Werde wach mit allem

Werde wach mit allem

Poesie und Mystik im Gespräch mit dem Geheimnis

Autor: Mike Kauschke
Kategorie: Kunst, Musik & Literatur
Ausgabe Nr: 93

Die Poesie berührt uns in einer Art und Weise, wie es nur mystische Kunst vermag. Worte formen Poesie, führen zu Resonanz und schließlich zu Verbundenheit. Letztendlich verwandelt die Poesie den Rezipienten. Mike Kauschke analysiert die Poesie als mystische Tradition, welche die in der heutigen kapitalistischen Gesellschaft so präsente Trennung heilt und uns an unsere Ganzheit und Einheit erinnert.

Vor vielen Jahren, bei einem meiner ersten Zen-Retreats, saßen wir beim Essen. Nach der Mahlzeit sprach der Zen-Meister einige Worte. Und er richtete sie an eine kleine Fliege, die vor uns über dem Tisch umherflog. Beziehungsweise er erzählte uns von ihr. Wenn wir dieses kleine unscheinbare Wesen wirklich sehen könnten, dann offenbare sich darin das Leuchten des Seins, das Wunder der Existenz. Wie die Fliege dasitzt, sich die Flügel putzt, die in strahlender Transparenz in der Sonne leuchten. Wie sie bald auffliegt, um am Rand der Schüssel nach Essenresten zu suchen.

Werde wach mit allem

Diese kleine Episode blieb mir in Erinnerung. Der neue, offene, staunende Blick auf diese unscheinbare, häufig als lästig wahrgenommene Kreatur begleitete mich durch dieses Retreat. Ich übte mich darin, auch andere unscheinbare Dinge und Wesen, die ich sonst kaum bemerkte, mit einem solchen wachen, liebenden Blick anzuschauen. Und ich bemerkte, wie viele solcher Dinge es gibt, die ich nicht wirklich wahrnehme. Unser ganzes Leben besteht aus den Begegnungen mit und in einer Wirklichkeit, als die sich unser Leben ereignet. Die Gegenstände, mit denen ich umgehe, die Menschen, mit denen ich lebe, die mehr-als-menschlichen Geschöpfe, mit denen ich verbunden bin, die große lebendige Welt der Natur, die Ereignisse meines Lebens, die Geschehnisse einer globalen Welt.

Wie viel davon erlebe ich wirklich, in der Tiefe, sodass es mein Herz berührt, mich verwandelt?

Diese Frage nahm ich damals mit aus dem Retreat, und sie hat mich über all die Jahre weiter begleitet. Ich verstand, dass uns der Zen-Meister darauf hinweisen wollte, dass das Unscheinbare, das Alltägliche, das ganz Banale einen neuen Glanz bekommt, wenn wir anders sehen lernen. Wenn wir uns spürend öffnen für das, was sich uns zeigt, sei es eine Fliege, ein Baum, ein Mensch, eine liebevolle Begegnung, aber auch ein Verlust, eine Verletzung, eine schwierige Situation in unserem Leben. Das, was unser Leben ist und wem wir darin begegnen, kommt in eine Tiefe, eine Bedeutsamkeit und ein Leuchten, wenn wir es als Ansprache des Lebens an uns und mit uns sehen. Wir sind keine getrennten, isolierten Wesen in einem sinnlosen Universum voller Dinge, Gegenstände und anderer Wesen, die uns nichts angehen – es sei denn, sie sind uns von Nutzen.

Wir leben mit allem und allen in einem großen, lebendigen, atmenden, liebenden Prozess, den wir Leben nennen.

Dieses Aufrauschen des Seins von innen ist eine Erfahrung, die viele Mystikerinnen und Mystiker aller spirituellen Traditionen in eigenen Worten beschreiben, die sich je nach religiösem Kontext unterscheiden. Oft tun sie es in poetischer Sprache. Denn solche Erfahrungen, solche Öffnungen in die strömende Tiefe der Existenz, lassen sich mit unserer herkömmlichen, rational-linearen Sprache kaum wiedergeben. Die poetische Sprache vermag, sich dem Geheimnis unserer Existenz zu nähern, weil sie nicht aus Analyse oder einem äußeren Verstehenwollen spricht, sondern aus einem inneren Mitvollziehen, einer innerlichen Teilhabe am Sein.

In dieser Transformation unseres Sehens und damit auch unseres Daseins berühren sich Poesie und Mystik.

»Die Absicht von Mönchen und Mystikern«, so die Dichterin und Zen-Übende Jane Hirshfield, »ist der von Künstlern nicht unähnlich: das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen wahrzunehmen, indem man nicht die Welt verändert, sondern die Augen, die sie sehen.

In einem anrufenden und verbindenden Bewusstsein weitet sich das Innere aus, um das Äußere zu transformieren, und das Äußere weitet sich aus, um den Sehenden zu transformieren.«
Poesie und Mystik im Gespräch mit dem Geheimnis

Wirklichkeit als Gespräch

Die Poesie findet ihren eigenen Zugang zum Geheimnis der Existenz, ohne sich allein auf religiöse Glaubensvorstellungen, bestimmte spirituelle Praktiken, metaphysische Annahmen oder eine mystische Weltsicht zu berufen – wobei diese bei vielen Dichterinnen und Dichtern in verschiedener Weise mitschwingen. Aber vor, in und unter alldem

schöpft die Poesie aus der unmittelbaren Erfahrung unseres Hierseins in einem Kosmos, der unser Verstehen unendlich übersteigt.

Dabei besinnt sich der Dichter, die Dichterin darauf, dass dieser Kosmos ansprechbar ist. So wenig wir auch begreifen, so klein wir uns auch in einem unvorstellbar großen Universum empfinden mögen,

jetzt und hier – dort, wo wir sind, als die, die wir sind – ist dieses Universum ansprechbar. Es erfüllt seine Wirklichkeit im Gespräch.

Und Gespräch bedeutet Beziehung, Verbundenheit, Austausch von Bedeutung. Im Letzten, so könnte man sagen, ist es ein Gespräch des Kosmos mit sich selbst, denn wir sind Wesen in ihm, sind eingewoben in das Netz des Lebens.

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Wie die Poesie zur Verbindung der Menschen untereinander beitrug und das Unbekannte erfahrbar machte, erfährst du im vollständigen Artikel, der in Tattva Viveka 93 erschienen ist.

Tattva Viveka 93 - Das spirituelle in der Kunst

Tattva Viveka Nr. 93

Inhalt der Ausgabe

Schwerpunkt: Kunst und Spiritualität
Erschienen: Dezember 2022

Ronald Engert – Die Existenz ist anderswo. Der mystische Kern der Kunst • Cambra Skadé – Kunst als magischer Akt. Die Verbindung von Kunst, Magie und Heilen • Mike Kauschke – Werde wach mit allem. Poesie und Mystik im Gespräch mit dem Geheimnis • Dr. Thomas Anton Weis – Teilen als Synthese von Kunst und Spiritualität. Ein Integrationsprozess • Paula Marvelly – Das Leuchtende in der Kunst. Eine Meditation zu Nicolas Roerich • Alice Deubzer – Surrealismus und Magie – verzauberte Moderne. Ein Ausstellungsbericht • Frido Mann – Zwischen Geheimnis und Humanismus. Thomas Manns Verhältnis zur Religion • Alexandra Mann – Weltkloster – Begegnung durch Verbundenheit. Spiritualität als Brücke zwischen den Religionen • Tilmann Haberer – Von Gott und der Welt. Hat das Christentum heute noch Relevanz? • Dr. phil. Thomas Höffgen – Die Verteufelung der Natur. Religiöse Wurzeln unserer ökologischen Krise • Monika Alleweldt – Der Ruf der Erde an uns Menschen. Rückkehr zur Verbundenheit mit unserem blauen Planeten • Walter Benjamin – Die magische Sprache der Kraft. Wirkende Worte • Buchbesprechungen • u.v.m.

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Über den Autor

Unser Autor Mike Kauschke

Mike Kauschke ist Autor, Redaktionsleiter des Magazins evolve, Dialogbegleiter und freier Übersetzer mit Schwerpunkt auf Büchern zum Thema Achtsamkeit, integrales Denken und Organisationsentwicklung. Er praktizierte Zen-Buddhismus bei Lehrern in den USA und Europa, erforschte eine integrale, transkonfessionelle Spiritualität und war als Krankenpfleger in der Palliativpflege und Hospizarbeit tätig. Sein Buch »Auf der Suche nach der verlorenen Welt – Eine Reise zur poetischen Dimension unseres Lebens« ist 2022 erschienen.

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