17 Aug Kollektives Trauma heilen
Ein Integrationsprozess
Autor: Thomas Hübl
Kategorie: Psychologie
Ausgabe Nr: 92
Als Experte für Traumaintegration führt Thomas Hübl Menschengruppen durch einen Bewusstwerdungsprozess traumatischer Erfahrungen und deren unterbewusster, kollektiver Einflüsse. Auf diese Weise lassen sich selbst um Generationen zurückliegende Traumata aufarbeiten und deren hinderliche Einflüsse auf die Gegenwart auflösen. Statt Traumata zu verdrängen, ist es ratsam, eine bewusste Auseinandersetzung zuzulassen und die damit in Verbindung stehenden negativen Emotionen und Gefühle zu verarbeiten.
Was ist kollektives Trauma?
Viele wissen, dass ein nicht geheiltes Trauma beim einzelnen Menschen zu anhaltendem persönlichen Leiden und zu Fehlentwicklungen führen kann. Weniger ausgeprägt ist das Verständnis dafür, dass ein kollektives Trauma, wenn es nicht heilen kann, die Gesundheit ganzer Gesellschaften belastet, ja unseren ganzen Heimatplaneten gefährden kann. Nach meiner Überzeugung verzögern ungelöste systemische und generationenübergreifende Traumata sogar die Entwicklung der Menschheit als Ganzes, hemmen unsere Evolution und fügen der Natur Schaden zu.
Zu den bekannten kollektiven Traumata gehören: der Holocaust, der Völkermord an den Armeniern, die Sklaverei in den Vereinigten Staaten, das Massaker von Nanjing, die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die große irische Hungersnot, die Anschläge vom 11. September 2001 und jetzt noch laufend die Pandemie COVID-19, der Krieg in der Ukraine, der Klimawandel, um nur einige zu nennen.
Ob individuell oder kollektiv, Traumata fragmentieren und zerbrechen, sie erzeugen Verleugnung und Vergessen. Um zu einer Wiedergutmachung beizutragen, müssen wir uns entscheiden, die Tatsachen anzuerkennen, sie zu bezeugen und dadurch gemeinsam zu fühlen, was tatsächlich geschehen ist. Selbst die schrecklichsten Details, vor denen wir lieber die Augen verschließen würden. Denn wegschauen, verdrängen, leugnen und bagatellisieren bedeutet, die Institutionen und die Umstände der Ungleichheit und der Unmenschlichkeit aufrechtzuerhalten, die die Traumata geschaffen haben.
Die Systemwirkung des kollektiven Traumas
Unterdrückte Energie verschwindet nicht, unbewusste und verleugnete Energie ist auf keine Art und Weise loszuwerden. Sie muss sich bewegen, sie muss sich verwandeln: Sie muss Ausdruck finden. Unbewusstes steigt wieder an die Oberfläche und muss dort aufgenommen, geklärt und integriert werden.
Der Schatten kommt immer ans Licht – wie die Wahrheit.
Ein nicht zur Kenntnis genommenes, nicht gefühltes und nicht gelöstes Trauma wird uns immer wieder im Außen als Wiederholungszwang und Projektion und innen als Anspannung, Kontraktion, gedrosselter Lebensfluss, Leid und Krankheit begegnen.
Ein umfassender Systemwandel hin zu mehr Menschlichkeit, politisch, wirtschaftlich, kulturell und sozial, muss die Identifizierung, Verarbeitung, Integration und Heilung individueller, intergenerationaler und anderer Formen kollektiver Traumata einschließen. Erst wenn wir von der reinen Informiertheit über Trauma übergehen können zur Traumaintegration, kommen wir wirklich voran.
Das Bewusstsein der Trennung
Im kollektiven Traumafeld wird alles Abgespaltene und Verleugnete verstärkt und aufgeladen. Sammelt sich um diese Einschlüsse herum genügend Energie an, können solche Schattenanteile schließlich so aussehen, als wären sie etwas Eigenständiges und besäßen ein Eigenleben. Es ist wichtig, diese scheinbare Eigenständigkeit zu durchschauen, denn es handelt sich in Wirklichkeit um einen Teil unserer selbst, den wir nicht wahrhaben wollen. Dieser erscheint dann häufig als eine Projektion ins Außen. Es entsteht »das andere«, »die anderen«.
In diesem Trennungsbewusstsein meinen wir, irgendetwas Fremdes oder Andersartiges bedrohe unser Überleben, etwas Wesensfremdes oder sogar Außerirdisches, das immer an den Grenzen lauert oder sogar schon vor der Tür steht. Die Projektion des bedrohlichen anderen kann sich beziehen auf Menschen, Menschengruppen, Ethnien, Religionen, auf technische Entwicklungen sowie wissenschaftliche und philosophische Richtungen.
So sehr unsere Projektionen uns erschrecken, sie sind seit jeher ein Teil von uns.
Unsere Mythen wiederholen sich ebenso wie unsere Vergangenheit. Es zeigt, wie wichtig es ist, unseren kollektiven Schatten besser zu verstehen, um schließlich im Gesicht des anderen und Fremden uns selbst zu erkennen und zu wissen, dass da kein Unterschied ist.
Von einem kohärenten inneren Feld aus können wir uns auf das kollektive Traumafeld einstimmen. Von da aus erkennen wir, wo sich das transgenerationale Trauma in uns eingenistet hat, wie aus seinen Symptomen Tendenzen und aus den Tendenzen kollektive Übereinkünfte und Gesellschaftsstrukturen werden.
Das Nachzeit-Prinzip – ein energetisches Prinzip von Trauma
Immer wenn wir nicht ganz präsent sein können, weil wir noch mit der Verarbeitung beispielsweise eines Streits mit einem uns nahestehenden Menschen beschäftigt sind, entsteht eine Art zeitliche Lücke, in der wir uns nicht in der Gegenwart befinden, sondern Vergangenes durchspielen. Ich nenne sie »Nachzeit«, und gemeint ist damit eine Phase der Nachbereitung von Erlebnissen, die unverarbeitet geblieben sind. Ein Teil unserer Aufmerksamkeit bleibt damit beschäftigt.
Eine kollektive Traumaerfahrung wie etwa der Holocaust kann über viele Generationen unverarbeitet bleiben.
Man kann von so etwas nicht einfach sagen, es liege in der Vergangenheit, denn der Nachklang, die Nachzeit all dieser Gräuel lastet heute noch schwer auf unserer Welt. In der Nachzeit projizieren wir die Vergangenheit in die Zukunft, sodass unser Morgen nicht in erster Linie von Entwicklung und Erneuerung geprägt ist, sondern vor allem von dem Bemühen, das Geschehene zu verarbeiten. Es ist, als wären wir auf der Autobahn unterwegs und kämen alle fünf Kilometer an einem Schild vorbei, auf dem »Gestern« steht.
Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.
Welche Auswirkungen kollektive Traumata auf die Gesellschaft haben und wie man sich diesen stellen kann – persönlich und gesamtgesellschaftlich erfährst du im vollständigen Artikel, der in Tattva Viveka 92 erschienen ist.
Tattva Viveka Nr. 92
Wähle: Einzelheft, Abo oder Tattva Members
Schwerpunkt: Frieden
Erschienen: September 2022
Thomas Hübl – Kollektives Trauma heilen. Ein Integrationsprozess • Ulrich Duprée – Vergebung auf Hawaiianisch. Wie das Verzeihen Heilung ermöglicht • Mironel de Wilde – Gewaltfreie Kommunikation. Eine Form des Bewusstseins •Dr. Dieter Duhm – Heilungsbiotope als Weg zum Frieden. Wie wir den Krieg überwinden und zu innerem und äußerem Frieden finden • Ronald Engert – Ewiger Frieden durch Transzendenz. Was sagen die spiritituellen Traditionen? • Sri Preethaji – Der Weg zur Erleuchtung. Wie man Grenzen überwindet und inneren Frieden findet • Dr. Patrick Krüger – Die unbekannte Religion der Jainas. Altes Wissen für eine moderne Welt • Catharina Roland – Das Manifest der neuen Erde. »Jeder kann zu einem Leuchtturm werden« • Florin Mihail – Achtsamkeit für ein langes Leben. Über Chromosomen, Stress und die Wunderwaffe Meditation • Prof. Dr. Peter Hubral – Adam und Eva. Der Mythos als Allegorie für den Weg des geistigen Aufstiegs • Buchbesprechungen • u.v.m.
Über den Autor
Thomas Hübl ist Autor, internationaler Seminarleiter und spiritueller Lehrer moderner Mystik, der in seiner Arbeit die zentralen Prinzipien der großen Weisheitstraditionen mit den Erkenntnissen der akademischen Wissenschaft verbindet. Seit 2000 leitet er weltweit Veranstaltungen und Trainings, die sich auf die Heilung und Integration von kollektivem Trauma konzentrieren.
Webseite: thomashuebl.com/de
Kontakt: net@thomashuebl.com
Weiterführende Informationen
Das Buch von Thomas Hübl: Kollektives Trauma Heilen. Persönliche und globale Krisen verstehen und als Chance nutzen. Thomas Hübl, München 2021
Pocket-Projekt für die Integration von kollektivem Trauma: https://pocketproject.org (englisch)
Weitere Artikel zum Thema
- SO 02: Ilan Stephani – Die Nüchternheit der sexuellen Ekstase
- TV 89: Monika Alleweldt – Die globale Befreiung von Angst und Gewalt
- TV 86: Marina Stachowiak – Transgenerationales Erbe
- TV 66: Alexandra Schwarz-Schilling – Die Begegnung zwischen Frau und Mann
- TV 62: Nicolai Bühnemann – Trauma, Körper und Geschichte im Gegenwartskino
- TV 59: Thomas Hübl – Mystik ist das Flüstern Gottes
Auf dem Weg zum Bewusstsein im Fluss des Lebens - TV 45+46: Thomas Hübl – Hier, Jetzt und Gott. Auf der Spur des spirituellen Lebens
- OS 20: Gogo Ekhaya – Sangoma Healing
- OS 20: Paola Jimenez – Krisen und Wunder des Lebens
Bildnachweis: © Unsplash, Adobe Photostock
Keine Kommentare