26 Mai Gemeinschaft als Entwicklungsweg
Welche persönlichen Fähigkeiten zu mehr Verbundenheit beitragen
Autor: Barbara Stützel
Kategorie: Gemeinschaften/Projekte
Ausgabe Nr: 91
Wir Menschen sind mitfühlende, intelligente, kooperative Wesen. Und wir haben gleichzeitig ein Gesellschaftssystem geschaffen, in dem Ausbeutung und Konkurrenz dabei sind, das Leben auf der Erde nachhaltig in eine Katastrophe zu stürzen. Wie kommen wir aus dieser Situation wieder heraus? Die Systeme sind zu komplex und der Einzelne ihnen gegenüber scheinbar ohnmächtig. Und doch, wer soll etwas ändern, wenn nicht wir?
In einer bewusst gelebten Gemeinschaft haben wir die Gelegenheit, zu forschen, wie das gesellschaftliche Paradigma sich in uns selbst widerspiegelt und wie Veränderung geschehen kann.
Meine Erfahrungen berichte ich aus der ZEGG-Gemeinschaft (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung), einer Lebensgemeinschaft in der Nähe von Berlin, in der etwa 100 Menschen seit 1991 (und teils auch schon vorher) miteinander leben und forschen. Eine Lebensgemeinschaft ist ein Mikrokosmos, ein komplexes System verschiedenster Individuen und Bedürfnisse. Und in jeder Gruppe von Menschen sind bereits alle Themen des Menschseins angelegt.
Wenn wir also verstehen wollen, was es im Inneren braucht, um im Äußeren kooperativer und verbundener zu handeln, können wir dies in einer kleinen Gruppe lernen
und in dieser überschaubaren Größe versuchen, umzusetzen. Dies ist unser Anliegen im ZEGG. Wir widmen uns regelmäßig der Erforschung der tieferen Schichten unseres Miteinanders: Welche inneren Anteile führen zu Kooperation und Vertrauen und welche zu Angst und Konkurrenz, wo spüre und kreiere ich Verbindung oder wie erschaffe ich durch meine Gewohnheiten und mein Verhalten Trennung?
Für diese Forschung nutzen wir das ZEGG-Forum, Aufstellungen und verschiedene andere Formen von Innenarbeit wie Meditation, Gewaltfreie Kommunikation, Prozessarbeit etc. Die kollektive Forschung hilft: Denn nur mithilfe der Blicke und Spiegel der anderen kann ich meine eigenen blinden Stellen wahrnehmen. Was haben wir herausgefunden? Ein lebendiges verbundenes Miteinander wird durch Präsenz, Resonanz, Feedback, Selbstverantwortung und Miteinander-Lernen gestärkt – und daraus entsteht Synergie. Diese Aspekte möchte ich im Folgenden ausführen.
Präsent sein
Im ZEGG trainieren wir immer wieder Präsenz. So starten wir viele Treffen mit Stille oder gemeinsamem Singen, einem »Ankommen« im Körper oder auch einer emotionalen Eincheckrunde. Wir versuchen, uns zunächst miteinander zu verbinden mit dem, was gerade in jeder Einzelnen lebendig ist. Erst wenn wir uns so miteinander eingeschwungen haben, beginnen wir, thematisch zu arbeiten. So können wir leichter mitbekommen, wenn Energien unbewusst den Raum dominieren, die dort nichts zu suchen haben. Dies kann auch schon mal heißen, jemandem für ein paar Minuten ein Ohr zu leihen und mitzufühlen bei dem, was diese Person gerade bewegt. Meist ist es danach für diesen Menschen leichter, seine Themen für die Dauer des Treffens zu »parken«. Und wenn nicht, wissen wenigstens alle inklusive der aktivierten Person, dass nicht alle Reaktionen zu den Themen gehören, die im Treffen bearbeitet werden.
Präsent werden heißt ja auch, mir bewusst werden, wenn ich es nicht bin.
Manchmal wirbeln mich Dinge emotional durcheinander, oder ich bin einfach zu gestresst oder erschöpft, um etwas Neues aufzunehmen. Denn in Gemeinschaft mit vielen Menschen leben heißt auch, dass viele Themen gleichzeitig da sind. Verantwortung für meine Präsenz im Kontakt zu übernehmen, heißt dann auch mal, eine Grenze zu setzen. »Jetzt gerade kann ich nicht offen sein, ich brauche erst etwas anderes.«
In Gemeinschaft erleben wir mit denselben Menschen die verschiedensten Situationen – als Kolleg:in, Mitbewohner:in, Gemeinschaftsmitglied. Wir sind Freunde, wir kennen uns. Wenn eine Konfliktsituation auftaucht, ist einfach nur »recht haben – und mich damit aus dem Kontakt abwenden« – keine Option. Wenn ich also bemerke, dass die Menschen, mit denen ich zusammenlebe und die ich schätze, ganz anders auf eine Situation reagieren als ich, ist die nächste Schlussfolgerung, dass meine eigene Wahrnehmung genauso subjektiv ist, wie ich die der anderen einschätze. (Es sei denn, ich verschließe mich und weiß es besser. Diese Haltung zerstört allerdings auf Dauer die Gemeinschaft.)
Zur Präsenz gehört also immer, mich für die Möglichkeit zu öffnen, dass auch meine eigene Wahrnehmung nur gefiltert ist und nicht der Wirklichkeit entspricht.
Wenn ich dann neugierig mit den anderen in einen Austausch komme, wie ihre Wirklichkeit aussieht, entsteht Kontakt.
Und wenn wir dann noch anfangen zu forschen, warum wir eigentlich so denken, wie wir denken, landen wir bei früher gemachten Erfahrungen, aus denen sich bestimmte Konzepte und Bedürfnisse entwickelt haben. Unser Gegenüber hat andere Erfahrungen gemacht und andere Schlüsse gezogen – und beide Arten, die Welt zu betrachten, bilden nicht die Wirklichkeit ab. Wenn ich mir dessen in der Tiefe bewusst werde, ändert sich meine Haltung zur Welt, und ich komme aus der bewertenden in eine fragende Haltung. Fragend neugierig zu sein, unterstützt es, die Gegenwart nicht mehr aus der Vergangenheit, den Konzepten oder bisher gemachten Erfahrungen zu definieren, sondern aus dem, was im Moment gerade wirklich geschieht.
Das war nur der Anfang des Artikels.
Was die Mitglieder des ZEGG darüber hinaus über Resonanz, Feedback, Selbstverantwortung und Miteinander-Lernen in ihrer experimentellen Forschung herausgefunden haben, liest du in der vollständigen Fassung in Tattva Viveka 91.
Tattva Viveka Nr. 91
Wähle: Einzelheft, Abo oder Tattva Members
Schwerpunkt: Leben in Gemeinschaft
Erschienen: Juni 2022
Jo Eckardt – Überleben in Gemeinschaft. Wie die Evolution Kooperation und Altruismus entstehen ließ • Johannes Heimrath und Lara Mallien –
Im Vertrauensraum transparent sein. Wie Gemeinschaft gelingt • Stefanie Raysz – Leben, Lernen und Arbeiten an einem Ort. Das Leben einer Familie in der Gemeinschaft • Claus Reimers – Ein Leben für die Gemeinschaftsbewegung. Einblick in die Entstehung und Entwicklung der Gemeinschaft Schloss Tempelhof • Stefanie Aue –
Die Community lebendig halten. Vor Ort in der Gemeinschaft Parimal Gut Hübenthal • Achim Ecker – Lieben ist eine politische Aufgabe. Langjährige Gemeinschaftserfahrung im ZEGG • Barbara Stützel – Gemeinschaft als Entwicklungsweg. Welche persönlichen Fähigkeiten zu mehr Verbundenheit beitragen • Dieter Halbach – »Beteiligung ist das Herz der Demokratie«. Wie die Prinzipien der Gemeinschaftsbewegung in der Gesellschaft angekommen sind • Dr. Thomas Steininger – Der Mut zu träumen. Commons, Blockchain, Peer-to-Peer-Beziehungen und die Vision einer neuen Netzwerkkultur • Ronald Engert – Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen. Plädoyer für Walter Benjamin • Dr. Annette Blühdorn – Das metaphorische Herz Teil 2. Zeuge des archaischen Bewusstseins • Dr. Iris Zachenhofer und Andraes Kalff – Die Annäherung von Medizin und Schamanismus. Ein Weg ganzheitlicher Heilung • u.v.m.
Über die Autorin
Barbara Stützel ist psychologische Psychotherapeutin und Sängerin, seit 2001 Mitglied der ZEGG-Gemeinschaft. Sie ist leidenschaftliche Sucherin nach Intimität und Wahrheit mit den Stationen: Welt erkunden (lange Aufenthalte in Lateinamerika), Menschen erkunden (Psychologie, Leben in Gemeinschaft), sich selbst erkunden (Spiritualität, Yoga). In Seminaren und der Gemeinschaftsberatung kreiert sie Räume, in denen in Präsenz und Kontakt Neues entstehen kann (Forum, Gemeinschaftskurse, Yoga und Gesang).
Webseiten:
www.zegg.de
www.durgas-tiger-school.com
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Bildnachweis: © ZEGG (Zentrum für experimentelle Gesellschaftsgestaltung)
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