Die Kunst des Nehmens

Die Kunst des Nehmens

Das weibliche Paradigma der Erkenntnis

Autor: Ronald Engert
Kategorie: Philosophie
Ausgabe Nr: 58

Geben und Nehmen sind elementare Prinzipien des Lebens und der Erkenntnis. Allgemeinhin gilt das Geben als selbstlos und wünschenswert, wohingegen das Nehmen eher als bedürftig oder egoistisch bewertet wird. Die lebens- und erkenntnisaufbauenden Qualitäten des Nehmens wurden im Zuge des herrschenden Paradigmas vergessen. Es liegt nahe, den Unterschied von Geben und Nehmen mit dem Unterschied von männlicher und weiblicher Erkenntnis im Zusammenhang zu sehen.

Männliches und weibliches Bewusstsein

Die Frage des Unterschieds zwischen Mann und Frau ist spirituell gesehen eine Frage des Bewusstseins und nicht des Körpers. Es gibt männliches und weibliches Bewusstsein, und in welchem ich mich befinde, ist nicht vom Geschlecht des Körpers abhängig. Dies bedeutet, sowohl Männer als auch Frauen können sowohl ein männliches als auch ein weibliches Bewusstsein haben. Heute haben fast alle Menschen ein männliches Bewusstsein, also auch Frauen.

Dieser Text ist aus dem weiblichen Bewusstsein geschrieben. Das bedeutet: Alles hier Genannte ist nicht wertend zu verstehen. Polaritäten sind konstitutiv. Enden sind immer dual. Es geht an keiner Stelle darum, eine Seite gegen die andere auf- oder abzuwerten oder eine Entscheidung zu treffen. Es geht um eine Beschreibung dessen, was ist: eine nicht feststellbare, offene Prozessualität.

Das männliche Bewusstsein drückt sich in dem Drang aus, genießen und dominieren zu wollen. Es arbeitet mit dem Druckprinzip. Die männlichen Eigenschaften der Position, der Herrschaft und der Bearbeitung sind heute vorherrschend, wohingegen die Eigenschaften und Qualitäten des weiblichen Bewusstseins nahezu verloren gegangen sind. Diese sind in der Nicht-Position, der Nicht-Wertung und der Annahme zu sehen. Im männlichen Bewusstsein möchten wir genießen, bestimmen, kontrollieren, Befehle geben, führen. Niemand möchte sich genießen lassen, sich anpassen, unterwerfen, Befehle annehmen oder sich führen lassen. Diese Qualitäten werden als Schwäche eingestuft. Dies sind jedoch Qualitäten der weiblichen Erkenntnis, die erstaunliche Ergebnisse hervorbringen können. In der Tat ist ein Zugang zur Wahrheit nur mit diesen Modi möglich. Es liegt eine eigene Qualität in diesen genuin weiblichen Formen des Geführtwerdens, des Genossenwerdens, der Hingabe und des Aufnehmens.

Die wirkliche Liebe ist das Nehmen.

Geben und Nehmen

Geben und Nehmen sind elementare Grundprinzipien des Lebens. Es erscheint mir sinnvoll, Geben und Nehmen in jeweils doppelter Ausführung zu konstatieren: aktiv und passiv. Es gibt aktives Geben, passives Geben, aktives Nehmen und passives Nehmen. Die aktiven Formen können auch als die männlichen Formen betrachtet werden, während die passiven Formen einen weiblichen Modus darstellen. Kurz gesagt handelt es sich bei männlich-aktivem Geben um das Geben von Befehlen oder Anweisungen (Bereich der Führung und Dominanz), beim weiblich-passiven Geben um das Dienen und Schenken (Unterordnung und Hingabe), beim männlich-aktiven Nehmen um das Nehmen der Frau bzw. der Natur für den eigenen Genuss (Verantwortung und Egoismus) und beim weiblich-passiven Nehmen um die Wahrnehmung und Annahme (Rezeptivität, nicht-invasive Erkenntnis). Die ausführliche Darstellung dieser dialektischen Beziehung würde hier aber zu weit führen. Ich beschränke mich in diesem Aufsatz auf die Darstellung der weiblich-passiven Form des Nehmens.


Die männliche Kultur und Moral hat das Geben als etwas sehr Hochwertiges und Gutes angesehen, wohingegen das Nehmen abgewertet wurde. Es zeigt sich, dass derart diskreditierte Qualitäten in einer anderen Bewusstseinsform konstitutiv sind.

So ist die große Kunst der weiblichen Bewusstseinsform das Nehmen. Nicht von ungefähr findet sich der Begriff des Nehmens in dem Wort »wahrnehmen«. Das Nehmen gilt als egoistisch und ausbeuterisch oder wird als Schwäche eingestuft. Dies ist jedoch nur die negative Interpretation. Nehmen bedeutet auch etwas ganz Wertvolles und Wunderbares, nämlich das Wahrnehmen und das Annehmen, das Akzeptieren dessen, was ist. Es ist darin ein elementares Grundbedürfnis des Menschen.

Wahrnehmen bedeutet zu sehen, was da ist, ohne auf dieses »Objekt« einzuwirken, eine nicht-invasive Erkenntnis. Ich möchte hier für diesen Erkenntnismodus den Begriff SEHEN einführen. Im Sehen ist jede mentale Kalkulation suspendiert. Es ist kein Denken, kein Wissen, kein Verstehen. Es ist eine eigene, nicht-positionale, nicht-wertende Erkenntnisweise.

Ein alter Weisheitsspruch besagt: »Der Unerwachte führt Krieg gegen die Dinge, wie sie sind.« Das Sehen sieht die Dinge, wie sie sind, nimmt sie an, wie sie sind, und entdeckt darin ihren verborgenen Sinn, den Sinn hinter den Phänomenen und Oberflächen. In der weiblichen Bewusstseinslage gibt es keine Sieger und keine Verlierer3, denn das wäre ein Schluss, und im ewigen Fluss gibt es kein Ende. Alles ändert sich in jedem Moment. Es gibt nichts Feststehendes. Es gibt nichts Geschlossenes. Es gibt keine Ergebnisse. Es gibt keine Entscheidung. Es ist das Leben selbst, das immer fließt und prozessiert, ohne Schluss, ohne Urteil, ohne Gericht. Es gibt hier keine Moral und kein Gut und Böse. Aber es gibt Liebe und Nehmen.

Die Schönheit des Nehmens

Die wirkliche Liebe ist das Nehmen. Ich nehme dich so an, wie du bist, ich nehme Zuflucht, ich akzeptiere, ich unterwerfe mich sogar. Das wahre Subjekt ist dasjenige, das sich unterwirft. Es dient und nimmt an. Die etymologische Herkunft des Begriffs »Subjekt« kommt von dem lateinischen Partizip »subjectum«, was »unterworfen« bedeutet. Vgl. englisch: to be subjected, unterworfen sein. Dies ist der sprachliche Hinweis auf die ursprüngliche ganze Wahrheit. Das moderne und postmoderne Bewusstsein sieht in der Kategorie des Subjekts die zentrale Achse im Sinne von Selbstwert und Selbstbestimmung, das bedeutet, die individuelle Freiheit und Emanzipation des Einzelnen gelten als höchstes Gut und bilden den zentralen Wert in unserer modernen Kultur. Dies darf als evolutionäre Weiterentwicklung der menschlichen Wesensart verstanden werden, im Sinne einer zunehmenden Befreiung des Menschen aus seiner Unmündigkeit. Zugleich kommt hier die Dialektik von Unterwerfung und Befreiung zum Ausdruck. Der Sich-Unterwerfende ist der Befreite.4 Sich unterwerfen bedeutet »sich hingeben, dem Leben dienen«. Wir halten es meist für das Schlimmste, was uns passieren kann: Unterworfene oder Diener zu sein. Diese Figur ist extrem negativ konnotiert. Und doch ist dies die Sehnsucht der Seele (und zugleich der Ort, wo der älteste und tiefste Missbrauch stattgefunden hat, weswegen wir diese Sehnsucht heute leugnen und verwerfen). Die Seele will sich hingeben und dienen.

Nehmen bedeutet auch etwas ganz Wertvolles und Wunderbares, nämlich das Wahrnehmen und das Annehmen, das Akzeptieren dessen, was ist.

Es ist die Hingabe, die bedeutet, Gefäß zu sein, Aufnehmendes, Anpassendes, Anschmiegendes, Fließendes. Es ist das Nicht-Ich, denn es definiert nicht. Es dient der Freude des Geliebten. Das Weibliche ist das, was genossen wird. Für das weibliche Bewusstsein ist es am bedeutendsten, dass der Geliebte glücklich, zufrieden und ekstatisch ist. Wenn der Geliebte sich gut fühlt und voller Freude ist, dann freut sich das weibliche Wesen. Es genießt nicht selbst, sondern stellt den Genießer zufrieden, indem es sich von ihm genießen lässt.5 Es hat kein eigenes Ego. Es ist der egofreie Raum und damit jenseits von Illusion. Es ist die überströmendste, süßeste Liebe. Es ist unendlich zart und fühlend. Es ist sehr verletzlich und empfindlich. Es ist sehr druckempfindlich und deshalb nur ehrlich und sehr zart anzufassen. Es flüchtet sehr schnell. Aber es hat eine innere Gestaltungskraft, die, wenn sie frei walten kann, wunderschöne Formen hervorbringt. Es ist die formgebende Kraft, die selbst keine Form hat. Es ist wie das Innere einer zarten Blüte. Nur mit den feinen Härchen einer Hummel kann dieser Pollen aufgenommen werden, um schließlich zur Frucht zu reifen. Für das männliche Bewusstsein bedeutet es, jegliche Form von Krieg, von Habenwollen, von Definition, ja sogar jegliches Bild aufzugeben. Die weibliche Kraft wird nur dann beginnen zu definieren, wenn sie nicht unter Druck gesetzt ist. Nur dann wird sie beginnen zu gestalten und Form zu geben. Erst wenn die Beute beim Jäger Zuflucht sucht, weil sie sich dort sicher fühlt, kann der Tanz beginnen.

Da ist ein Nichts, in das ein Etwas hineinkommt.

Alle diese weiblichen Formen der Erkenntnis und der Schöpfung sind im Zuge des männlichen Paradigmas, das nach dem Druckprinzip arbeitet, verdrängt worden. Das weibliche Paradigma arbeitet nach dem Zugprinzip. Es wirkt durch Unterdruck, durch Anziehung. Da ist ein Nichts, in das ein Etwas hineinkommt. Es ist die bedingungslose Offenheit, das Sich-Öffnen, das Öffnen des Schoßes.6 Aus dem Schoß kommt etwas heraus, aber zuerst muss etwas hineinkommen. Dieses Harte und Drückende, das hineinkommt, muss zugleich sanft und zart sein. Es muss dieses Wesen ganz lassen. Das geht nur über die Liebe, deren Vorstufen die Ehre und der Respekt sind. […]

Lesen Sie den kompletten Artikel in der TATTVA VIVEKA 58

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Ronald Engert
Die Kunst des Nehmens.
Das weibliche Paradigma der Erkenntnis

Geben und Nehmen sind elementare Prinzipien des Lebens und der Erkenntnis. Allgemeinhin gilt das Geben als selbstlos und wünschenswert, wohingegen das Nehmen eher als bedürftig oder egoistisch bewertet wird. Die lebens- und erkenntnisaufbauenden Qualitäten des Nehmens wurden im Zuge des herrschenden Paradigmas vergessen. Es liegt nahe, den Unterschied von Geben und Nehmen mit dem Unterschied von männlicher und weiblicher Erkenntnis im Zusammenhang zu sehen.
 

 

 
 

2 Kommentare
  • Gerhard
    Gepostet am 17:35h, 26 Februar Antworten

    Wow, Ronald – da hast du wirklich tief geschaut, tief gesehen… Danke für diese poetischen, duftenden Wahr-Worte!

    • Tattva-Archiv
      Gepostet am 20:39h, 27 Februar Antworten

      Danke 🙂

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