Materielle und spirituelle Tugend

Auf der Suche nach einem wahrhaftigen Leben jenseits von Religion und Aufklärung

Materielle und spirituelle Tugend

Auf der Suche nach einem wahrhaftigen Leben jenseits von Religion und Aufklärung

Autor: Ronald Engert
Kategorie: Veden
Ausgabe Nr: 69

Als Gegenzug zur dogmatischen Religion hat die Aufklärung den selbstbestimmten Menschen ins Zentrum gestellt. Die Aufklärung lehnt aber transzendente Weltbezüge ab und läuft Gefahr, einer »anything goes«-Mentalität anheimzufallen. Ein selbstverantwortliches spirituelles Leben ist in shuddha sattva, der spirituellen Tugend, möglich. Sie transzendiert die materielle Welt und handelt in ihr, jedoch aus der spirituellen Sphäre heraus.

Der Begriff »Tugend« ist unmodern. Er klingt nach altmodischen Moralvorstellungen, die wir längst überwunden haben. »Tugend« wirkt zugeknöpft und verklemmt. Wir sind heute frei und können tun, was immer wir wollen, solange wir niemandem offensichtlich Schaden zufügen. Es gibt keine verbindlichen Moralvorstellungen mehr und es gilt das »anything goes«. Jeder urteilt für sich selbst aus seiner Souveränität heraus und niemandem dürfen Vorschriften gemacht werden.

»Ich bin in dieser Welt, aber nicht von dieser Welt.«
– Jesus

Um sich in einer Diskussion des Tugend-Begriffs von seiner muffigen Anmutung, die kritisiert und zurückgewiesen wird, abzuheben, ist die Unterscheidung in materielle und spirituelle Tugend sinnvoll. Das, was zu Recht als fremdbestimmte, moralisierende Regelfixierung vom freien und aufgeklärten Menschen zurückgewiesen wird, ist die materielle Tugend. Was aber als ewiges Prinzip zur Wahrheit gehört und nicht reduzierbar ist, ist die spirituelle Tugend. Materielle Tugend beruht auf moralischen Regeln. Spirituelle Tugend ist die höhere Einsicht in die Bedingungen der Lebendigkeit und eine daraus sich ergebende bewusste Lebensweise. Materielle Tugend beruht auf Dogma, spirituelle Tugend auf Erkenntnis.

Religion und Aufklärung

Lange wurden Ethik und Moral im Bereich der Religion verhandelt. Ein ethisches bzw. tugendhaftes Verhalten wurde durch die religiösen Gesetze definiert. Ein Verstoß gegen diese Gesetze war eine Sünde und somit strafbar. Mit der Aufklärung wurde die Autorität der Religion beendet und als Maßstab für ethisches Verhalten gilt heute nicht mehr ein gottgefälliges Leben, sondern das Prinzip des Humanismus.

Der Humanismus zeichnet sich durch seine nicht transzendente Perspektive aus.

Der Humanismus ist das Wertesystem der Menschlichkeit, also die Programmatik zu dem, was auf der lebenspraktischen Ebene von Mensch zu Mensch gewünscht ist. Der Humanismus zeichnet sich durch seine nicht transzendente Perspektive aus. Während die Religion als absoluten Bezugspunkt die transzendente Gottheit im Jenseits hat, bezieht sich die Aufklärung mit Kants kategorischem Imperativ auf ein rein immanentes Bezugssystem. Innerhalb der irdischen und innerhalb der menschlichen Sphäre soll eine Werteentscheidung darüber getroffen werden, was richtig und falsch ist.

 

Wie der Gegensatz von Religion und Aufklärung gelöst werden kann, können Sie im vollständigen Artikel lesen. (Bestellmöglichkeit am Ende des Beitrags!)

 

Religion und Spiritualität

Die moderne nicht konfessionell gebundene Spiritualität grenzt sich gerne von dem Begriff der Religion ab. »Religion« wird als das dogmatische System einer Orthodoxie verstanden, als Relikt der kollektivistischen Periode der Menschheit, in der durch eine äußere Autorität für alle verbindliche Regeln und Gesetze definiert wurden, ohne die Selbstbestimmung des Menschen und seine eigene Urteilskraft als Individuum gelten zu lassen. Wir sind nun in der modernen Periode der Menschheit, die durch das aufgeklärte autonome Subjekt gekennzeichnet ist. Die traditionellen Religionen sind der Säkularisierung gewichen, wiewohl Religion auch im europäischen Westen in der Form des Christentums durchaus noch existiert, wenn auch mit schwindenden Mitgliederzahlen. In den nicht modernistischen Gesellschaften wie zum Beispiel dem Nahen und Fernen Osten, insbesondere in den islamischen Ländern, ist die kollektivistische Form der Religion noch die stärkste bestimmende Kraft.

Auf der Suche nach einem wahrhaftigen Leben jenseits von Religion und Aufklärung

Spiritualität gilt in den progressiven Kreisen der westlichen Metropolengesellschaften als nicht dogmatische und nicht kulturell gebundene Form der Einbeziehung einer numinosen Sphäre in die lebenspraktische Wirklichkeit. Diese wird gerne unpersönlich oder neutral adressiert, zum Beispiel als »höhere Macht«, »Geist«, »das Göttliche« und dergleichen. Gerne werden auch Begriffe aus fremden Kulturen verwendet, wie zum Beispiel »Brahman« (Sankrit) oder »Wakan Tanka« (Lakota). Auffallend ist die wiederkehrende Betonung, dass es jeder so nennen kann wie er möchte. Darin drückt sich die undogmatische und freigeistige Herangehensweise aus. Es macht die Sache aber auch komplizierter, da eine einheitliche Namensgebung fehlt. Besonders belastet ist heutzutage der Begriff »Gott.«

 

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Die drei materiellen Tugenden

Der Sanskrit-Begriff für die Zustandsformen oder Erscheinungsweisen der materiellen Natur lautet »guna«, was allgemein übersetzt in etwa »Eigenschaft« bedeutet. Die Lehre der Bhagavad-gita geht davon aus, dass die Außenwelt durch das Bewusstsein wahrgenommen wird. Wie die Außenwelt erscheint und wie das Bewusstsein bzw. der Mensch auf diese Außenwelt reagiert, ist vom Bewusstseinszustand des Menschen abhängig. Dieser Bewusstseinszustand kommt in drei unterschiedlichen gunas zum Ausdruck:

  1. Tugend (sattva-guna)
  2. Leidenschaft (raja-guna)
  3. Unwissenheit (tamas-guna)
In Unwissenheit wird Freiheit für Knechtschaft und Knechtschaft für Freiheit gehalten.

Bedeutend ist, dass dies Eigenschaften des materiellen Bewusstseins sind. Im spirituellen Bewusstsein kommen diese gunas nicht zum Tragen, denn man sieht im spirituellen Bewusstsein die Dinge, wie sie sind. Auch dieses spirituelle Bewusstsein, der erwachte oder erleuchtete Zustand, wird in der Bhagavad-gita ausführlich beschrieben (siehe unten). Im materiellen Bewusstsein befindet sich der Mensch immer in diesen drei Erscheinungsweisen (gunas), wobei in der Regel eine dominant ist und die anderen im Hintergrund mitlaufen. Welche die Dominante ist, kann sich ändern.

In einer ersten einfachen Definition der drei Erscheinungsweisen der materiellen Natur zeichnen sich Menschen in der Erscheinungsweise der Unwissenheit, tamas, vor allen Dingen durch Unwissenheit und Trägheit aus; Menschen in der Erscheinungsweise der Leidenschaft, rajas, sind durch Leidenschaft und Aktivismus dominiert; und Menschen in der Erscheinungsweise der Tugend, sattva, werden durch Tugend und Reinheit konditioniert. Der Tradition zufolge ist tamas eine Zustand geistiger Umnachtung, der nicht für spirituellen Fortschritt geeignet ist. Die nächsthöhere Stufe, rajas, ist durch ein starkes Ego getrieben. Sattva ist die höchste Stufe und stellt genügend Reinheit des Bewusstseins und die geeigneten lebenspraktischen Verhaltensweisen bereit, um in die Ebene des spirituellen Bewusstseins, in die Ebene der Transzendenz einzutreten. Dieser transzendente Zustand befindet sich jenseits der Erscheinungsweisen der materiellen Natur.

»Wenn jemand wirklich erkennt, dass in allen Handlungen niemand anders als diese Erscheinungsweisen der Natur tätig sind, und weiß, dass der Höchste Herr transzendental zu diesen Erscheinungsweisen ist, erreicht er Meine spirituelle Natur.« (Vers 14.19)

 

Erläuterung: Hier beginnt nun die Beschreibung von shuddha-sattva. Die Bhagavad-gita wird von Krishna, der Höchsten Persönlichkeit Gottes, gesprochen. Er sagt hier, dass man den Unterschied zwischen den gunas und Gott verstehen sollte, denn dann erreicht man qualitativ den gleichen transzendentalen Zustand wie Gott. Alle materiellen Handlungen werden durch die Bedingtheiten der gunas innerhalb der Kausalität verursacht. Sie werden nicht durch die Seele und auch nicht durch Gott verursacht. Davon abgesehen gibt es sehr wohl spirituelle Handlungen. (…)

Materielle und spirituelle Tugend

Durch geeignete Lebensführung ist es möglich, sich von tamas über rajas zu sattva zu entwickeln und von dort in die transzendentale Ebene einzutreten. Materielle Tugend, sattva-guna, gehört auch zur materiellen Sphäre, obwohl es förderlich für spirituelles Leben ist. Spirituelle Tugend, shuddha-sattva, erfüllt alle Qualitäten von materieller Tugend, sattva-guna, automatisch und ist noch mehr. Man ist nicht mehr an die Ergebnisse der Handlung anhaftet. Man ist ausgeglichen und frei von Anhaftung und Abstoßung. Man ist immer motiviert. Zusätzlich ist man auf der spirituellen Ebene vollständig befreit und erfährt die spirituelle Liebe, die aus der Begegnung mit Göttin-Gott entspringt. Diese erleuchtet alles, wie die Sonne am Tag alles erleuchtet. Man sieht alle Lebewesen mit gleichen Augen und nimmt eine neutrale, transzendentale Stellung ein. Lust und Zorn verlieren ihre Macht über diesen Menschen. In der spirituellen Reinheit und Tugend sind die Wahrnehmungen und Handlungen nicht mehr durch das materielle Bewusstsein beeinflusst. Reine Wahrnehmung bedeutet, die Dinge so zu sehen, wie sie wirklich sind, d.h. sie sind nicht mehr durch die egoistische Brille gefärbt, die die Dinge mit einer Meinung oder einer Parteilichkeit belegt. Es ist der reine, wertfreie Blick. Ein solcher Mensch schaut von außen auf die Bedingtheiten der Menschen und erkennt, wie ihre Konzepte und Motive aus den gunas hervorgehen, wie sie getrieben und unfrei sind und wie sie Liebe und Erfüllung in den falschen Dingen suchen.

Zum Autor

Ronald Engert

Ronald Engert,

geb. 1961. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, später Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. Seit 2015 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Autor von Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung und Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts.

Blog: www.ronaldengert.com

Bildnachweis: © Moira Gil, dondeg.wordpress.com

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Ronald Engert
Materielle und Spirituelle Tugend

Als Gegenzug zur dogmatischen Religion hat die Aufklärung den selbstbestimmten Menschen ins Zentrum gestellt. Die Aufklärung lehnt aber transzendente Weltbezüge ab und läuft Gefahr, einer »anything goes«-Mentalität anheimzufallen. Ein selbstverantwortliches spirituelles Leben ist in shuddha sattva, der spirituellen Tugend, möglich. Sie transzendiert die materielle Welt und handelt in ihr, jedoch aus der spirituellen Sphäre heraus.
 

 

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