01 Mrz Das Dao des Sokrates
Erkenntnis durch Nicht-Tun
Autor: Prof. Dr. Peter Hubral
Kategorie: Taoismus
Ausgabe Nr.: 44
Der Dao-Weg (Daoxing) fördert die Fähigkeit, zu äußergewöhnlichen Einsichten zu gelangen. Er ist laut Dao-Meister Fangfu der traditionelle daoistische Weg zurück zur Natur, der auf Zeiten vor Laozi zurückgeht. Er erfordert den willentlichen Kontrollverlust in einer meditativen Stehübung. Dadurch erlangt man ein außergewöhnliches Wissen, das in der Gesellschaft nicht zu finden ist. Laozi, Pythagoras und Platon und viele andere Weise sind dem Dao-Weg gefolgt. Wenn wir sie als ›große Denker‹ bezeichnen, so müssen wir in Betracht ziehen, dass sie ihr Denken damit erweitert haben.
Einsicht ist dort, wo das Denken nicht hingelangt
Ein neuer Gedanke entspringt einer konfusen unartikulierbaren Einsicht. Diese kann nicht willentlich erlangt werden, denn sie fällt (noch) nicht in das Repertoire des schon Bekannten. Sie ist vielmehr dort zu finden, wo Denken und Sprache nicht hin gelangen. Einsicht ist eine Mischung aus Unbekanntem und Bekanntem. Sie ist eine Brücke zwischen beidem. Sie erfolgt durch den willentlichen Kontrollverlust (geistige Abwesenheit) und kann somit nicht gänzlich unser Eigen sein, definieren wir uns doch an dem, was uns über Denken und Sprache zugänglich ist. Jeder Gedanke fließt selbstbewegt vom Unbekannten zum Bekannten. Dabei wandelt er sich von der (noch) unartikulierbaren Einsicht zur artikulierbaren Erkenntnis. Dahinter steckt ein natürlicher Schöpfungstrieb, der im traditionellen China mit Wuwei (schöpferisches Wirken aus einem gedanklich und sprachlich unzugänglichen Bereich) und in der pythagoreischen/platonischen Antike mit philía bezeichnet wird (Hubral, 2008). Die alltägliche Bedeutung des willentlichen Kontrollverlustes zur Erkenntnisgewinnung entnehmen wir folgenden Legenden: Danach entdeckte Isaac Newton (1642–1727) das Gesetz der Gravitation – offenbar in einem entspannten Zustand des Kontrollverlustes – unter einem Apfelbaum. Ebenso soll Archimedes (287-212 v. u. Z.) das archimedische Prinzip auf ähnliche Weise in der Badewanne gefunden haben. Wie die Erfahrung immer wieder zeigt, mag man innig über Probleme grübeln, deren Lösungen dann ganz unerwartet, intuitiv und spontan (selbstbewegt) – z.B. nach einem guten Schlaf oder gar an einem ›stillen Örtchen‹ – gefunden werden. Dieses Phänomen wird allegorisch im Märchen Der Schuhmacher und die Elfen angesprochen. Dort lässt der Schuhmacher seine Schuhe abends halbfertig stehen, und während er schläft, gehen nachts die Elfen an ihr Werk, sodass die Schuhe am nächsten Morgen fertig sind. Die Elfen sind selbstverständlich nichts weiter als Allegorien für kreative kosmische Kräfte (immaterielle lebendige Wirkfelder = ángeloi = daímones). Sie erledigen ihr ›himmlisches Geschäft‹, während der Schuster im seligen Schlafe seine Kontrolle über sich verliert. Damit wird sein ›weltliches Geschäft‹ wie im Schlafe erledigt. Was im Märchen als Elfen bezeichnet wird, entspricht in China dem Qi (Chi). Es gewinnt im Westen zunehmende Popularität, denn es hilft nicht nur der Erkenntnis, sondern auch der Entspannung, Gesundheit und Tugend. Es ist in der Taiji-Lehre für alle schöpferischen (kreativen) Abläufe verantwortlich. Es ist eine Mischung aus Materie (Xing) und Geist (Shen). Es ist für die Chinesen das, was – um mit Goethe zu sprechen – die Welt im Innersten zusammenhält. Es wird auf dem Dao-Weg übersinnlich wahrgenommen.
Ein neuer Gedanke entspringt einer konfusen unartikulierbaren Einsicht. Diese kann nicht willentlich erlangt werden.
Wuwei in Daoxing
Wuwei (Nichthandeln) ist die Essenz der traditionellen chinesischen meditativen Dao-Praxis des Yangsheng-Xiuzhen (Lebenspflege und Wahrheitssuche). Damit lässt sich das natürliche Wirken aus dem ›gedanklich unzugänglichen Bereich (Wu = Nichtsein)‹ erfassen. Fangfu fasst Daoxing wie folgt zusammen: Man beginnt die Übung auf der ersten körperlichen Ebene in You (Diesseits), um in Wuyou (Zwischenebene) die Lebensenergie Qi (Chi) zu erfahren und zu stärken, um den Geist (Shen) zu erleuchten. Man erleuchtet den Geist, um auf die dritte (höchste) Ebene, die Ebene des Wu (Nichtsein), zu gelangen, wo der ruhende Ursprung aller Dinge ist. In Taijixue unterscheidet man drei Ebenen der Welt: You,Wuyou und Wu. Jede hat ihre eigenen Gesetze und Wahrheiten. Es existieren drei Stufen in Daoxing, die es dem Praktizierenden ermöglichen sie ausfindig zu machen. Ebenso betont er, dass man ohne Daoxing nur die Hälfte dessen wahrnimmt, was man damit erfassen kann. Dies klingt nach Pythagoras: Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen. Fangfu benennt vier fundamentale Dao- Metaphern: You, Wuyou, Wu und Qi. Seine Worte darüber liefern eine kurze Zusammenfassung dessen, was als Folge des ›Austretens aus dem Diesseits (You)‹ und des ›Eintretens ins kreative Jenseits (Wu und Wuyou)‹ dank regelmäßigen Übens resultiert. Sie sind keine Instruktion darüber, wie zu üben ist, was man vermuten mag. Der Grund ist, weil es keinerlei Instruktion bedarf, es sei denn man betrachtet das ›rigorose Nichthandeln (Wuwei)‹ in der im Üben einzunehmenden ›entspannten ruhigen Stehposition‹ als eine Instruktion. Berücksichtigt man jedoch, dass Daoxing ohne konkrete Anweisung und Regel durchzuführen ist, dann ist das Wort ›Instruktion‹ nicht angemessen, auch wenn Fangfu unverzichtbare praktische und theoretische Hilfen zur Durchführung der Übung leistet. Daoxing ist anfänglich formlos. Es entwickelt sich stetig. Es gibt gewisse Entwicklungsphasen, sodass man vom Dao-Stufenweg spricht. Aus anfänglicher Formlosigkeit entwickelt sich allmählich Form.
Warum ist Daoxing anfänglich formlos?
Daoxing folgt grundsätzlich keiner Instruktion. Dies ist notwendig, zumal man sich damit in inniger Stille in die ›formlose Kreativität des Jenseits (Wu und Wuyou)‹ einstimmen will, aus der jede ›formvolle Kreation im Diesseits (You)‹ zustande kommt. So hat es nun einmal die Natur eingerichtet. Jede diesseitige Kreation in You hat Form (Platon: morphé). Sie entspringt selbstbewegt der Formlosigkeit (Platon: h´yle) von Wuyou. Jeder formvolle (begreifbare) Gedanke entspringt einer formlosen (noch unbegreiflichen) Einsicht, jedes formvolle Lebewesen entspringt einer formlosen Vermählung. Dies bewirkt der natürliche Wuwei-Trieb, der alles ›aus sich heraus (auta kath’hauta)‹, aus dem Unbekannten (Wu), vorantreibt. Die Anteilnahme des Taiji-Übenden am Wuwei-Trieb erfolgt dadurch, dass er sich ihm im Üben ›ohne Ziel und Absicht‹ durch ›rigoroses Nichthandeln‹ anvertraut. Dadurch werden Einsicht, Entspannung, Gesundheit und Tugend ›geboren‹. Dies geschieht in einer formlosen Weise, die ohne meditatives Üben unzugänglich ist. Mit dem Befolgen einer Instruktion bliebe der Übende im ›formvollen Diesseits (You)‹ verhaftet, so dass sich nur wenig Äußergewöhnliches in ihm entwickeln könnte. Durch seine ›willenlose Hingabe zu Wuwei‹ im Üben können aber seine verborgenen Fähigkeiten erweckt und seine ›kreative Lebensenergie (Qi)‹ intensiviert werden. Damit reaktiviert er sein verschüttetes außergewöhnliches Bewusstsein und seine eidetischen Sinne. Es kommt zu einer Wiedererinnerung (anámnesis). Er gelangt damit zu Einsichten, die zu einem ›ursprünglichen Wissen (gnósis)‹ führen, das nicht über Denken und Sprache zu finden ist. Es kommt zu einer Läuterung (kátharsis). Fangfu: Was im Alltag wahrgenommen wird, bestimmt unser gewöhnliches Bewusstsein. Mit Taiji-Üben (Daoxing) ist es jedoch das sich stetig erweiternde Bewusstsein, welches das bestimmt, was erfasst wird. Darauf verweist mit anderen Worten auch Zhuangzi im berühmten Schmetterlingstraum. Von ihm stammen auch die Worte: Der höchste Mensch träumt nicht. Diese sollte man in Betracht ziehen, um seinen Traum zu verstehen. Ihm zufolge träumte Zhuangzi einst, dass er ein flatternder Schmetterling sei, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts von Zhuangzi wusste. Plötzlich erwachte er und war wirklich und wahrhaftig Zhuangzi. Doch wusste er nicht, ob er geträumt hatte, ein Schmetterling zu sein, oder ob der Schmetterling geträumt hatte, dass er Zhuangzi sei. Er wusste nicht zu unterscheiden, was wirklich und wahrhaftig ist. Er erkannte aber, dass es eine Illusion (ein Traum) ist, wenn man meint, das vertraute Diesseits (Sein) sei die einzige Welt.
Das Dao, über das man sprechen kann, ist nicht das wirkliche Dao. Laozi
Das Denken von Laozi und Konfuzius
Laozi und Konfuzius werden zu den großen chinesischen Denkern gezählt. Doch es gibt einen wesentlichen Unterschied zwischen ihren Denkweisen. Fangfu zufolge ist Laozi mehr als nur ein ›großer Denker‹, denn er hat sein Denken durch Taiji-Üben erweitert. Fangfu: Wenn Sie Laozi verstehen wollen, dann gibt es nur eins für Sie und das ist Üben, Üben, Üben! Laozi wird als Altmeister von Taijixue (Taiji-Lehre) betrachtet. Er hat mit Daoxing seine Tugend, Einsicht und Gesundheit gefördert. Er hat versucht, sich zu vervollkommnen. Konfuzius hat hingegen danach gestrebt, auf der Basis seines Denkens und Wissens die Menschheit zu verbessern. Dies schildert uns Zhuangzi (5./4. Jh. v. u. Z.) in allegorischen Auseinandersetzungen zwischen dem praktizierenden Laozi und dem nicht praktizierenden Konfuzius: Konfuzius, der ›große chinesische Humanist‹, besuchte den Naturphilosophen Laozi und breitete vor ihm seine Zwölf Klassiker aus. Er versuchte Laozi ausgiebig zu erklären, was er damit zum ›Wohle der Menschheit‹ verfasst hatte. Nach einiger Zeit fragte ihn Laozi: Ihr versucht zu viel auf einmal zu sagen. Sagt mir doch das Wesentliche Eurer Gedanken. Konfuzius antwortete darauf: Das Wesen liegt in den Lehren von Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Daraufhin fragte ihn Laozi: Darf ich fragen, ob beide Teil der menschlichen Natur sind? Darauf antwortete ihm Konfuzius: Ja, der Charakter eines vollkommenen Menschen erfordert Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Laozi bemerkte dazu: Darf ich fragen, was ihr darunter versteht? Darauf antwortete Konfuzius: Die Menschheit unvoreingenommen zu lieben ist das Wesen der Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Daraufhin antwortete Laozi: Ich fürchte sehr, dass ihr die Natur des Menschen verkennt. Die ›liebevollen Worte‹ von Konfuzius beeindruckten Laozi nicht. Er entgegnete: In meinen Worten liegt ein natürliches Prinzip (Wuwei). In der Angelegenheit der Menschen dagegen liegt ein System (heute: Ideologie). Weil sie (die Menschen) das nicht wissen, kennen sie mich nicht. Laozi orientiert sich nicht am gesellschaftlichen Denken und an ›klugen Köpfen‹ wie Konfuzius, sondern am Wuwei-Prinzip, das uns die Mutter Natur im willentlichen Kontrollverlust lehrt. Das Prinzip erfordert es, sich dem schöpferischen Fluss, der aus der Formlosigkeit inWuyou (Taiji) alles Formvolle im Diesseits (You) gebären lässt, innig meditativ anzuvertrauen. Dazu braucht man einen Dao-Lehrer, seinen Leib, Neugier und regelmäßiges Taiji-Üben. Zhuangzi: Wer seinen Leib mehr schätzt als die ›Tätigkeit für die Welt‹, dem kann man die Welt anvertrauen.
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Das Dao des Sokrates
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Der Dao-Weg (Daoxing) fördert die Fähigkeit, zu äußergewöhnlichen Einsichten zu gelangen. Er ist laut Dao-Meister Fangfu der traditionelle daoistische Weg zurück zur Natur, der auf Zeiten vor Laozi zurückgeht. Er erfordert den willentlichen Kontrollverlust in einer meditativen Stehübung. Dadurch erlangt man ein außergewöhnliches Wissen, das in der Gesellschaft nicht zu finden ist. Laozi, Pythagoras und Platon und viele andere Weise sind dem Dao-Weg gefolgt. Wenn wir sie als ›große Denker‹ bezeichnen, so müssen wir in Betracht ziehen, dass sie ihr Denken damit erweitert haben.
Petra L.
Gepostet am 16:24h, 08 JuniSehr geehrter Herr Hubral,
danke für Ihre Sichtweisen, ich habe das Eine oder Andere über die alten Meister gelesen und bin von diesem “Vergleich” zwischen Laotse und Konfuzius sehr überrascht.
Mir scheint Ihre Ansichten sind ausschließlich dazu da um die Wirkung Beider bewußt zu machen.
… und mir wird klar, dass zu damaliger Worte sorgsam verwendet wurden das gefällt mir – ich übe noch.
Namastè