Trauma reduziert unsere Beziehungsfähigkeit

Trauma reduziert unsere Beziehungsfähigkeit

Adäquate Beziehung als Mittel zur Heilung von individuellem und kollektivem Trauma

Autor: Thomas Hübl
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 97

Schmerzhafte Erfahrungen führen nicht selten zu einer Verdrängung des Erlebten und zu unbewussten reaktiven Verhaltensmustern. Dabei ist der Traumaresponse, der innere Prozess in traumatisierenden Situationen, ein intelligenter Schutzmechanismus unseres Körpers und unserer Psyche in sehr bedrohlichen und stark überwältigenden Situationen. Autor und Traumaexperte Thomas Hübl verrät im Interview, wie adäquate Beziehung zur Heilung von Traumata beitragen kann, und plädiert dafür, mehr Räume zur Traumaheilung zu schaffen.

Tattva Viveka: Wie hast du dich dem Thema »Trauma« angenähert?

Thomas Hübl: Ich leite seit über zwanzig Jahren Gruppenseminare auf der ganzen Welt und bin dabei immer wieder mit Trauma in Berührung gekommen. An sich begann es aber in Deutschland. In meinen Gruppen wurden die kollektiven Traumafelder recht stark sichtbar, vor allem kamen der Zweite Weltkrieg und der Holocaust immer wieder hoch. Aus meinem heutigen Verständnis heraus weiß ich, dass es unter anderem daran lag, dass sich die Mitglieder dieser Gruppen aufgrund der meditativen Praktiken, der Selbstbewusstwerdung und tiefen Beziehungsarbeit, die wir übten, sicher fühlten sowie verbunden und aufeinander eingestimmt waren. Dies ließ mich tiefer in dieses Themengebiet einsteigen, denn ich musste mich damit auseinandersetzen, wie wir damit umgehen, wenn ein solches Thema in einer Gruppe so massiv auftritt. Daraus entstand daraufhin der Kollektive-Trauma-Integrationsprozess. Diesen exportierten mein Team und ich aus dem deutschsprachigen Kulturraum dann in andere Kulturräume und heute arbeiten wir in der ganzen Welt mit kollektiven Traumafeldern. Das führte dazu, dass ich mein erstes Buch »Kollektives Trauma heilen« schrieb.

TV: Was verstehst du unter Trauma? Wie würdest du den Begriff definieren?

Thomas:

Trauma ist nicht die Erfahrung, durch die jemand geht.

Das ist eine traumatische Erfahrung, zum Beispiel Missbrauch, Gewalt, ein Autounfall oder die Vernachlässigung von Kindern in Familien. Viele Gründe führen zu Trauma. Das sind überwältigende Erfahrungen. Sie sind so überladen für unser Nervensystem, für unseren Körper, für unsere Psyche, dass wir auf der einen Seite unter extrem hohem Stress stehen, was unseren Angriff-oder-Flucht-Impuls im autonomen Nervensystem stark anregt. Oder wir geraten andererseits in einen Zustand des Eingefroren-Seins. Es entsteht auf der einen Seite viel Stress und auf der anderen Seite hat das Nervensystem die Kapazität, diesen Stress abzudrehen, als würde in einem Teil der Stadt das Licht ausgehen. Das heißt,

wir drehen im Prinzip die Sensitivität in dem Teil unseres Körpers, unserer Emotionen, vielleicht auch in mentalen Funktionen ab, damit wir besser überleben können.

Was dazwischen entsteht, ist eine Art Fraktur, eine Fragmentierung.

Das ist ein intelligenter Prozess, der über Zehntausende oder Hunderttausende von Jahren in unserem Nervensystem entstand. In einer Situation, in der wir getriggert werden, fühlen wir uns schnell aufgewühlt, gestresst, verängstigt, beschämt oder verärgert, auch wenn das oft nichts mit der Situation zu tun hat. Daraus ergeben sich dann drei Sets von Reaktionen. Zum Beispiel wird bei einigen Menschen der Angriff-oder-Flucht-Impuls aktiviert. Andere werden einfach unbeteiligter, wie taub. Sie spüren nichts mehr, sie ziehen sich nach innen zurück und werden gleichgültig. Die erste Gruppe von Personen, die »grundlos« explodiert, bekommen wir allerdings mehr mit. Plötzlich entsteht viel Stress und das versteht die Umgebung nicht. Man fragt sich, warum er oder sie in dem Moment so reagiert. Im Gegensatz dazu ist es ebenfalls eine Triggerreaktion, wenn Menschen sich innerlich zurückziehen, sich distanzieren und taub werden. Das sieht nur anders aus. Das dritte Set von Reaktionen besteht daraus, dass wir da, wo unser Trauma sitzt, auf die Welt schauen, als würden wir durch eine fragmentierte Glasscheibe blicken, so als hätte jemand einen Stein in die Glasscheibe geworfen. Das heißt, unsere Wahrnehmung von der Welt und unsere Beziehung zu der Welt ist verletzt. Das ist der Beginn von »Othering«, von Entfremdung. Dabei macht man andere zu anderen, indem man sich auf die Unterschiede wie die politische Meinung konzentriert. So entstehen auch Rassismus und Antisemitismus sowie viele andere Bewegungen, die wiederum traumatisch oder traumatisierend sind.

Adäquate Beziehung als Mittel zur Heilung von individuellem und kollektivem Trauma

Vieles davon entsteht in unserem Nervensystem. Folgende Situation kennen sicherlich viele Menschen: In unseren intimen Beziehungen werden manchmal bestimmte Themen angesprochen und plötzlich haben wir überhaupt keine Kapazität mehr, in Beziehung zu bleiben. Das endet dann in Argumenten und Diskussionen oder Streit und Konflikten. In solchen Momenten sind wir wie festgefahren. Erst nach einer gewissen Zeit gelangt man wieder zu einem gemeinsamen Punkt. Es ist ein Zeichen, dass wir ein Trauma berühren, wenn es so eng wird, dass der ganze innere Raum verloren geht, wenn dieses bestimmte Thema angesprochen wird.

TV: Woran würdest du den Unterschied zwischen einem individuellen Trauma und einem kollektiven Trauma festmachen? Und wie kann es sein, dass ein Trauma, das uns oberflächlich betrachtet erst einmal nicht berührt, wie der Zweite Weltkrieg, den wir gar nicht miterlebt haben, trotzdem generationsübergreifend prägt?

Thomas: Unser individuelles Trauma ist natürlich unser biografisches Trauma. Das sind traumatisierende Ereignisse, die wir erlebt haben. Zu diesen Ereignissen können wir meistens auch einen Bezug herstellen, außer wenn das Trauma so stark ist, dass es so weit verdrängt ist, dass wir uns nicht daran erinnern können. Die meisten Menschen können aber einen Bezug zwischen Symptomen und einem bestimmten Event oder einer Serie von Events herstellen. Es gibt jedoch auch viele Menschen, die Symptome in ihrem Leben haben, jedoch von sich selbst sagen, dass sie nicht traumatisiert sind. Trotzdem haben sie zum Beispiel immer wieder Ängste. Ich wohne gerade in Israel, und hier sieht man deutlich, dass oft die zweite und dritte Generation in Familien von Holocaust-Überlebenden gewisse Symptome aufweist. Dazu gibt es natürlich auch ein Äquivalent in Deutschland. Ein anderes Beispiel wäre der Kolonialismus, der ganz viel Trauma über Generationen hinterließ, oder der Rassismus in Amerika.

Das Interview führte Stefanie Aue.

Dies ist nur der Anfang des Artikels.

Die zweite Dimension des Traumas ist die kollektive. Wie sich diese äußert und über Generationen hinweg weitergegeben wird, erfährst du im vollständigen Artikel, der in Tattva Viveka 97 erschienen ist.

Tattva Viveka 97

Tattva Viveka Nr. 97

Inhalt der Ausgabe

Schwerpunkt: Trauma und Heilung
Erschienen: Dezember 2023

Gabor Maté – Vom Mythos des Normalen • Thomas Hübl – Trauma reduziert unsere Beziehungsfähigkeit. Adäquate Beziehung als Mittel zur Heilung von individuellem und kollektivem Trauma • Lea Loeschmann – Körperloses Bewusstsein kann nicht sterben. Von der Rückgewinnung des Urvertrauens ins Leben • Ronald Engert – Trauma und Heilung. Wie man an der Ursache ansetzt und nachhaltig heilt • Gabriella Rist – Wie Traumaheilung durch Neurophilosophie und Körperpsychotherapie gelingen kann. Die Suche nach dem wahren Selbst • Saskia John – »Erste-Hilfe-Koffer« bei Angst und Panik. Fünf wirksame Tipps zur Sofortmaßnahme • Prof. Dr. Niko Kohls – Die gesellschaftliche Akzeptanz von Achtsamkeit und Spiritualität. Ein Abbild des Bewusstseinsstandes der gegenwärtigen Gesellschaft Teil 2 • Sarah Rubal – Die Heimkehr der Göttin. Unsere mythische Heldinnenreise (Teil 1) • Christiane Krieg – Dein spiritueller Wegweiser durch die Raunächte. Öffne dich für deine Herzensvision • Martin Auffarth – Atem der Welt. Das Vaterunser in der aramäischen Muttersprache von Jesus • u.v.m.

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Thomas Hübl

Thomas Hübl ist Autor, internationaler Seminarleiter und spiritueller Lehrer moderner Mystik, der in seiner Arbeit die zentralen Prinzipien der großen Weisheitstraditionen mit den Erkenntnissen der akademischen Wissenschaft verbindet. Seit 2000 leitet er weltweit Veranstaltungen und Trainings, die sich auf die Heilung und Integration von kollektivem Trauma konzentrieren.

Webseite: thomashuebl.com/de

Thomas Hübl - Trauma reduziert unsere Beziehungsfähigkeit

NEUES BUCH:

Die heilsame Kraft unserer Beziehungen
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