Das leere Ich im Buddhismus als Glücksversprechen

Das leere Ich im Buddhismus als Glücksversprechen

Ein alternatives Verständnis zur abendländischen Tradition

Autor: Karl-Heinz Brodbeck
Kategorie: Buddhismus
Ausgabe Nr: 87

Die Vorstellung, dass es nichts Beständiges auf der Welt gibt und alles dem Wandel und der Vergänglichkeit geweiht ist, schmerzt den Menschen seit jeher. Aus dieser unmittelbaren Erfahrung zieht der Buddhismus auch den radikalen Schluss, dass es weder ein dauerhaftes Ich noch eine ewige Seele gibt, die den Wesenskern des Menschen ausmachen. Wieso gerade das Loslassen von Konzepten, auch des Ich-Konzepts, zu Glück führen kann, erklärt der Autor.

Die vielleicht befremdlichste Vorstellung im Buddhismus ist der Gedanke, dass es kein dauerhaftes Ich, keine Seele, aber auch keine ewige Materie gibt. Dieser Gedanke scheint der gesamten abendländischen Tradition in Religion, Ethik oder Philosophie zu widersprechen. Gleich ob zustimmend oder ablehnend, die abendländischen Traditionen haben eine Hauptquelle in jenem Satz, mit dem im Buch Exodus JHWH die Frage des Moses nach dem Namen Gottes beantwortet: »Ich bin, der ich bin.« (3,14) Da dieser Gott später als die Quelle alles Seienden geglaubt wird, kann man auch sagen: Ein göttliches Ich ist der Grund von allem. In einer rein philosophischen Form wird dieser Gedanke erst viel später, in der Philosophie des deutschen Idealismus, von Johann Gottlieb Fichte am Ende des 18. Jahrhunderts ausgesprochen. Er hat versucht, aus dem Ich ein ganzes philosophisches System abzuleiten.

In Fichtes Nachfolge bis hin zur Philosophie der Gegenwart blieb die Frage nach dem Ich, nach dem Selbst als Kern einer Person vielfach umstritten. Während einige Neurowissen­schaftler die Existenz eines Ich und eines Bewusstseins im Menschen gänzlich bestreiten – wirklich seien nur anonyme Gehirnprozesse –, fanden und finden sich immer wieder Philosophen und Wissenschaftler, die ein Ich geradezu dogmatisch voraussetzen. Sogar in der doch so nüchternen Wirtschaftswissenschaft sagt einer ihrer modernen Vertreter: »Das Ich ist die Einheit des handelnden Menschen. Es ist fraglos gegeben und kann durch kein Denken aufgelöst werden.« Offenbar klingt hier die Philosophie von René Descartes nach, der nach einem unbezweifelbaren Anfang des Denkens suchte und feststellte, dass das denkende Ich selbst diesen unbezweifelbaren Anfang darstellt: Ego cogito, ergo sum (Ich denke, also bin ich). Das Ich als Kern des individuellen Geistes steht ohne Vermittlung einer materiellen Vielfalt gegenüber. Die Welt scheint dual zu sein und besteht aus zwei Substanzen: Geist und Materie.

Blickt man auf diese das moderne Denken begründende cartesianische Philosophie, so erscheint die buddhistische Vorstellung vom Nicht-Ich (anatta) unverständlich:

Niemand kann doch sich selbst bezweifeln, während er zweifelt, also denkt?

Doch ganz so einfach stellt sich die Sache nicht dar. Mag man sich auch seines aktuellen Denkens gewiss sein, es wandelt sich gleichwohl oder schläft nachts. Ein bleibendes Ich zeigt sich hier nicht.

Lesen Sie im vollständigen Artikel, wie man in der Moderne das »Ich« philosophisch betrachtete und welche Veränderungen durch das neue physikalische Weltbild ausgelöst wurden.

Das Bewusstsein und die Theodizee-Frage

Was also ist das Bewusstsein? In der buddhistischen Philosophie gibt es mit Blick auf die westliche Entwicklung gewisse analoge Elemente. Doch es wäre ein Denkfehler, die dort verwendeten Begriffe einfach durch unsere zu übersetzen. Das Wort »Bewusstsein« wurde überhaupt erst in die deutsche Sprache von Christian Wolff in seinem Buch »Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen« (1717) eingeführt. Die beiden im Buddhismus verwendeten Begriffe vijnana und citta sind viel älter und finden sich von Anfang an in überlieferten Schriften. Sie haben zudem eine erkennbar andere Bedeutung. In der ältesten buddhistischen Lehrdichtung, dem Dhammapada, lautet der erste Satz: »Den Dingen geht der Geist voran.« Man ist vielleicht geneigt, diesen Satz im Sinne von Hegels Philosophie zu verstehen, der die Welt als Selbstentfaltung eines absoluten Geistes deutete. Andererseits sagt der Buddha nachdrücklich: »Habe ich nicht mehrfach erklärt, dass das Bewusstsein bedingt entsteht, dass kein Bewusstsein ohne Ursache entstehen kann?« (MN 38) Der Buddha wuchs in einer Umgebung auf, für die es wie im mittelalterlichen Europa selbstverständlich war zu sagen: Alles wurde durch einen Gott (Brahman) geschaffen und wird durch ihn im Sein erhalten.

Wenn aber dieser Brahman, fragte der Buddha, gut sei, »warum bringt die so erschütterte gespaltene Welt Gott Brahma nicht in Ordnung?«
(Jataka 543)

Die Lehre des Buddha setzt also bei einem Gedanken ein, der auch die theistischen Traditionen vielfach bewegte und unter dem Titel »Theodizee« diskutiert wird: Wie ist es möglich, dass ein guter Schöpfer aller Dinge so viel Leiden zulässt? Der Buddha hat diese Frage mit Blick auf die Erfahrung einfach umgedreht:

Offenbar ist das Leiden eine Tatsache, sogar eine todsichere Tatsache.

Der endlose Wandel

Der Buddha betont dagegen die je eigene Erfahrung und hat die Existenz solch eines Atman abgelehnt.

Er sagte, dass sich im Bewusstsein, wenn man es beobachtet, nichts Dauerhaftes entdecken lässt, keine Seelensubstanz, die jeder »ist«. Was sich zeigt, sind endlos vergängliche Sinneseindrücke, Gedanken und Gefühle. Diese Erkenntnis wurde später von seinen Schülern in der psychologischen Lehre des Abhidharma verfeinert. Es handelt sich um eine Art Katalog verschiedenster Geisteszustände, verbunden jeweils mit bestimmten Emotionen und einer moralischen Bewertung, die Praktizierende systematisch in der Meditation üben. Die Zahl dieser Geisteszustände variiert zwischen den Schulen. Es ist vor allem eine praktische Frage der Meditation, der Zweckmäßigkeit. Im Abhidharma-samuccaya von Asanga, der in Tibet verwendet wird, gibt es 51 Geistfaktoren. Das, was man beim stillen Verweilen im eigenen Bewusstsein beobachten kann, ist ein unaufhörlicher Wandel. Weil wir aber bewusst an Dingen oder Menschen festhalten, wenn sie uns glücklich machen, erleben wir die Wahrheit all dieser Phänomene – ihren endlosen Wandel – als Leiden. Es gibt hier keine Dauer. Gleichwohl versuchen wir unaufhörlich, etwas festzuhalten. Dies geschieht vorwiegend dadurch, dass wir alles durch Be-Griffe (also durch Sprache) ergreifen. Aber auch schon ohne Sprache kennen wir das Festhalten. Es ist ein teils unbewusster Wunsch nach Dauer und Stabilität; er kennzeichnet schon Kleinkinder, aber auch Tiere, die sich gleichsam »festbeißen«.

Die Sehnsucht nach Dauer und Beständigkeit blamiert sich immer wieder an der Erfahrung der Vergänglichkeit.

Das gilt für Erlebnisse ebenso wie für äußere Dinge. Wenn man all dies längere Zeit genau beobachtet, darüber meditiert, so gelangt man zu der betrüblichen Erkenntnis:

Es gibt in uns kein dauerhaftes Selbst, keinen Atman, auf den man die eigenen Erfahrungen als Grundlage beziehen könnte.

Welche Folgen hat die Erkenntnis, dass es kein dauerhaftes Selbst gibt? Lesen Sie dies und vieles mehr im vollständigen Artikel. Unten können Sie das Pdf bestellen.

Das leere Ich im Buddhismus als Glücksversprechen

In welcher Beziehung zu dieser westlichen Diskussion steht nun die buddhistische Auffassung? Hier muss ich etwas genauer differenzieren. Es gibt, wie schon gesagt, nicht nur eine Auffassung im Buddhismus, sondern ihrerseits viele Schulen. Man kann hier nur die völlige Verwirrung vermeiden, wenn man untersucht, welche Fragen sich diese Schulen gestellt und beantwortet haben. Tatsächlich ergaben sich innerhalb des Buddhismus über Bewusstsein, Welt und Ego durchaus streitbar ausgetragene Diskussionen. Die erste Frage stellt sich bezüglich der Befreiung. Die meditative Übung, gleich welcher Methode, soll ja schließlich zur endgültigen Befreiung vom Leiden führen, zu einem Zustand, der »Nirvana« genannt wird. Wie kann man sich aber vorstellen, dass aus der Dynamik des Bewusstseins, der fünf Skandhas (= Samsara) so etwas wie ein Nirvana resultieren könnte als stiller, befriedigter, ja glückseliger Zustand? Wie kann das Absolute (Nirvana) überhaupt aus dem Relativen (Samsara) hervorgehen? Wie kann etwas, das nicht ist, plötzlich werden oder sein? Parmenides hatte sich diese Frage schon gestellt und geantwortet: Das Sein kann das Nichts nicht berühren und deshalb nicht aus ihm hervorgehen (creatio ex nihilo). Folglich kann zwischen dem vielen Seienden keine Lücke, kein Nichts entstehen oder bleiben. Da aber Bewegung immer auch Zunichtewerden eines früheren Zustands bedeutet, kann es eigentlich gar keine Bewegung, keine Zeit geben. Heraklit hatte darauf im genauen Gegenteil geantwortet: Es gibt überhaupt nur Bewegung; Ruhe ist eine Illusion.

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Erfahren Sie mehr über das leere Ich im Buddhismus und wie das Eingeständnis des ewigen Wandels zu unserem Glück beitragen kann.

Lesen Sie die vollständige Fassung in Tattva Viveka 87 oder downloaden Sie diesen Artikel einzeln als ePaper für 2,00 € als ePaper erhältlich (Pdf, 8 Seiten).

Das leere Ich im Buddhismus als Glücksversprechen (PDF)

 2,00

Karl-Heinz Brodbeck
TDas leere Ich im Buddhismus als Glücksversprechen
Ein alternatives Verständnis zur abendländischen Tradition

Die Vorstellung, dass es nichts Beständiges auf der Welt gibt und alles dem Wandel und der Vergänglichkeit geweiht ist, schmerzt den Menschen seit jeher. Aus dieser unmittelbaren Erfahrung zieht der Buddhismus auch den radikalen Schluss, dass es weder ein dauerhaftes Ich noch eine ewige Seele gibt, die den Wesenskern des Menschen ausmachen. Wieso gerade das Loslassen von Konzepten, auch des Ich-Konzepts, zu Glück führen kann, erklärt der Autor.
 

 

Artikelnummer: TV087e_05 Schlagwort:

 
 

Über den Autor

Unser Autor Karl-Heinz Brodbeck

Dr. Karl-Heinz Brodbeck, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre, Statistik und Kreativitätstechniken an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, Autor zahlreicher Bücher zu Philosophie, Buddhismus, Ökonomie und Kreativität. Seit über 40 Jahren buddhistischer Praktizierender.

Homepage: https://khbrodbeck.de/

Buchempfehlungen:

  • The Cambridge Handbook of Consciousness, hrsg. v. Philip David Zelazo, Morris Moscovitch und Evan Thompson, Cambridge 2007
  • Francisco J. Varela, Evan Thompson, Elanor Rosch: The Embodied Mind, MIT 1993
  • David J. Kalupahana: The Principles of Buddhist Psychology, New York 1987

K.-H. Brodbeck:

  • Wahrheit und Illusion. Ein buddhistischer Blick auf eine Welt der Täuschung, Frankfurt a. M. 2018 (Tibethaus-Verlag)
  • Säkulare Ethik aus westlicher und buddhistischer Perspektive, Berlin 2015 (edition steinrich)
  • Buddhistische Wirtschaftsethik. Eine Einführung, Berlin 2011 (edition steinrich)
  • Buddhismus interkulturell gelesen, Nordhausen 2005 (Traugott Bautz)
  • Der Zirkel des Wissens. Vom gesellschaftlichen Prozeß der Täuschung, Aachen 2002 (Shaker Verlag)

Bildnachweis: © Adobe Photostock, Unsplash eye-suFglSDSl9Y

Keine Kommentare

Kommentar abgeben