15 Feb »Der in Not und Armut is’, der komm zu mir: Ich helf’ gewiss!«
Die bärtige Heilige Kümmernis alias Wilgefortis, eine weibliche Form des gekreuzigten Christus
Autor: Clemens Zerling
Kategorie: Christentum
Ausgabe Nr: 58
Weibliche Heilige sind landläufig wenig bekannt. Vielmehr scheint es, als gäbe es nur männliche spirituelle Leuchttürme. Der Autor berichtet in diesem Artikel historisch fundiert über die Heilige Kümmernis. Wie jeder Heilige musste auch sie den Weg des Kreuzes in die Dunkelheit gehen, um daraus gestärkt ins Licht zu gehen und nun anderen in Not und Armut zu helfen.
Eines Tages, so beginnt eine Legende aus Neufahrn bei München, als ein Holzknecht gerade mit anderen in der bayerischen Isar-Au bei Grüneck Bäume fällte, entdeckte er auf dem Fluss das »pilt« der heiligen Kreuzespassion. Seltsamerweise schwamm das Bild die Isar hinauf. Erstaunt über dieses Phänomen wollte der Knecht es mit seinen Kollegen aus dem Wasser heranziehen. Dabei traf einer der Männer das Bild ungewollt mit seiner Axt. Sogleich sickerte Blut aus der beigebrachten Wunde. Nachdem die Arbeiter das mysteriöse Objekt ans Ufer geholt hatten, eilten sie nach Hause und erzählten aufgeregt von diesem Wunder. Rasch verbreitete sich die Kunde und erreichte auch den Hof des Bischofs von Freising. Er nahte mit seinem ganzen Kapitel, um das offensichtliche Gnadenobjekt feierlich einzuholen. In ihrer Uneinigkeit darüber, wo es zur Verehrung aufgestellt werden sollte, entschieden die Freisinger, es doch den Ort selbst bestimmen zu lassen. Zu diesem Zwecke legten sie den Fund auf einen mit zwei Ochsen bespannten Wagen und überließen es dem Instinkt der Tiere, ein Ziel zu suchen. Die Ochsen zogen gemächlich gegen Neufahrn. Nahe dem Dorf blieben die Tiere wie angewurzelt stehen. Daraus schloss man, das Gnadenbild wolle hier verehrt sein.1 Bei und nach seiner Aufstellung sollen sich noch weitere Wunder zugetragen haben.
Gemäß jener Legende hätten sich Auffindung des Gnadenbildes und erste Wunder im Jahre 1397 zugetragen. Tatsächlich stammt der älteste Teil der Kirche »Zum Heiligen Kreuz und St. Wilgefortis« in Neufahrn, wo dieser romanische Christus (Volto Santo Typus, 146 cm hoch) seinen Platz fand, aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts. Jüngste Forschungen datieren das Gnadenbild allerdings bereits auf Mitte des 12. Jahrhunderts. Sieben große gotische Holzgemäldetafeln von 1527 in der Kirche zeigen mit erläuterndem Text die Hauptmomente der Sage.
Gegen Ende des 16. Jahrhunderts aber setzte eine Neuinterpretation des »kreuzespilts« ein. Jetzt sollte das verehrte Objekt – bei dem sich seltsame Dinge ereigneten und wundersame Heilungen erfolgten – Leben, Leiden und Sterben der heiligen »Junchfrauen S. Kumernus« vorstellen.3 Christus am Kreuz musste zu einer Christa mutiert sein. Um alle Zweifel zu zerstreuen, verkündete ab 1661 eine Inschrift am Gnadenbild: »S. Wilgefortis sive Liberata. V. M. 1661. H. Jungfrau und Martyrerin ohne Khummernuß bitt für uns!« Rasch mauserte sich das arme Bauerndorf zum zentralen Wallfahrtsort einer »Kümmernis-Verehrung« in Bayern. Was war passiert? Und wer ist bloß diese merkwürdige Jungfrau Wilgefortis – Kümmernis?
Eine bärtige Heilige am Kreuz
Wie ein Lauffeuer verbreiten sich seit Anfang des 15. Jahrhunderts aus dem Herzogtum Brabant auf mündlichem wie schriftlichem Wege Wanderlegenden von einer bärtigen Heiligen. Sie dürften aber vorher bereits im Umlauf gewesen und erst jetzt auf besonders fruchtbaren Boden gefallen sein.4 »Die heylighe maghet Wilgefortis [vermutlich von virgo fortis = tapfere Jungfrau], Ontcommer in duytsche ghenoemt …«, so beginnt die bislang als älteste angesehene niederländische Fassung der Legende aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. In deutscher Sprache heißt die »heilige Magd« Wilgefortis also Ontkommer, was so viel wie Entkümmerin oder Entkümmerung bedeutet. Einen Eigennamen trägt sie nicht. Über sie wissen im brabantischen Steenbergen Wallfahrer zahlreiche Wunder zu berichten. Von ca. 1400 an haben sich Miniaturen dieser Heiligen erhalten, die mit Bart am Kreuz hängt oder (allerdings selten) ein Kreuz in der Hand hält.5 Im Kern stimmen ihre unterschiedlichen Legendenfassungen überein. Die schöne, kluge und umworbene Tochter eines portugiesischen Heidenkönigs wird von ihrem Vater ins Gefängnis geworfen, weil sie Christin geworden ist. Unter keinen Umständen will sie dem neuen Glauben abschwören und hat sich sogar heimlich ihrem Gott als Braut angelobt. Außerdem sträubt sie sich vehement gegen eine Ehe mit dem ebenfalls heidnischen König von Sizilien, den ihr Vater aus politischen Gründen für eine prima Partie hält. Im Gefängnis fleht sie zum Gekreuzigten, er möge sie doch so verändern, dass kein Mann sie mehr begehre.
Im Gefängnis fleht sie zum Gekreuzigten, er möge sie doch so verändern, dass kein Mann sie mehr begehre.
Bis hierhin bewegen wir uns in durchaus üblichen Stereotypen von Heiligen- und Martyrerdichtungen. Neu und ungewöhnlich mutet das Motiv ihrer Geschlechtsumwandlung an. Ihr wächst nämlich nun ein hässlicher Bart. Heftig schreckt ihr Vater vor ihrem veränderten Aussehen zurück, als er das Verlies betritt. Da sie sich auch weiterhin seinen Forderungen widersetzt, droht er ihr wütend, sie ihrem Gott noch ähnlicher werden und sie kreuzigen zu lassen. Standhaft erklärt sie sich dazu bereit, und es folgt ein grausames Martyrium. Kurz vor ihrem Tod bittet sie Jesus Christus, dass alle, »die in Erinnerung und im Gedächtnis ihres [eigenen] Leidens den gekreuzigten Gott anrufen«, erlöst werden mögen »von allen Mühen, Leid und Bedrängnis des Herzens, des Körpers und des Geistes durch ihre Gebete«.6 St. Kümmernis ist also nicht nur eine übliche Heilige als Vermittlerin zu Christus, sondern selbst ein Allheilmittel und ganzheitliche Seelenmedizin.
Nur mit den Händen an den Querbalken gefesselt hängt die Heilige am Kreuz, gekleidet in ein langes weißes, blaues oder rotes Gewand, mit Krone und meist bärtig dargestellt, die ungenagelten beschuhten Füße auf einer Stütze oder frei schwebend. Französische Fassungen der Dichtung betonten, dass die Heilige sich Christus zum Gemahl erwählt habe und ihm ähnlich geworden sei. Verursachte ihre Identifizierung mit dem Gekreuzigten eine weibliche Ausprägung des Christusbildes? Ältere Legenden über Bart tragende Frauen, z. B. die hl. Jungfrau Paula von Avila und die hl. Witwe Galla von Rom (um 500-560), könnten zur Stütze und Ausbildung ihrer Legende beigetragen haben.
Wir stehen bei der seltsamen Heiligen, die im belgisch-niederländischen Raum auftauchte, aber nie existierte, vor einem höchst ungewöhnlichen Phänomen. Aus welchen Lebens- und Glaubensgefühlen keimten im Hochmittelalter oder später ihre Legenden auf, an denen immer weiter gesponnen wurde? Entstand ihr Bild vielleicht in mystisch geprägten Kreisen wie der Beginen und der Laienbewegung der Devotio moderna (= Neue Frömmigkeit)?7 Zu Trägern ihres Kultes wurden jedenfalls die Klöster, das Bürgertum und der Adel. Nach zahlreichen Überlieferungen soll Wilgefortis auch in den Niederlanden begraben liegen. Während bei der katholischen Minderheit der Kult fortlebte, verschwanden in den calvinistisch geprägten Regionen alle Spuren mit der Reformation. Oder spielten bei der Herausformung dieser merkwürdigen Heiligen noch andere Komponenten eine Rolle? […]
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Clemens Zerling
»Der in Not und Armut is’, der komm zu mir: Ich helf’ gewiss!«
Die bärtige Heilige Kümmernis alias Wilgefortis, eine weibliche Form des gekreuzigten Christus
Weibliche Heilige sind landläufig wenig bekannt. Vielmehr scheint es, als gäbe es nur männliche spirituelle Leuchttürme. Der Autor berichtet in diesem Artikel historisch fundiert über die Heilige Kümmernis. Wie jeder Heilige musste auch sie den Weg des Kreuzes in die Dunkelheit gehen, um daraus gestärkt ins Licht zu gehen und nun anderen in Not und Armut zu helfen.
Artikel zum Thema in früheren Ausgaben:
TV 14/15: Eire Rautenberg – Deutsche Mythologie.
Die Götter und Göttinnen der Südgermanen
TV 17: Buddhadev Chattopadyaya – Die Kunst des Werdens.
Indische Brahmari-Malerei
TV 18: Traudl Walden – Die Bäume Odins.
Altgermanisches Wissen über die Heilkräfte der Bäume
TV 22: Eire Rautenberg – Irland. Mysterienstätte der Menschheit
TV 30/31: Bruder Paulus – Zwiegespräche mit Gott. Ein Mönch im 21. Jahrhundert
TV 49: Clemens Zerling – Ahnengeister oder Ahnenmuster
TV 52: Clemens Zerling – Die Entstehung von Ton und Wort aus dem Stein
Bildnachweis: © Frankipanc, wikimedia, Roman von Götz
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