23 Jun Liebe in der jüdischen Philosophie
Die Entdeckung des Du – Von der Liebe zur Weisheit zur Weisheit der Liebe
Autor: Dr. Silvia Richter
Kategorie: Philosophie
Ausgabe Nr: 79
Die Autorin nimmt uns mit auf eine kurze Reise durch die moderne jüdische Philosophie, auf der wir wichtigen DenkerInnen dieser Tradition wie Hannah Arendt, Martin Buber und Emmanuel Levinas begegnen. Dabei ist die Liebe unser Kompass für diese Reise. Sie alle beschreiben unterschiedliche Facetten der Liebe, und gleichzeitig münden sie alle im Gegenüber, im Du. Zwischen dem Du und dem Ich entsteht der Raum, in dem Liebe passiert.
Wahrheit gibt es nur zu zweien.
schrieb die jüdische Philosophin Hannah Arendt einmal an ihren zweiten Ehemann Heinrich Blücher und hob damit eine Perspektive des Denkens hervor, die besonders in der jüdischen Tradition verwurzelt ist. Vom Hohelied der Bibel über die talmudischen Diskurse in der Antike bis hin zur Dialogphilosophie des 20. Jahrhunderts spielte das Gegenüber stets eine zentrale Rolle im jüdischen Denken. Dabei stand und steht weniger der Besitz der Wahrheit als vielmehr der Prozess der Wahrheitsfindung im Mittelpunkt. Nicht wer recht hat, gewinnt, sondern das gemeinsame Suchen nach der Wahrheit erfüllt die Dialogpartner.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass auch die Liebe in der jüdischen Philosophie niemals ausgeklammert wurde – ganz im Gegenteil. Das Konzept der »Liebe zur Weisheit«, wie sie die Griechen im Wort philosophia wörtlich zum Ausdruck brachten, wurde im jüdischen Denken weiterentwickelt zu einer »Weisheit der Liebe«: In seinem gleichnamigen Buch entwirft der französische Philosoph Alain Finkielkraut eine Geisteshaltung, in der mich mein Gegenüber – der/die Andere1 und Fremde – in mein Dasein zwingt und mich zur Verantwortung ruft. In dieser fundamentalen Verantwortung ist jedes Wissen an sich schon in Beziehung stehend und aus der Beziehung erwachsend, ob uns dies nun gefällt oder nicht.
Daher ist wirkliches Wissen immer auch eine Weisheit der Liebe
– und eine Dankbarkeit für die Erfahrung dieser Liebe.
Die Liebe bei der Philosophin Hannah Arendt
Fast hundert Jahre später nimmt sich eine andere jüdische Denkerin Rahels Leben zur Inspirationsquelle und Ausgangspunkt für ihre Habilitationsschrift: Die junge Hannah Arendt, die sich bereits in ihrer Doktorarbeit dem Thema der Liebe widmete, verarbeitete in ihrer Biografie Rahel Varnhagens, 1929 begonnen und 1938 im Pariser Exil fertiggestellt, auch ein Stück weit ihre eigenen philosophischen und persönlichen Probleme – so behauptet dies zumindest Arendts Biografin Young-Bruehl: So wie Rahel eine von ihren Liebhabern oft verlassene Frau war, so sei auch Hannah Arendt durch die gescheiterte Affäre mit Martin Heidegger ihre Liebe verloren gegangen. Dies veranlasst Arendt jedoch keineswegs, in Schwermut zu versinken, vielmehr nimmt sie diese Erfahrung produktiv mit hinein in ihr Werk und setzt sich mit dem Phänomen der Liebe immer wieder auseinander. Dies zeigt vor allem ein Blick in ihr Denktagebuch, in dem sich eine Vielzahl Stellen mit Bezug zur Liebe findet, von denen ich im Folgenden nur eine kleine Auswahl vorstellen kann.
Die Liebe macht uns sehend.
Zunächst überraschen die Frische und Unvoreingenommenheit, mit der Arendt in der ihr eigenen Weise althergebrachte Sprüche über die Liebe einfach aus dem Weg räumt, so z. B. die Aussage, dass Liebe blind mache. Ganz das Gegenteil ist der Fall! Die Liebe macht uns sehend. Aber für was? – für »die Dunkelheit des Herzens«, sagt Arendt und führt aus: »Das Aufleuchten der Dunkelheit des Herzens ist der ›coup de foudre‹2. Wo immer ein solches Aufleuchten stattfindet, d. h. wo immer sich das Herz im wahrsten Sinn des Wortes öffnet, ist Liebe.«. Etwas Unerklärliches, etwas Dunkles bleibt zurück im Geschmack der Liebe, etwas, das sich niemals wirklich auflösen lässt und uns deshalb immer wieder dazu treibt, ein weiteres Aufleuchten davon zu sehen – um die dunkle Landschaft unseres Herzens zu erhellen.
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Der Andere ruft mich in mein Dasein hinein, er ruft mich zu einer radikalen Verantwortung auf, die über mein Sein hinausgeht. Diese Beziehung zum Anderen überschreitet die Ebene des Seins (Ontologie), wie Levinas ausführt: »Die Beziehung zum Anderen ist also nicht Ontologie. Dieses Band mit dem Anderen (…) nennen wir Religion. Das Wesen der Rede ist Gebet.«
Wo findet die Liebe hier ihren Platz? Sie kommt bei Levinas gerade da ins Spiel, wo man sie am wenigsten vermuten würde. Nämlich in der Spätphilosophie Levinas’, in der er die Beziehung zum Anderen als eine des Geiselseins für den Anderen charakterisiert. Dies mutet als ein sehr radikaler Schritt an – wieso bin ich die Geisel des Anderen? Welche Beziehung liegt hier vor? Levinas erklärte dies in einem Interview mit Bernhard Casper so: »(…) das Geiselsein ist vielleicht nur ein harter Name für Liebe.« Jede und jeder von uns, die/der schon mal richtig verliebt war, weiß um die Verletzlichkeit, die diesem Zustand innewohnt. Man ist dem anderen ausgeliefert in einer radikalen Art und Weise. Auch Levinas war sich dessen bewusst – und er ist einer der wenigen Philosophen, die diesen wichtigen existenziellen Zustand nicht einfach ausgeklammert haben – als etwas »menschlich Allzumenschliches«, wenn nicht gar Unseriöses, das nicht in den hohen Bereich der Philosophie gehört –, sondern diesen im Gegenteil produktiv in sein Denken miteinbezog. Denn da, wo unsere größte Schwäche liegt, ist auch der Keim unserer Stärke angelegt: So werden Verletzlichkeit (vulnerabilité), Besessenheit (obsession) und Nähe (proximité) zu Kernbegriffen der Spätphilosophie Levinas’ und erhellen zugleich, was er damit meint, wenn er vom Geiselsein für den anderen spricht als »vielleicht nur ein harter Name für Liebe«.
Um abschließend ein kurzes Resümee zu ziehen: Worin liegt nun – wenn es denn eine geben mag – die Gemeinsamkeit zwischen all diesen unterschiedlichen vorgestellten Positionen? Gibt es so etwas wie einen »roten Faden« in Bezug auf das Thema Liebe in der jüdischen Philosophie?
Über die Autorin
Dr. Silvia Richter studierte in Heidelberg Geschichte, Philosophie und Jüdische Studien; 2011 Promotion an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg. 2012 arbeitete sie in Paris am Mémorial de la Shoah. Seit 2013 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Guardini Professur der Humboldt-Universität zu Berlin.
Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.
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Liebe in der jüdischen Philosophie (PDF)
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Dr. Silvia Richter
Liebe in der jüdischen Philosophie
Die Autorin nimmt uns mit auf eine kurze Reise durch die moderne jüdische Philosophie, auf der wir wichtigen DenkerInnen dieser Tradition wie Hannah Arendt, Martin Buber und Emmanuel Levinas begegnen. Dabei ist die Liebe unser Kompass für diese Reise. Sie alle beschreiben unterschiedliche Facetten der Liebe, und gleichzeitig münden sie alle im Gegenüber, im Du. Zwischen dem Du und dem Ich entsteht der Raum, in dem Liebe passiert.
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Die Philosophie von Emmanuel Levinas
Fußnoten:
1) Laut Duden wird »der andere« klein geschrieben. Wir verwenden hier in Anlehnung an Emmanuel Levinas, für den der »Andere« eine zentrale philosophische Kategorie ist, die Großschreibung [zurück nach oben]
2) Blitzschlag [zurück nach oben]
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