern ein ganz anderes Ziel verfolgt und damit auch zu einem ganz andern Ergebnis geführt: Es ging um die Intensivierung des Zusammenlebens von Mensch und Mensch und von Mensch und Natur. Anstatt auf die Herrschaft des Menschen über den Menschen und die Herrschaft des Menschen über die Natur, zielt ihre Evolution auf Harmonie zwischen den Menschen und Harmonie zwischen Mensch und Natur ab.

Und da stellt sich natürlich die Frage: Wer lebt eigentlich richtig? Wir in der modernen Wirtschaft oder die Irular? Wessen Lebensform ist zukunftsfähig?

Angesichts dessen ist es mehr als ärgerlich, dass der Druck auf die Irular zunimmt, sich dem modernen Dasein zu unterwerfen. Eigentlich sollten wir von ihnen lernen und uns in mancherlei Hinsicht an ihre Vorstellungen anpassen und die Ergebnisse ihrer andersartigen Evolution im Sinne einer größeren Harmonie unter den Menschen nutzen.

Was die Frauen berichten
In indischen Familien haben – und das gilt für Hindus, Moslems und Christen gleicherweise – zumeist die älteren Männer das Sagen. Wenn man das anders formuliert, kommt heraus: Frauen und vor allem Mädchen werden in einem Großteil der Familien unterdrückt. Es gibt durchaus Ausnahmen, aber in der Regel ist das so. Es kommt hinzu, dass auch Kinder oft eher mit einer überzogenen Strenge behandelt werden. Daher ist es umso erstaunlicher, dass bei den Irular Frauen und Männer gleichberechtigt sind, und dass Kinder in der Regel liebevoll von ihren Eltern geleitet aufwachsen – ohne Schläge oder sonstige körperliche Misshandlungen. Im Gegensatz zur steilen Hierarchie den indischen Mainstream-Gesellschaften ist die Hierarchie unter den Irular äußerst flach und entspricht dem Ideal einer wirklich funktionierenden Demokratie.
Irular-Frauen geben sich lebhaft, sind heiter, auch gerne lustig. Selbst wenn sie älter und sogar wirklich alt sind, tanzen und singen sie gerne und ganz spontan. Uns, vor allem meiner Tochter Tamara, haben sie ganz offen Fragen beantwortet und aus ihrem Leben erzählt.

Heil und Heilung bei den Ureinwohnern Indiens

Pulsuntersuchung bei einer Patientin. Murugammal und ihr Vater sind Vaidyar (Irular Heiler).

Alternative Geburtenkontrolle
Indrani ist Geburtshelferin. Sie hat mehr als 300 Kindern ans Licht der Welt verholfen. Traditionell wurden und werden zum Teil noch die kleinen Irular im Haus geboren. Und trotzdem, oder gerade deshalb ist Sterblichkeit bei der Geburt so gut wie unbekannt. Dazu tragen die umfangreichen Kenntnisse der Geburtshelferinnen aber auch der Vaidyar (Naturheilkundige) über Heilkräuter, ihre Zubereitung, aber auch über Diäten und religiöse Riten bei. Indrani empfiehlt den werdenden Müttern und Vätern auch dringend Sex während der Schwangerschaft auszuüben, denn wenn die Eltern glücklich seien, werde auch das Kind glücklich. […]

Lesen Sie den kompletten Artikel in der TATTVA VIVEKA 55

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Günther Spitzing
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