Männliche und weibliche Qualitäten

Männliche und weibliche Qualitäten

Warum es konstruktive und sinnvolle Unterschiede gibt

von Saskia Baumgart und Ronald Engert

Aus Anlass eines Artikels bei Edition F möchten wir hier einige Stellungnahmen zum Thema weibliche und männliche Qualitäten aus spiritueller Sicht abgeben. Die zeitgenössische Gender-Diskussion bewegt die Frage, ob es überhaupt einen Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Qualitäten gibt. Zur Klärung dieser Frage werden biologische und soziale Faktoren ins Feld geführt. Wie eine richtige Verschränkung von biologischen und sozial konditionierten Faktoren aussehen könnte, untersucht dieser Beitrag.

Die Autorin Berfîn Marx beschreibt in ihrem Artikel Patriarchale Strömungen im Netz: Zwischen ›Divine Femininity‹ und ›Alpha‹-Männern eine Strömung in der spirituellen Szene, die sie zwar einerseits nicht ganz unzutreffend kritisiert, andererseits aber auch zu einseitig darstellt. Wir möchten deshalb hier, aus der Sicht einer aufgeklärten Spiritualität, unser Verständnis der Unterscheidung von männlichen und weiblichen Qualitäten vorstellen.

Männliche und weibliche Qualitäten • Warum es konstruktive und sinnvolle Unterschiede gibt
© Foto Tania Medina / Unsplash

Der Beitrag von Berfîn Marx (Ronald)

Marx eröffnet mit folgender Einschätzung:

In einigen spirituellen Kreisen wird an die Existenz einer ›maskulinen‹ und ›femininen‹ Energie geglaubt. Entsprechende Bubbles in den sozialen Medien, in denen hauptsächlich cis Frauen anzutreffen sind, vermitteln, wie man als Frau die ›weibliche Göttlichkeit‹ verkörpern kann und die ›männliche Energie‹ in sich loslassen sollte. Diese binäre Denkweise hinsichtlich des Geschlechtes zeigt, wie begrenzt und unfrei solche Denkblasen sein können, wenn es um das Ausleben der eigenen Geschlechtsidentität geht.

In ihrem Artikel beschreibt Marx dann eine ›Divine femininity‹-Bewegung, in der sich Frauen ihrer Meinung nach in dem alten Rollenmodell einer zurückhaltenden, ruhigen, angepassten Frau befinden. Sie sieht darin einen Rückfall in patriarchale Strukturen und einen Verlust aufgeklärter Positionen. Marx bringt einige Beispiele von Instagram- und TikTok-Influencerinnen, die sie in der Folge verallgemeinert und der spirituellen Szene zuordnet. Diese Beispiele sind aber nicht repräsentativ für einen zeitgemäßen spirituellen Ansatz. Es sind eher selektiv ausgewählte Fälle, die ihre These unterstützen sollen, dass es sich bei dieser Bewegung um reaktionäre und antifeministische Positionen handelt.

Wir stimmen Berfîn Marx einerseits zu, dass es diese Strömungen gibt. Wir kritisieren aber andererseits ihre Pauschalisierung und mangelnde Differenzierung, die zudem mit einem Vorurteil gegenüber spirituellen Ansätzen an sich gepaart ist. Ihre Analogisierung dieser vorgeblich ›spirituellen‹ ›Divine Feminity‹ Bewegung mit der ›Alpha male‹-Bewegung ist darüber hinaus nicht nachvollziehbar.

Zu der von ihr identifizierten ›Divine Feminity‹-Bewegung schreibt sie:

Die ›Divine Feminity‹-Bewegung nimmt Frauen ihre Autonomie, indem es ihnen einredet, dass eine ›echte und vollkommene‹ Frau sich zurücklehnen und führen lassen sollte, anstatt aktiv etwas zu tun. Es verlangt von Frauen, dass sie still, weich und unsichtbar sind, keinen Raum einnehmen und ihre Stimme nicht erheben. Dieses Konzept klingt wie Musik in den Ohren des Patriarchats. Hätten unsere weiblichen Vorfahr*innen diesen Werten nachgegeben, hätten Frauen heute weder politisch noch wirtschaftlich teilhaben können.

Dieser Begriff der ›divine femininity‹ ist kein stehender Begriff in der spirituellen Szene, der eine größere Bewegung beschreiben würde. Als Oberbegriff für das göttliche Weibliche ist er für spirituell orientierte Menschen aber durchaus verstehbar und nachvollziehbar. Ansonsten ist das, was Marx beschreibt, eine Strömung, die zwar auch spirituelle Versatzstücke verwendet, aber im Grunde eher psychologische und soziale Motive hat, wie das eigene Selbstbewusstsein zu stärken und einen Partner zu finden. Unsere eigene Recherche lässt eher das Bild von einer Lifestyle-Szene entstehen, der es um Wellness und Beauty geht. Zudem haben sicherlich nicht alle Influencerinnen, die den Begriff verwenden, reaktionäre oder antifeministische Ansichten. Eher liest man Selbstbeschreibungen wie »feminine liberator« (@thetrapwitch).

Marx spricht von »spirituellen Influencer*innen« und kritisiert »die romantisierte Darstellung traditioneller Geschlechterrollen in der spirituellen Community«. Sie macht damit eine deutliche Zuordnung zur Spiritualität, die sie als Hort der Unterdrückung von Frauen sieht.

Man kann das Gedankengut und die Wertvorstellungen, die Marx kritisiert, im Netz finden und es ist auch ganz richtig, wenn hier eine kritische Stellungnahme erfolgt. Solche Positionen stellen sicherlich keine aufgeklärte Spiritualität dar. Leider lassen einige Anhänger:innen der Esoterik, des New Age und auch der Spiritualität aufgeklärtes Denken vermissen. Sie bewegen sich in prärationalen anstatt in transrationalen Weltanschauungen (zur Prä-Trans-Verwechslung siehe u.a. Ken Wilber, später mehr dazu).

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Die grundlegende Komplementarität (Saskia)

Beim Lesen des Artikels von Berfin Marx frage ich mich, woher ihre Einschätzung kommt. Offenbar vermengt die Autorin das gesellschaftlich neu erscheinende Phänomen »Divine Feminine«, das aus spirituellen Kreisen stammt und sich auf dem Weg zum Mainstream befindet, mit dem gesellschaftlichen Symptom der toxischen Maskulinität. Ganz im Gegensatz zu ihrer erstaunlichen Einschätzung erscheinen diese aktuell polarisierenden Tendenzen innerhalb der Gesellschaft als klare Gegensätze: »Toxic Masculinity« versus »Divine Feminine«. Das massive Vorhandensein einer zerstörerischen Männlichkeit war ein auslösender Faktor für die Haltung einer klaren Patriarchatskritik für die Vertreter:innen der Strömung des »Divine Feminine«, und damit zu einer Rehabilitation des Weiblichen.

Grundlage des Diskurses ist die Akzeptanz einer natürlichen und offenkundigen Polarität von Männlich-Weiblich oder Yin und Yang, wie sie z.B. im fernöstlichen Kontext der taoistischen Philosophie des alten China beschrieben wird.

Die natürlich vorhandene Komplementarität bewusst wahrzunehmen und sie als Grundlage des Lebens zu verstehen und anzuerkennen, anstatt sie im Sinne von Gleichmacherei zu nivellieren, halte ich für essentiell, da wir diese Gegenpoligkeit überall vorfinden. Wir finden sie als existentielle Grundlage schöpferischer Energie überall, wo Leben und Lebendigkeit entsteht.

Gleiche Rechte für alle Menschen unabhängig von ihrer Geschlechtlichkeit einzufordern ist absolut notwendig, im Sinne der Ethik und der Möglichkeit einer friedlichen kooperativen Lebensweise. Aber diese Forderung ist nicht dasselbe wie der Ruf nach Uniformität, der schon bei den Kommunisten des jüngeren Chinas scheitern musste. Hierbei wurden biologische Gegebenheiten geleugnet, die letztlich immer ganzheitlicher Natur sind, und die biologische, geistige und seelische Ausstattung des Menschen umfassen. Insofern gibt es klare Unterschiede, die sich auf die innere Ausstattung und das äußere Erscheinen und Verhalten von Frauen und Männern beziehen. Vielleicht sollte ich hier besser von weiblichen und männlichen Wesen sprechen? Kurzum, wären wir alle gleichgeschaltet und einfach zu beschreiben, wie weiße unbeschriebene Blätter, wäre eine entsprechende Realitätsbeschreibung einfach. Aber angesichts der Komplexität, die Mensch verkörpert, ist dies nicht zureichend.

Das sich ergänzende Gegenpolprinzip der Yin-Yang-Balance des Lebens prägt sämtliche Vorgänge im Miteinander des lebendigen Kollektivs wie im einzelnen Organismus, überall in der Natur.

Es ermöglicht das Leben und gestaltet den Austausch der Lebewesen so vielfältig und nachhaltig.

Die existentiell drängende Frage ist jene, wie eine gesunde Balance hergestellt werden kann, die auf Ausgleich ebenbürtiger und harmonisch miteinander schwingender Wesen und Kräfte basiert. Die Suche nach einer »Goldenen Mitte« ist uralt, universell wie hochaktuell. Für einen derartigen Reifeprozess braucht es ein Bewusstsein um den eigenen Wert im Balancegefüge.

Der dafür notwendige Selbstwert wurde dem Weiblichen über Jahrtausende von patriarchaler Gesellschaftsordnung systematisch und mit brutalsten Mitteln aberkannt.

Damit einhergehend wurde der Wert des Männlichen pathologisch überhöht, was zu Dysbalance in Form von Dominanz, Unterwerfung, Egozentrik, Sexismus, Kolonialismus, Rassismus, Faschismus etc., mit anderen Worten: zu überbordenden pathologischen Machtspielen und gefährlicher Asozialität geführt hat. Daraus sind Jahrtausende der männlichen Kriegsführung gegen das Leben erwachsen, mit kollektivem wie individuellem Gepräge, in Beziehungen wie innerhalb der Gesellschaft, auf allen ihren Ebenen.

Was bleibt, ist ein ausgeschlachteter Planet und Menschenmassen, die zunehmend auf der Flucht sind, auf der Suche nach einer heileren Welt, die im bedrohlichen Schwund begriffen ist.

Ursache der Symptomatik ist eine massive Disharmonie zwischen den Polaritäten.

Hier liegt das menschengemachte Problem – in Form der ungleichen Bewertung komplementärer Kräfte und ihrer Erscheinungsformen, nicht in der natürlichen Unterschiedlichkeit der Konstitution von männlich versus weiblich.

Unterschiede, insofern akzeptiert und anerkannt, sind potenzieller Reichtum und kein Problem, wie wir heutzutage immer mehr erkennen können.

Das galt lange nicht im Patriarchat, einer Welt im Maskulinitätswahn, die aufgrund eines drastischen Mangels an femininem Ausgleich immer blinder und selbstzerstörerischer wurde. Ein bedrohlicher Mangel an kritischer Selbstreflektion geht meist mit dem Mangel eines gleichwertigen Gegenüber einher. Die Folgen davon sind für uns alle schmerzhaft spürbar, den Preis des daraus folgenden Leidens zahlen wir gemeinschaftlich.

Wenn wir uns der Sichtweise des »Divine Feminine« zuwenden, findet sich hier die Haltung, weibliche Potenziale bewusst anzuerkennen, um sie, in sich selbst wie im Ganzen, zu stärken.

Hier handelt es sich um einen Weg der Selbstwertschätzung und -ermächtigung, nach einer langen Phase der Menschheitsgeschichte, in der die Frau systematisch ausgebeutet wurde. In der jahrtausendelangen Geschichte des Patriarchats, sogenannter »Vaterherrschaft«, hat die Frau, so wie alle als weiblich geltenden Eigenschaften und Tätigkeiten, keine angemessene Anerkennung oder Respekt erfahren. Weibliches Wirken und Sein in der Welt wurden missbraucht, ausgebeutet und entwürdigt. Analog zum Umgang mit der Natur und ihren reichen Ressourcen hat diese Art der Entrechtung zur aktuell immer sichtbarer werdenden Katastrophe auf Mutter-Planet Erde geführt. Die Konsequenzen werden uns drastisch und schmerzhaft vor Augen geführt. Eine Ursachenforschung und nachhaltige Behandlung dieses Missstandes erfordert genaues Hinsehen, jenseits der gewohnt oberflächlichen symptomorientierten Betrachtungsweise. Führt der Blick dabei nicht in die Tiefe, droht weitere Unterdrückung und eine Verschärfung des bereits vorhandenen Konfliktes.

Männliche und weibliche Qualitäten • Warum es konstruktive und sinnvolle Unterschiede gibt
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Von der Gegensätzlichkeit und Gleichwertigheit der Geschlechterqualitäten auszugehen, bringt uns dem positiven Wandel in Richtung planetarer Verantwortung und Überlebensfähigkeit deutlich näher – einem Zustand zunehmender Gesundheit durch die Balance der Kräfte. Dafür braucht es Heilung, als Folge klarer Selbsterkenntnis, gefordert von Jedermann und jeder Frau. Eine solch herausfordernde Bedingung an die Menschheit kann qualitatives Wachstum und eine nachhaltige Verbesserung der inneren und äußeren Zustände bewirken, hin zu größerer Menschlichkeit und wahrhaftig sozialem Miteinander. Diese Qualität wird als existentielle Forderung des Lebens an sich selbst dringend benötigt. Um dem Aufruf folgen zu können, ist es unabdingbar, dass wir Verantwortung für die Mitgestaltung unseres Lebens übernehmen, in einem größeren Sinne, einer höheren Ethik folgend. Es erfordert Kraft und den Mut zu positiver Gestaltungsmacht, fern gewohnter Egozentrik. Für eine solch wegweisende Kursänderung spielt die Präsenz der Weiblichkeit und die hörbar-fühlbaren Stimmen der Frauen eine zentrale Rolle.

Gibt es weibliche und männliche Essenzen? (Ronald)

Marx stellt in ihrem Beitrag die ›Divine Feminity‹-Bewegung den ›Alpha‹-Männern gegenüber. Was die Bewegung der Alpha-Männer betrifft, so haben diese mit Spiritualität keine Verbindung. Wenn Marx aber diese Frauenbewegung als spirituelle liest, dann wirkt es etwas willkürlich, wenn sie diese mit der ›Alpha Male‹-Bewegung in einen Zusammenhang bringt. Den Zusammenhang sieht sie darin, dass beide Bewegungen etwas eint, nämlich ihr reaktionäres patriarchales Gedankengut:

In der digitalen Welt zirkulieren derzeit zwei aufstrebende Bewegungen, die scheinbar unterschiedliche Ansätze zur Definition von Weiblichkeit und Männlichkeit verfolgen, dabei aber beide veraltete Geschlechterrollen in den Köpfen der Menschen verankern.

Marx kritisiert die Unterscheidung in weiblich und männlich generell als veraltet und reaktionär. Sie tritt als eine Vertreterin der linksliberalen Moderne auf, die sich eher in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik bewegt und spirituellen Ansätzen uninteressiert oder ablehnend begegnet. Als Vertreterin der Gendertheorie ist für sie die Annahme von weiblichen und männlichen Qualitäten ein Essentialismus. Das bedeutet, es wird eine feststehende, definierte Essenz des Weiblichen bzw. Männlichen behauptet, die so in der Wirklichkeit unserer Körper und Identitäten nicht vorhanden ist. Aus der Sicht der Gendertheorie ist die Zuschreibung von Eigenschaften zu männlichen oder weiblichen Rollen eine soziale Konstruktion, die auf die patriarchale Unterdrückung der Frau abzielt.

Für die sogenannte ›Alpha Male‹-Bewegung bringt Marx dann ein einziges Beispiel: Andrew Tate, ein ehemaliger Kickboxer aus den USA, der mittlerweile ein Influencer in den sozialen Medien ist und einige Millionen Follower hat. Zu Tate sagt Wikipedia: »Seine chauvinistischen und frauenfeindlichen Äußerungen führten wiederholt zu Kontroversen.« Tate wurde Marx zufolge im Juni 2023 wegen Vergewaltigung und Menschenhandel angeklagt. Tate hat definitiv nichts mit Spiritualität zu tun und positioniert sich nicht in diese Richtung. Er ist vielmehr ein extremes Beispiel eines patriarchalen, chauvinistischen Mannes. Sicherlich gibt es diese Männer. Marx redet sich in dieser Passage sichtlich in Rage. Ihre binären Schwarz-Weiß-Beschreibungen zeichnen ein holzschnittartiges Bild. Tate wird als Repräsentant der Männer zur negativen Identifikationsfigur hochstilisiert.

Ohne Zweifel gibt es toxische Männlichkeit, und die Überwindung des Patriarchats ist eine notwendige Aufgabe unserer Gesellschaft. Das steht außer Frage. Das wird auch in der spirituellen Community ausführlich diskutiert. Was ist also ein nicht-patriarchaler Mann? Wer ist ein Mann, der alle Menschen gleichbehandelt, egal welche Ethnie, Geschlecht oder Klassenzugehörigkeit der andere hat?

Es ist ein Grundprinzip der Spiritualität, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, nicht zu diskriminieren und jedes Lebewesen zu achten.

Es ist ein elementares Grundprinzip der Spiritualität und auch der historischen Religionen, anderen Wesen keine Gewalt anzutun. Insofern ist auch die Diskriminierung oder Unterdrückung von Frauen nicht legitim. Gleichwohl geschieht das nach wie vor, weil Männer patriarchal geprägt sind. Auch für einen spirituell motivierten Mann ist es deshalb wichtig, an seinem Charakter und seinen Verhaltensweisen zu arbeiten.

Die elementaren Prinzipien einer spirituellen Lebensweise sind identisch mit den elementaren Prinzipien einer achtsamen und respektvollen Begegnung mit Frauen.

Es ist zudem unsinnig, das Potential von 50% der Menschheit brachliegen zu lassen. Mehr ›weibliche Energie‹ täte der Gesellschaft sehr gut (dazu später mehr).

Marx möchte den Unterschied zwischen Frau und Mann einebnen und stellt ihn in Abrede, um dadurch die Diskriminierung der Frau zu bekämpfen. Zum Beispiel weist sie auf den mittlerweile wohlbekannten Stereotyp an, dass emanzipierte Frauen in der Wirtschaft erfolgreich Führungspositionen einnehmen können. Wenn aber Frauen in der Wirtschaft erfolgreich sind, weil sie die männlich zugewiesenen Rollen spielen, ist der Gesellschaft damit noch nicht wirklich ein Dienst erwiesen. Ob Macht, Führungskompetenz, Durchsetzungskraft der männlichen Rolle zugeschrieben oder als nicht geschlechtsspezifisch eingestuft werden, sie repräsentieren nur eine Seite der Wirklichkeit. Ihr Gegenteil, Unterordnung, Geführtwerden, Hingabe, gilt in diesem Wertekanon als minderwertig.

Auch politische Vertreter:innen der Frauenemanzipation weisen bisweilen darauf hin, dass Frauen in Führungspositionen ›besser‹ wären, weil sie andere Qualitäten einbringen, wie zum Beispiel Teamgeist und Empathie. Also hier wird eine weiblich zugeschriebene Qualität identifiziert (was aber grade keine ist, s. unten). Die Ansichten gehen hier natürlich auseinander und insgesamt gibt es das ganze Spektrum von extrem binären bis zu komplett dekonstruierten Genderkonzepten.

Was die queere Community betrifft, so zeigt sich, dass Transmenschen ihre geschlechtliche Identität oft sehr deutlich zeichnen und dann auch entsprechend gelesen werden möchten, zwar anders als im heteronormativen Bias, aber sehr wohl geschlechtsspezifisch.

Wie sinnvoll und legitim ist also eine Unterscheidung in weibliche und männliche Qualitäten und was nützt sie uns? Sind entsprechende Vorstellungen der Geschlechterrollen sozial konditioniert und behauptet man nur entsprechende Rollenmodelle als naturgegeben, als reale Substanz oder Essenz, die in Wirklichkeit Konstrukte der patriarchalen Unterdrückung sind? Oder gibt es doch biologische Unterschiede, oder psychische oder gar spirituelle?

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Meine Erfahrung als SPIRITUELLE FRAU (Saskia)

Mein Leben war von Anfang an von Spiritualität, Musik, Kunst und einer geistigen Ausrichtung geprägt, in der mein Intellekt ebenso wie meine schöngeistigen Neigungen gefördert wurden. Verschiedene Lebensumstände und intensive Grenzerfahrungen haben meine spirituelle Ausrichtung klar gefordert und gefördert. All diesen Umständen und den an ihnen beteiligten Menschen bin ich zutiefst dankbar. All dem verdanke ich meinen Lebenskurs, der sich für mich in Übereinstimmung anfühlt – mit mir und meinen Bedürfnissen als Mensch, als hier menschlich verkörperte Seele, mit einer Persönlichkeit, die danach strebt sich kontinuierlich weiterzuentwickeln. Das ermöglicht es mir, auch für andere Menschen da zu sein, u.a. um meine Erfahrungen zu teilen. Auf diese Weise entstehen Synergien und co-kreatives Wachstum, was ich als tiefe Qualität und Schönheit des Lebens empfinde. Hier hat mir meine Weiblichkeit sehr gedient – so wie ich ihr dienen musste.

Das begann, sobald ich als Mädchen feststellen musste, dass ich mich in einer Welt befinde, in der das Weibliche nicht denselben Respekt erhält wie das Männliche, sondern starker struktureller Gewalt ausgesetzt ist. Auf diese Realitätserfahrung war ich nicht annähernd vorbereitet – eine Tatsache, die ich mit unzähligen Frauen dieser Welt teile.

Ich erkannte durch schmerzhafte Erfahrungen und Einblicke unterschiedlichster Art, wieviel sinnloses Tabu und erschreckendes Unrecht um das Thema Frau und Weiblichkeit weltweit existieren.

Den dahinter liegenden verborgenen kollektiven Schmerz, die Urwunde, wollte ich aufspüren, um einerseits zu verstehen, was zu ihr geführt hat, und andererseits, wie ich zu einer notwendigen Veränderung beitragen kann. Dabei las ich mich durch sämtliche Literatur, die ich aufspüren konnte, studierte Studienergebnissen und Statistiken, beschäftigte mich früh mit Matriarchatsforschung und traf entsprechende Vertreter:innen der Wissenschaft, die noch großen Anfeindungen ausgesetzt waren und deren Expert:innen-Tum um Anerkennung ringen musste. Der Kampf war auch hier präsent und für mich aufgrund der offensichtlichen Unrechtssituation nicht nachvollziehbar. Es ging hier wohl um eine tiefsitzende Abwehr, einer Angst vor Veränderung im Sinne einer Gleichberechtigung.

Das entmutigte mich nicht, obwohl auch ich Anfeindungen erlebte, mitunter sogar von Frauen. Diese unbequeme Situation zündete mich um so mehr an, um zu suchen und zu finden – meine eigenen Erkenntnisse und eine größere Freiheit. Ich sah klar, dass meine Ahn:innen mir den Weg dazu geebnet hatten, auch weil sie selbst unter den fatalen Einschränkungen gelitten haben. Sie wurden massiv daran gehindert, ihr eigenes Potential zu entfalten. Den Schmerz, die Trauer darüber und  die unterdrückte Wut konnte ich spüren, auch sie war mir kraftvoller Treibstoff auf meinem Weg.

In den Traditionen der indigenen Kulturen der Erde wurde ich fündig zur kardinalen Fragestellung, wie es möglich ist, eine andere Wahl zu treffen, im Sinne des Menschseins und der Verbundenheit zur Erde. Die spirituelle Tradition der sogenannten »Naturreligion« oder des Schamanismus aus vorpatriarchaler Zeit ließ mich fündig werden. Diese ganzheitliche Form von Spiritualität ist unmittelbar verknüpft mit der Lebensweise und Kultur der Ureinwohner der Erde, sofern sie nicht zu stark überformt wurde, durch die Zwangsmissionierung ihrer Unterdrücker, Kolonisatoren genannt.

Spuren der Suche führten mich auch in das Berliner Pergamon-Museum, zum berühmten Ischtar-Tor und seiner Prozessionsstraße, über die – in den alten Zeiten Babylons – die große Göttin und Urmutter, Inanna oder Ischtar, verehrt wurde. Überall auf der Welt lassen sich Zeichen und Spuren aus Zeiten finden, als die Frau und das weibliche Prinzip noch nicht abgewertet, unterworfen und versklavt, sondern geehrt und gefeiert wurde. Es gab eine Haltung natürlicher Wertschätzung und Dankbarkeit ihr gegenüber und dem durch sie verkörperten schöpferischen Prinzip des Gebärens und Nährens, im konkreten wie übergeordneten Sinne.

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Meine persönliche Erfahrung als ›Mann‹ (Ronald)

Mein Körper ist eindeutig männlich. Ich habe einen Penis, eher muskulöse Oberarme, einen Bart und bin ziemlich groß und schwer. Ich lese mich selbst weitestgehend männlich, fühle aber in mir eine starke weibliche Seite. Damit meine ich unter anderem, dass ich von ›weiblichen‹ Eigenschaften angezogen bin, insbesondere von der im Vergleich zu Männern größeren Zartheit und Sensitivität von Frauen, die sich sowohl körperlich als auch emotional und geistig ausdrückt. Männer erscheinen mir grober und fester strukturiert. Oft spiegelt sich die physische Konstitution auch in der psychischen Ebene wider, aber nicht immer. Ich selbst erfahre mich auf der emotionalen und geistigen Ebene als sensibel und eher zart.

Was mich auch an Frauen anzieht, ist ihre nicht-dominante Haltung. Gerade aufgrund ihrer jahrhundertelangen Unterdrückung wissen Frauen besser damit umzugehen, sich nicht dominant zu verhalten und stattdessen andere gleichwertig zu behandeln. Das spricht mich an, da ich auch ein Opfer von Unterdrückung bin, u.z. des Ableismus (Diskriminierung von Behinderten, mein Bruder war geistig behindert) und des Klassismus (Diskriminierung wegen der Klassenzugehörigkeit, meine Eltern kommen aus dem Proletariat). Ich kenne als männlich gelesener Mensch war nicht die Unterdrückung der Frau und kann diese sicher nicht vollständig nachvollziehen, aber ich kenne Diskrimierung.

Die weiblich zugeschriebene Eigenschaft der nicht-dominanten Haltung, die mich anzieht, ist aber keine genuin weibliche, sondern resultiert aus sozialen Konditionierungen. Wären Männer das unterdrückte Geschlecht, würden sie diese Eigenschaften sicher ebenso entwickeln. Dann hätten auch sie mehr Teamgeist, egalitäres Verhalten und Empathie.

Wie steht es aber mit dem Fühlen? Frauen haben eine stärker gefühlsorientierte Herangehensweise. Obwohl ich der Meinung bin, dass Männer genauso gut fühlen können wie Frauen, haben Männer diese Fähigkeit aufgrund ihrer sozialen Rolle nicht entwickelt. Wir kennen das Ideal des harten Kerls, und wenn man als Mann Schwäche oder Weichheit zeigt, wird man von den anderen Kerlen als »Mädchen« bezeichnet, was in dem Fall definitiv eine negative Konnotation hat. Härte, Standfestigkeit und Durchsetzungskraft sind bei Männern positiv konnotiert. Diese Zuschreibung ist zunächst eine soziale Konstruktion, um Machtverhältnisse zu etablieren und zu erhalten. Sie könnte aber auch von dem härteren und kräftigeren Körper des Mannes herrühren und hätte damit eine quasi-biologische Ursache. Der Mann ist fest und hart. Er steht seinen Mann.

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Rollenmodelle (Ronald)

Auch der Großteil der Frauen erwartet durchaus dieses Rollenmodell des starken Mannes. Ein ›Weichei‹ ist kein attraktiver Partner und eine Frau, die einen gewissen Status im Berufsleben oder in der Gesellschaft hat, möchte keinen Mann, der einen geringeren Status als sie hat. Für Frauen ist der finanzielle und soziale Status des Mannes ein wichtiges und legitimes Kriterium. Männer umgekehrt möchten in der Regel nicht, dass die Frau den höheren Status hat. Davon abgesehen ist es Männern egal, welchen Status die Frau hat. Der Status ist für sie kein positives Kriterium. Sie schauen deshalb bei Frauen auf andere Qualitäten. Sie soll gut aussehen und einen sexuell anziehenden Körper haben. Wie kommt es zu diesen unterschiedlichen Werten?

Das könnte seine Gründe in sehr instinktiven Ebenen haben, bei denen es um den Erhalt der Spezies geht. Den gut gebauten und schönen Körper einer Frau nimmt Mann vom Instinkt her als Indiz dafür, dass sie auch gesunde und schöne Kinder gebären wird. Deshalb sucht der Mann diese Qualität. Die Frau wiederum ist weniger an dem Aussehen des Mannes interessiert. Für sie zählt vom Instinkt her die Potenz des Mannes im übertragenen Sinne, seine finanzielle und soziale Stärke, aber auch auf der physischen Ebene als körperliche Statur, die eher größer als ihre sein soll. Im Idealfall sollte er einen guten finanziellen und sozialen Status haben, damit er für die Familie sorgen kann, was für eine Frau, die Kinder haben möchte, unabdingbar ist. Sie kann keinen Mann als Vater ihrer Kinder gebrauchen, der kein Geld verdient, sich von anderen Männern unterordnen lässt und an ihrem Rockzipfel hängt.

Das ist das elementare Naturprogramm, wie es in unseren Instinkten verdrahtet ist. Darüber hinaus haben wir die Möglichkeit zu höheren kulturellen Leistungen, wie sie etwa Sigmund Freud im Modell der Sublimierung beschrieben hat. Wir können uns zu einem gewissen Grad von unseren Instinkten emanzipieren und höhere Werte verfolgen.

Diese höheren Kulturleistungen umfassen neben allen Formen der Kreativität wie Kunst, Literatur, Musik und dergleichen auch Gedanken über den Sinn des Lebens, wie sie in der Philosophie oder auch in der Spiritualität gepflegt werden. Für alle diese Kulturleistungen sind Frauen und Männer gleichermaßen geeignet, und es gibt hier keine geschlechtsspezifischen Unterschiede. Etwas differenzierter muss man es bei den Wissenschaften, der Technik und dem Handwerk sehen, denn hier geht es um das Eindringen in die Materie, was ein invasiver Modus ist.

Biologische Spezifizierungen (Ronald)

Wenn auch die höheren Kulturleistungen nicht geschlechtsspezifisch zuzuordnen sind, so gibt es doch auf allen diesen inhaltlichen Gebieten unterschiedliche Herangehensweisen, die man als männlich beziehungsweise weiblich bezeichnen könnte. Vor allem zwei elementare biologische Unterschiede könnten hier auch auf der emotionalen, geistigen und spirituellen Ebene Auswirkungen haben.

Erstens: Frauen können Kinder gebären, das können Männer definitiv nicht. Die Kinder von Männern sind deshalb ihre Ideen und Visionen, ›ihr Ding‹, wie man so schön sagt. Es wird den Männern empfohlen, ihre Aufgabe zu finden. Bei Frauen kann diese Aufgabe in ihrer Mutterschaft und in der Familie bestehen. Damit ist ihre Aufgabe sehr klar definiert, denn es geht darum, die Kinder zu versorgen und aufzuziehen. Die Vaterschaft ist dagegen im instinktiven Sinne nicht so stark verankert, da der Mann im Falle einer Schwangerschaft wesentlich schwächere Konsequenzen tragen muss. Praktisch gesehen kann er einfach weggehen und ist aus dem Schneider. Die Frau kann nicht weggehen, wenn sie schwanger ist. Ihr Leben wird nie wieder das gleiche wie vorher sein. Für sie haben also eine Schwangerschaft und ein Kind wesentlich existentiellere Konsequenzen, im Guten und im Schlechten. Wir kennen aus den Matriarchaten sogar die Situation, dass die biologischen Väter mit den Kindern gar keine Beziehung haben und die Kinder in dem Mutterclan aufgezogen werden, wobei die Brüder der Frau die männlichen Bezugspersonen sind.

Der Mann sucht also nach seinem Ding, nach seiner Aufgabe oder seiner Berufung. Sobald er sie findet, kommt er in seine Kraft. Männer gelten im allgemeinen als durchsetzungsstark, beziehungsweise man erwartet das von ihnen. Damit verfolgen sie ihre Aufgabe.

Männliche und weibliche Qualitäten • Warum es konstruktive und sinnvolle Unterschiede gibt
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Zweitens: Der Mann hat einen Penis, die Frau eine Vagina. Der Penis ist eine sichtbare Form, die im sexuellen Akt darauf angelegt ist, in die Frau einzudringen. Es geht deshalb im männlichen Paradigma immer um eine Art invasiver Modus, um ein Druckprinzip, um Beharrlichkeit und Standfestigkeit. Der Mann dringt allgemein gesehen in die ›Materie‹ ein, auf der übertragenen Ebene untersucht und erforscht er die Welt in Wissenschaft und Technik. Die Vagina ist nicht in dem Sinne wie der Penis eine sichtbare Form, sondern viel eher ein Raum, der etwas aufnimmt. Mit der Vulva und Vagina kann man nirgends eindringen. Die Aufgaben sind also verteilt: Der Mann dringt ein, die Frau nimmt auf. Der Mann geht in einen anderen Körper hinein, die Frau lässt etwas in sich, in ihren Körper, hinein. Dies sind Modi und Erfahrungen, die bei Frauen und Männer diametral verschieden ist.[1] Schwule Männer haben hier einen Vorteil, weil sie die Erfahrung kennen, wie es ist, der aufnehmende Teil zu sein, sofern sie sich anal penetrieren lassen. Ich bin sehr dankbar, dass ich diese Erfahrung machen durfte, denn es war eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens, einen anderen Menschen aufzunehmen und passiv genommen zu werden. Umgekehrt berichten Frauen in ihrer Erfahrung mit einem Strap-on von einem neuartigen Erlebnis als aktiv Eindringende, von einer anderen Art der Ermächtigung und der Kontrolle.

Es ist demnach zu vermuten, dass Männer stärker zu diesem Eindringen und Sich-Durchsetzen neigen, wohingegen Frauen stärker zu dem Aufnehmen und Nachgeben neigen. In unserer männlich dominierten, patriarchalen Gesellschaft gilt die Fähigkeit der Durchsetzungskraft als etwas Wertvolles, die Fähigkeit der Hingabe aber als etwas Schwaches und Wertloses. Diese Bewertung findet sich auch bei vielen feministischen Frauen, auch bei Berfîn Marx, die die aktive Rolle für die Frauen einfordert. Aus einer philosophischen Sicht sind aber beide Funktionen gleich wertvoll und konstitutiv für die Welterfahrung und die Weltproduktion. Dass die Hingabe weniger hoch als die Macht bewertet wird, dass das Folgen oder Geführtwerden weniger als das Herrschen und Führen wert ist, ist patriarchales Paradigma.

In einem vom Patriarchat befreiten Bewusstsein haben beide Funktionen gleichwertige Bedeutung. Beides braucht man. Da nun aber aufgrund des herrschenden patriarchalen Paradigmas dieser nehmende, passive, weiche und sich hingebende Anteil unterrepräsentiert ist, muss dieser gestärkt werden – sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Das passive Nehmen ist ein Modus der Welterfahrung, der mit dem Siegeszug des Patriarchats verloren ging. Das ist ein gravierender Mangel, der unbedingt behoben werden muss. Das passive Nehmen ist der eigentliche Modus der Welterkenntnis, das Wahr-Nehmen. Wir nehmen das andere (die Andere, den Anderen) nicht-invasiv, herrschaftsfrei so, wie es ist, als souveräne Entität an. Das ist der wahre objektive Modus des Erkennens und letztlich der Wahrheit jenseits von Dogma und Ideologie.[2] Es geht in einer befreiten Gesellschaft nicht mehr darum, wer der oder die Stärkere ist, wer führt oder wer Gewinner:in und wer Verlierer:in ist. Es geht um die herrschaftsfreie, egalitäre Gesellschaft, die Souveränität der Wesen, um Respekt, Würde, Liebe und die wahre Erkenntnis der Welt, die nur funktioniert, wenn man die Wesen achtet. Die Rehabilitierung des nehmenden Paradigmas ist somit dringend notwendig. Dafür brauchen wir die Frauen, die diese Form der Welterfahrung genuin verkörpern. Spezifisch für Frauen gilt in zweiter Linie auch, dass ihr aktiver Anteil gestärkt wird, weil er bei ihnen unterentwickelt ist.

Was ist eine spirituelle Frau? (Saskia)

Eine spirituelle Frau ist eine Frau, die sich ihrer Ganzheit, ihres Wertes als Mensch und als weiblichem Wesen bewusst ist. Für mich ist sie ein weiblicher Mensch, der sich selbst und dem Leben gegenüber wertschätzend auftritt, für sich und das Gegenüber. Als spirituell ausgerichtete Person ist sie zunehmend unabhängiger von äußeren Bewertungskategorien. Als authentisch spirituell nehme ich sie wahr, wenn sie in bewusstem Kontakt mit ihrem Herzen, ihrer Menschlichkeit ist. Sie hat eine tragfähige inneren Werteagenda und ist mit ihrer Seele verbunden. Sie verfügt über eine natürliche Verbundenheit zur Transzendenz, dem Überpersönlichen, als erweitertem Weg zu Erkenntnis und Selbsterkenntnis. Als Frau hat sie über ihren Schoßraum die Möglichkeit zu einer stärkeren Erdung and Anbindung an das universelle zyklische Wissen in der Verwurzelung mit Mutter Erde. Die Hinwendung zur inneren Dimension, die Ausrichtung auf ganzheitliche Entwicklung und die Kultivierung einer geistigen Weite als Ausdruck von Sehnsucht nach größerer Freiheit von einengenden Konditionierungen sind Anzeichen spiritueller Bewusstheit.

Emotionale und menschliche Reifung sind die Folge, sofern eine ausreichend stabile Erdung vorhanden ist, damit die Anbindung an den Körper stattfindet und die Gefühle integriert werden können.

Ohne diese Bereitschaft zur intensiveren Arbeit an sich selbst, hinein in eine tiefere Dimension, führt der Weg häufig in das Fahrwasser des »Spiritual Bypassing« bis hin zu Abspaltungstendenzen als Flucht vor existentiell herausfordernden Themen.

Für Frauen oder weibliche Menschen, die an Entwicklung ernsthaft interessiert ist, bleibt eine Emanzipierung ebenso wenig aus wie für die männlichen Vertreter der menschlichen Spezies. Emanzipation verstehe ich hier als Wachstums-Prozess im Sinne einer Loslösung und Befreiung von einengenden Stereotypen des überholten patriarchalen Paradigmas, das die vollständige Potentialentfaltung des Menschen verhindert. Um zu diesem voll umfänglichen Potential zu gelangen, braucht es für die Frau oder den weiblich verkörperten Menschen die Integration des männlichen Aspektes, Animus genannt nach C.G. Jung. Diese Vervollständigung ermöglicht der Frau den Zugriff auf Fähigkeiten und Attribute, die bisher Männern vorbehalten waren, wie Ich-Stärke, Durchsetzungskraft, Autonomie und Souveränität. Analog gilt es für den Mann – im umgekehrten Sinne – seine »Anima«, seinen weiblichen Aspekt, würdevoll zu integrieren, sofern er nicht an ein überholtes Männlichkeitsschema angehaftet bleiben will, das zerstörerische Tendenzen als heroisch glorifiziert.

Ein notwendiger Teil dieser inneren Prozessarbeit ist es, die typisch »weiblichen« oder »männlichen« Qualitäten zu erkennen und sie von ihrem Schatten zu befreien. In dieser Entwicklung und Emanzipation als einem Rehabiltationsprozess geht es letztlich um die Befreiung von den Schatten, die das Patriarchat geworfen hat – auf Frauen und Weiblichkeit in all ihren Facetten, wie auf die weiblichen Anteile in Männern. Hier passt die alte Weisheit, in der es gilt: »das Kind nicht mit dem Badewasser auszuschütten.«

Nicht die deutlich-erkennbaren inneren und äußeren Unterschiede im Mann-Frau-Sein gilt es auszulöschen, sondern ihre Verschiedenheit respektvoll anzuerkennen und eine stigmatisierende Bewertung zu beenden.

Dieser Schritt in Richtung Weisheit ist essentiell für ein qualitatives Wachstum im gesellschaftlichen Bewusstsein, in Richtung wirklicher Demokratie und Menschenwürde. Andernfalls bleiben diese hohen und offiziell angestrebten Werte eine unerreichte Utopie, die an mangelnder authentischer Umsetzung scheitern muss. Was als typisch weiblich gilt, kann und muss jede:r selbst herausfinden, auf seiner oder ihrer individuellen Reise des Lebens. Die typischen bis klischeehaften Zuschreibungen wären hier, z.B.: kommunikativ, emphatisch, fürsorglich, emotional intelligent, sozialkompetent. Diese ausgeprägten Tendenzen des Weiblichen lassen sich bereits in der Neugeborenen-Forschung nachweisen.

Was ist ein spiritueller Mann? (Ronald)

Ein spiritueller Mann ist für mich ein Mann, der die männlichen und weiblichen Qualitäten im Gleichgewicht hat und seine weibliche Seite leben kann. Er ist nur dann ein Weichei im negativen Sinne, wenn er Qualitäten wie Durchsetzungskraft oder Standfestigkeit (der stehende Penis) verdrängt und nicht entwickelt. Als gesunder, entwickelter Mann ist er ein Gentle-man, ein freundlicher Mann. Er ist freundlich, aber er ist auch ein Mann, d.h. er hat sein Standing und seine emotionale Selbstständigkeit. Um diese emotionale Kompetenz zu entwickeln, muss er das alte patriarchale Rollenmodell abstreifen, das ihn zu einem harten Kerl machen soll, der im Kampf jeden Schmerz ertragen kann, um weiter zu funktionieren. Da die Männer ihre emotionale Kompetenz nicht entwickelt haben, sind sie in der Regel emotional von Frauen abhängig. Das tut weder den Männern noch den Frauen gut.

Als emotional selbständiger Mann ist er unabhängig von der Anerkennung und Bewertung durch andere und geht seinen Weg. Er verfolgt seine Aufgabe. Er macht sein Ding. Daraus entstehen natürliche, gesunde Autorität und ein echter Status in der Gesellschaft. Er entwickelt Führungsqualitäten und nimmt die Verantwortung für sich und seine Schutzbefohlenen an.

Ein spiritueller Mann achtet das heilige Weibliche, die ›Divine Feminity‹ und kooperiert mit ihr, um das Leben zu erschaffen und die Schöpfung zu erhalten.

Männliche und weibliche Qualitäten • Warum es konstruktive und sinnvolle Unterschiede gibt
© Foto Bailey Burton / Unsplash

Fazit (Ronald)

Wenn man zwei Dinge vergleicht, gibt es immer Unterschiede. Männer sind im Allgemeinen größer, kräftiger und gröber, was schön und gut so ist. Frauen sind im Allgemeinen kleiner, zierlicher und feiner, was schön und gut so ist. Dazwischen gibt es alle Abstufungen und immer mehr Menschen verorten sich non-binär und lassen die festgeschriebenen Rollenmodelle hinter sich. Gleichgeschlechtliche Liebe gibt es und wenn jemand homosexuell ist, dann ist das so. All das ist schön und gut so. Wenn wir all dies berücksichtigen, sind wir auch frei, »wenn es um das Ausleben der eigenen Geschlechtsidentität geht« (Marx).

Marx ist rechtzugeben, wenn es um die Kritik reaktionärer Spiritualität geht. Aber reaktionäre Kräfte gibt es auch in der Politik und in der Wissenschaft und vieles an der ›Divine Feminity‹-Bewegung ist nicht spirituell. Es ist wenig sinnvoll, die Spiritualität abzulehnen, genauso wenig wie es sinnvoll wäre, die Politik oder die Wissenschaft abzulehnen. Wir möchten Marx also einladen, sich mit der progressiven Form der Spiritualität anzufreunden, denn

bei Spiritualität und Religion handelt es sich um ein menschliches Bedürfnis, das nicht suspendiert werden kann.

Angenommen (sic: nehmen) und integriert wird es seine wohltuende Kraft entfalten. Bekämpft und unterdrückt entsteht nur eine weitere Form patriarchaler und imperialistischer Diskriminierung, eine weitere Form des ›Otherings‹, und spielt so reaktionären Kräften in die Hände, die sich nicht scheuen, die Menschen an diesem spirituellen Urbedürfnis zu fassen und Angst zu schüren.

Die Linke sollte ihre atheistischen Vorbehalte aufgeben und den spirituellen bzw. auch religiösen Aspekt des Lebens in ihr Programm integrieren. Dann kann sie die Menschen erreichen. Aufgeklärte Spiritualität ist progressiv, integral, egalitär und emanzipativ. Als transrationale Bewusstseinsstufe lehnt sie Vernunft und Intellekt nicht ab. Sie integriert Kunst, Wissenschaft und Politik. Aufgeklärtes politisches Bewusstsein sollte den Sinn und Nutzen dieser Art von Spiritualität erkennen. »Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt«, sagte Karl Marx an der Stelle, wo er die Religion auch als »Opium für das Volk« bezeichnet. Die alte Religion hielt die Menschen in der Unmündigkeit. Aber auch der mündige Mensch sollte sein Gemüt und sein Herz nicht vergessen. Hierzu hat die Spiritualität Wesentliches zu bieten.

Was die Unterscheidung in weibliche und männliche Qualitäten betrifft, so wurde hier das physiologische Geschlecht in seiner komplementären Funktion als Eindringen vs. Aufnehmen als Ursache für eine unterschiedliche Welterfahrung verstanden. Es gibt sinnvolle Gründe, bestimmte Eigenschaften dem Männlichen und andere Eigenschaften dem Weiblichen zuzuschreiben. Eine strikte binäre Zuordnung ist allerdings zu vermeiden, da sich bei den konkreten Individuen die physiologischen nicht immer mit den psychischen Zuordnungen decken. Die Polarität ist eine Verallgemeinerung, die den Individuen nur teilweise gerecht wird, aber sie ist auch konstitutiv für das Leben, das es ohne sie nicht geben würde und das ohne diese Kategorie nicht verstehbar wäre.

Männliche und weibliche Qualitäten • Warum es konstruktive und sinnvolle Unterschiede gibt
© Polina Kovaleva / Pexels

Fazit (Saskia)

Ich beobachte voller Freude, wie sich langsam ein kollektiver Bewusstseinswandel vollzieht. Zumindest in der westlichen Hemisphäre der Erde hat dieser Prozess in den letzten Jahren deutlich an Tempo gewonnen und zeigt eine neue Entwicklung auf. Die Bereitschaft, sich dieser komplexen Thematik zuzuwenden und sie differenzierter zu erforschen, ist heute eine andere, als ich sie noch in meiner Kindheit und Jugend erlebt habe. Der sich vollziehende Wandel ist deutlich in der Medienlandschaft, in der Politik wie im gesamten gesellschaftlichen Spektrum zu erkennen. Analog dazu zeichnet sich Ähnliches im kollektiven Umgang mit Spiritualität ab, trotz deutlicher polarisierender Tendenzen in beiden Feldern. Polarisierung ist typisch und vermutlich unumgänglich, wenn ein Veränderungsprozess im menschlichen Feld geschieht. Erneuerung zieht immer auch Widerstand nach sich, um das Alte oder Überholte zu erhalten. Eine Erweiterung des menschlichen Bewusstseins ist deutlich und hoffentlich in nachhaltigem Wachstum begriffen.

Meiner Wahrnehmung und Interpretation nach rückt Spiritualität umso mehr in das kollektive Blickfeld, je mehr sich Menschen mit ihrer weiblichen Seite, der Anima oder »Seele«, beschäftigen.

Das eine befördert das andere. So vervollständigt und komplettiert sich das einseitig rationale Verständnis unserer Welt, des Lebens und unserer selbst.

Andernfalls gerät die menschliche Gesellschaft durch die Reduktion des Bewusstseins auf ein rein mechanistisches Weltbild zu einer entseelt lebensfeindlichen Technokratie. Da wir uns bereits mitten in diesem Prozess befinden, geht es um nichts weniger als die reale Weltrettung, den Erhalt ihrer Natürlichkeit in Balance mit der rasant stattfindenden technologischen Entwicklung. Dafür braucht es die Anima Mundi, einen Zugang zur Weltenseele, von der die Mystiker und Weisen aller Zeiten gesprochen haben. Das erlaube ich mir zu sagen – mit einem halbschiefen Schmunzeln und Hoffnung im Herzen.

Mein Herz ist hoffentlich uni-sex.

[1] Nähere Erläuterungen dazu in Ronald Engert: Ins and Outs. Differenz weiblicher und männlicher Erkenntnis, in: Ronald Engert: Der absolute Ort, …, zuerst in: Tattva Viveka 52, Berlin 2012

[2] Zur genaueren Ausführung dieser Welterfahrung siehe Ronald Engert: Die Kunst des Nehmens. Das weibliche Paradigma der Erkenntnis, in: Ronald Engert: Der absolute Ort, …, zuerst in: Tattva Viveka 58, Berlin 2014

Tattva Viveka Sonderausgabe Sexualität

Tattva Viveka Sonderheft – Heilige Sexualität

Inhalt der Ausgabe

Sonderheft: Heilige Sexualität

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    (erschienen in Tattva Viveka 79)

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1 Comment
  • Dr. Rainer A. Gregoric, MEd
    Gepostet am 15:47h, 30 Dezember Antworten

    Wunderbar. Danke für diese Entgegnung! Essentiell dabei für mich: „Nicht die deutlich-erkennbaren inneren und äußeren Unterschiede im Mann-Frau-Sein gilt es auszulöschen, sondern ihre Verschiedenheit respektvoll anzuerkennen und eine stigmatisierende Bewertung zu beenden.!“ Schon des längeren schlage ich vor, typisch weiblich und männliche Attribute bzw. Qualitäten im archaischen Sinne grundsätzlich von der Physis bzw. der äußeren Erscheinung zu entkoppeln und letztere bei dem zu belassen, was sie rein biologisch ist und wie sie zudem soziologisch wirken kann. Denn es ist ein Fakt, dass so manche Frau im physischen Sinne mehr männliche Qualitäten ihr eigen nennen kann, als so mancher Mann und so mancher Mann wiederum mehr weibliche Qualitäten sein eigen nennen kann, als so manche Frau. So what?! In diesem Zusammenhang gesehen fördert so mancher Feminismus erst das, was er zu bekämpfen glaubt: typisch männliche Qualitäten (einfaches Bsp.: Führungspositionen und so auch immer mehr Durchsetzungsvermögen, Ellbogentaktik, usw.). Um den Bogen wieder zu spannen: Ein Ausgleich der Polaritäten in Richtung Balance sollte aber viel mehr wieder hergestellt werden, indem typisch weibliche Attributionen wieder ihre (Gleich)Wertigkeit erlangen.
    Happy New Year!

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