22 Feb Spiritual Care: Wiederentdeckung des ganzen Menschen
Die Bedeutung der Salutogenese
Autor: Prof. Dr. Birgit Heller
Kategorie: Medizin
Ausgabe Nr: 66
Gesundheit und Krankheit sind nicht etwa Antipoden, wie uns der kapitalistische Life-Style-Kult weismachen mag. Gesundheit und Krankheit sind Teil des Lebensprozesses, die den Menschen zu Einsicht und Veränderungen bringen können. Am Beispiel der Palliativmedizin zeigt die Autorin, dass eine freundschaftliche Verbindung zwischen Gesundheit und Krankheit uns in heilsame Selbst- und Lebensannahme führen kann.
Der Mensch: mehr als ein Körper
In den meisten Kulturen wird der Mensch als eine Kombination aus materiellen und seelisch-spirituellen Dimensionen betrachtet. »Seele« ist allerdings ein ethnozentrischer Begriff, der seine Wurzeln im Altgermanischen hat. Im deutschen und analog im englischen Sprachraum wird das Wort Seele/soul als universaler Begriff verwendet. Es gibt jedoch keinen einheitlichen Seelenbegriff, sondern ganz unterschiedliche Seelenkonzepte, in vielen Kulturen existieren verschiedene Seelenvorstellungen mit einer Vielfalt an Funktionen nebeneinander (Hasenfratz, 1986; Krasberg/Kosack, 2009).
Im Ein- und Ausatmen spiegeln sich
die Grundmuster von Leben und Sterben.
Die Seele kann ganz eng mit dem Körper verbunden sein, als ein Lebensprinzip, das in einem bestimmten Organ (beispielsweise der Leber, dem Herz, dem Blut, dem Kopf) lokalisiert wird. Häufig wird sie als Zentrum des Denkens, Wollens und Fühlens, als Kern der Persönlichkeit betrachtet. Sie kann lose oder fest mit dem Körper verbunden sein und den Körper unter bestimmten Umständen sogar zeitweilig verlassen. In manchen Kulturen gibt es Seelenkräfte, die prinzipiell vom Körper getrennt existieren oder es dominiert die Vorstellung einer Seele, die sich mit verschiedenen Körpern als Trägern sukzessiv verbindet. Der Seelenpluralismus beziehungsweise die Unterscheidung zwischen verschiedenen Seelenkräften ist insgesamt gesehen viel stärker verbreitet als die Vorstellung einer einzigen Seele. Angesichts der kulturellen Vielfalt stellt der Begriff Seele zwar bloß eine »Interpretationskrücke« (Wernhart, 2002: 60) dar, ist aber dennoch als Verständigungsparameter sinnvoll. Neben allen Verschiedenheiten gibt es durchaus auch verbindende Elemente in den Seelenkonzeptionen. Die Ethnologin Godula Kosack (2009: 28) findet den kleinsten gemeinsamen Nenner unterschiedlicher Seelenkonzeptionen quer durch die Kulturen darin, die Seele als das zu beschreiben, was den Menschen beim Ableben verlässt. Die Seele steht auffällig oft in einer Bedeutungskette mit Luft, Wind, Hauch, Atem (so etwa griechisch psyche, pneuma, hebräisch nefesch, ruach, lateinisch anima, spiritus, Sanskrit prana, ātman). Atem bezeichnet in diesem Kontext nicht nur die physiologischen Vorgänge, die der Sauerstoffversorgung und dem Gasaustausch des Organismus dienen, sondern gilt als Inbegriff des Lebens und verbindet alle Lebewesen miteinander. Der Verständnishorizont von Atem geht jedoch weit über die Assoziation mit Leben und Lebenskraft hinaus. Allen diesen Vorstellungen ist gemeinsam, dass Körper und Geist in tiefer Weise miteinander verbunden sind. In der Verknüpfung mit »Seele«, Geist, Person verweist der Atem auf ein metaphysisches Lebensprinzip, das eng auf den Körper des Menschen bezogen ist, sich aber auch von ihm unterscheidet. In der religiös-philosophischen Reflexion über den Atem ist es vor allem der doppelte Vorgang des Ein- und Ausatmens, der zu symbolischen Deutungen anregt. Im Ein- und Ausatmen spiegeln sich die Grundmuster von Leben und Sterben, von bei sich sein und über sich hinausgehen. Sterben ist ein langes Ausatmen, dem die meisten Religionen eine klare Richtung geben: Der Atem verbindet den Menschen mit einer spirituellen Dimension, die die innere und die äußere Wirklichkeit umfasst. So öffnet der scheinbar selbstverständliche und banale Vorgang des Atems den Blick auf das tiefste Wesen des Menschen, auf die Grundlagen der menschlichen Existenz – auf Identität, Abhängigkeit, Zusammengehörigkeit, Erfahrung einer geistig-göttlichen Dimension.
Heil und Heilung gehören zusammen
Ein Bewusstsein für die Zusammenhänge von Heil und Heilung, von einem umfassenden, uneingeschränkten und endgültigen Heil-Sein des Menschen und der Heilung von Krankheiten sowie körperlicher oder psychischer Versehrtheit – also Gesundheit im umfassendsten Sinn –, gibt es in allen religiösen Traditionen (Hoheisel/Klimkeit, 1995; Futterknecht et al., 2013). Heil und Heilung hängen deshalb eng zusammen, weil der Mensch eine Einheit aus Seele, Geist und Körper bildet.
Besonders deutlich sichtbar wird die Verbindung von Heil und Heilung, wenn sich die in unserem Kulturraum getrennten Rollen des/der religiösen Experten/Expertin und des Heilers/der Heilerin überlappen. So vereinen sich etwa in Altägypten oder auch im antiken Griechenland Priester/in und Heiler/in oft in derselben Person. Der/die priesterliche Heiler/in gilt in diesem Fall meist als Stellvertreter/in und Mittler/in einer männlichen oder weiblichen Heilsgottheit und die religiösen Kultstätten sind zugleich Orte der Heilung. In besonderer Weise verbinden sich religiös-rituelle und medizinische Funktionen in der Figur des Schamanen/der Schamanin. Schamanische Traditionen sind weltweit in verschiedensten Kulturen entstanden und teilweise bis heute lebendig. Möglicherweise stellen diese vielfältigen und teilweise sehr unterschiedlichen Traditionen Prototypen von Religion und Medizin dar. Gegenwärtig erlebt der sogenannte »Schamanismus« (die Bezeichnung ist eigentlich nur als Sammelbegriff brauchbar) jedenfalls eine Renaissance. Das aktuelle Interesse bezieht sich sowohl auf alte Traditionen als auch auf moderne Ansätze, die als Neoschamanismus bezeichnet werden. Diese Entwicklung spiegelt allerdings bereits eine Trendumkehr. Dazwischen liegt eine ganz andere historische Etappe, in der rational-empirische Zugänge zu Mensch und Welt in den Vordergrund gerückt wurden, die sich seit der Aufklärung vehement von religiösen Vorstellungen abgrenzen und teilweise auch vom Korsett religiöser Bevormundung befreien. Die Emanzipationsbewegung der Aufklärung, berufliche Spezialisierungen und die Dominanz naturwissenschaftlicher Denkmuster haben letztlich zu einem eindimensionalen und reduzierten Bild vom Menschen geführt.
Zerfall von Körper und Seele/Geist
In Europa hat sich das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit von Heil und Heilung mit dem Aufkommen der modernen naturwissenschaftlichen Medizin immer stärker aufgelöst. Der Zerfall der Einheit von Körper und Seele/Geist geht mit dem Siegeszug der empirisch-naturwissenschaftlichen Betrachtung der Wirklichkeit und einem mechanistischen Menschenbild einher. Während der menschliche Körper zum Objekt der empirischen Menschenkunde in den Zugangsweisen der Biologie, der Rassenkunde, der Anatomie, der Medizin wird, sind für Fragen nach dem Wesen, der »Seele« bzw. dem Geist, der Würde des Menschen Philosophie und christliche Theologie zuständig. An der Aufspaltung des Menschen sind sowohl die rasant an Einfluss zunehmenden Naturwissenschaften als auch Philosophie und Theologie beteiligt. Als Vertreter der Leitreligion der europäischen Neuzeit haben sich christliche Theologen und kirchliche Würdenträger mit der Seele des Menschen begnügt und den in der Tradition meist gering(er) geschätzten Körper widerstandslos den Naturwissenschaften ausgeliefert.
Sind spirituelle Menschen pflegeleichter und verbrauchen sie weniger Ressourcen?
Geschichten von Heil und Heilung prägen zwar die neutestamentliche Jesustradition und Christus, der große Arzt (Gollwitzer-Voll 2007), ist das Vorbild der mittelalterlichen Klostermedizin. Die visionäre Äbtissin und Theologin Hildegard von Bingen (1997: 55) beschreibt Gott als Arzt und vergleicht die Erlösung des Menschen mit der Heilung von Krankheiten. Sie richtet ihre Aufmerksamkeit im 12. Jahrhundert selbstverständlich auf das seelisch-geistige und das körperliche Wohl des Menschen. Die Sorge für die Kranken stellt überhaupt eine der zentralen Aufgaben christlicher Klöster dar. Die christliche Kirche hat sich offenbar in der Nachfolge des Heilungsauftrags verstanden, den Jesus in den Evangelien seinen Jüngern erteilt hat, und bis heute sind viele Krankenhäuser in Mitteleuropa in kirchlicher Trägerschaft.
Und dennoch war das Verhältnis zum Körper im Christentum seit frühester Zeit zwiespältig: Im Bekenntnis zur leiblichen Auferstehung wird zwar die Bedeutung der körperlichen Dimension des Menschen betont, aber im Zusammenhang mit einer asketischen Grundorientierung bilden sich starke körperfeindliche Tendenzen aus. In der Neuzeit und in der Moderne hat diese tief verankerte Tendenz zur Körperabwertung das Loslassen des Körpers erleichtert. Während die körperlose christliche Religion sich auf das seelisch-geistige Heil beschränkt, wird der Körper einer seelen- und geist-losen Medizin überlassen. Als eigentlich christliche Aufgabe im Dienst am Kranken entwickelt sich die Krankenseelsorge. […]
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Artikel zum Thema in früheren Ausgaben:
TV 25: Dr. med. Raimar Banis – Spirituelle Erfahrungen in der medizinischen Praxis
TV 26: Gabriele Fladda – Ich habe ein gewisses Talent zu sterben. Schamanische Erfahrungen
TV 40: Dr. Michael Nahm – Geistige Klarheit von psychisch kranken Menschen kurz vor dem Tod
TV 46-47: Dr. Alfred Messmann – Die Magie der Krankheit dargestellt anhand von Christa Wolf
TV 55: Verona Gerasch – Neue Wege in der Medizin. Die Bedeutung von Geist und Seele für die Heilung
TV 63: Txane Bane – Die Huni Kuin, Hüter der Erde. Ein junger Schamane zwischen zwei Welten
Bildnachweis: © Pharmos Natur, Hartwig Kopp-Delaney
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Prof. Dr. Birgit Heller
Spiritual Care
Die Wiederentdeckung des »ganzen« Menschen
Gesundheit und Krankheit sind nicht etwa Antipoden, wie uns der kapitalistische Life-Style-Kult weismachen mag. Gesundheit und Krankheit sind Teil des Lebensprozesses, die den Menschen zu Einsicht und Veränderungen bringen können. Am Beispiel der Palliativmedizin zeigt die Autorin, dass eine freundschaftliche Verbindung zwischen Gesundheit und Krankheit uns in heilsame Selbst- und Lebensannahme führen kann.
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