Das personale Selbst

Das personale Selbst

Vielfalt und Individualität in der jüdischen Mystik

Autor: Ronald Engert
Kategorie: Judentum / Kabbala
Ausgabe Nr: 87

In der jüdischen Mystik der Kabbala finden wir eine hermetische Entsprechung von Transzendenz und Immanenz, von Spirit und Materie. Das Verbindende dieser beiden Sphären ist das personale Selbst, unsere individuelle Seelenidentität, denn Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Die Vielfalt in der materiellen Welt hat ihren Ursprung in der Vielfalt der spirituellen Welt. Nur die Absicht ist in beiden Welten eine andere.

Mystik

»Oh schmeckt und seht, dass der Herr gut ist.« (Psalm 34, 9) Dieses Schmecken und Sehen, so vergeistigt es sein mag, ist es, worauf der Mystiker hinauswill. Es ist eine bestimmte fundamentale Erfahrung des eigenen Selbst, das in einen unmittelbaren Kontakt mit Gott oder der metaphysischen Realität tritt, die die Haltung des Mystikers bestimmt.

Das Wort ›Mystik‹ kommt vom Griechischen ›myein‹ = ›Augen oder Lippen schließen‹, um dadurch die äußere Wahrnehmung auszuschalten und zur inneren Erfahrung zu gelangen. Mystik bezeichnet die eigene persönliche spirituelle Erfahrung einer höheren Wirklichkeit, die allgemein als Gott, Göttin oder Göttliches verstanden wird. Diese Erfahrung ist nicht vorwiegend rational. Sie ist vor allem emotio-spirituell, kann sich aber in allen fünf Ebenen des Menschen manifestieren: Körper, Gefühle, Geist, Seele und Sexus. Auf allen diesen Gebieten kann eine mystische Erfahrung gemacht werden. Der Geist als rationale Instanz ist dabei nicht ausgeschlossen. Eine kontemplative Versenkung in Gedanken über bestimmte Aspekte der Wirklichkeit wie zum Beispiel die Zeit, das Selbst, die Ewigkeit, den Sinn oder die Auseinandersetzung mit heiligen Schriften kann eine Erleuchtungserfahrung hervorbringen. Vorwiegend geschieht eine solche Erfahrung aber durch Dienst, Meditation, oder Zeremonien.

Im Folgenden werden die zwei wesentlichen Wege der mystischen Erfahrung und ihre jeweiligen Unterschiede erläutert. Lesen Sie dies und mehr im vollständigen Artikel, den Sie weiter unten bestellen können.

Transzendenz und Immanenz

Der Philosoph Walter Benjamin, jüdischer Herkunft und mit tiefen mystischen Erfahrungen gesegnet, übertrug die jüdische Mystik auf die philosophische Erklärung des Diesseits. Er schlug eine Brücke von der Transzendenz zur Immanenz. Dadurch war es ihm möglich, in der Welt die gleichen Prinzipien zu entdecken, über die die Mystiker in der Beschreibung der spirituellen Welten berichten. Deshalb sprach er von der »profanen Erleuchtung« (vgl. Benjamin, GS II, S. 297). Die Erleuchtung, die ursprünglich dem Mystiker vorbehalten ist, der sich mit der Transzendenz beschäftigt, wird von Benjamin auf die irdische Welt ausgedehnt.

Beide, Transzendenz und Immanenz, fallen zusammen und bilden eine einheitliche Realität.

Benjamin überwindet damit die klassische Spaltung in Geist und Materie.

Scholem spricht im Fortgang seiner Definition vom mystischen Augenblick: »Ist doch das Symbol (…) eine ›momentane Totalität‹, die in der Intuition, im mystischen Augenblick, als der dem Symbol gemäßen Zeitdimension erfasst wird« (Scholem, S. 30). Benjamin spricht vom »Jetzt der Erkennbarkeit« (Benjamin, GS I, S. 682 / GS VI, S. 46 u. a.). Es ist das gleiche Motiv.

Die mystische Erkenntnis vollzieht sich in Echtzeit,

»jede Minute sechzig Sekunden lang« (Benjamin, GS II, S. 310), nicht abgetrennt von der Zeit.

Lesen Sie mehr über die Verbindung von Philosophie und mystischen Erfahrungen, und was man daraus über die sinnliche und geistige Welt lernen kann.

Die Mystik der Merkaba

In der Merkaba-S. so Scholem, »finden wir hier nichts von einer unio mystica zwischen Gott und der Seele. Stets bleibt deutlichst gewahrt das Bewusstsein der Persönlichkeit, des Andersseins Gottes, ja es wird hier noch übersteigert! Aber auch die Person des Mystikers verliert ihre Konturen nicht, selbst nicht in der höchsten Ekstase. Schöpfer und Geschöpf stehen sich unvermischt gegenüber. […] Wer in der Ekstase alle Tore durchwandert, alle Gefahren bestanden hat, der steht vor dem Thron, der schaut und hört …« (Scholem, S. 60).

Die alten Merkaba-Mystiker sahen Gott als einen erhabenen König in großer Ferne. Erst später rückte er näher an die Welt heran und nahm den Charakter der Immanenz an. So schrieb Rabbi Eleasar von Worms im 13. Jahrhundert: »Gott ist überall und sieht Gute und Böse. Sprichst du daher Gebete, so sammle deinen Sinn, denn es heißt: ›Ich stelle Gott immer mir gegenüber‹; daher lautet der Anfang aller Benediktionen: ›Gelobt seist du, Gott‹ – etwa wie ein Mensch, der zu seinem Freunde spricht.« (Sefer Rasiel, Bl. 8b; vgl. Scholem, S. 117) Hier kommt eine Beziehung zu Gott wie mit einem Freund zum Ausdruck, die vom Gott als Gegenüber, als Du lebt.

Dieser Austausch ist ekstatisch und göttlich. Er vermag, die Seele zu erleuchten und ihr ihre wahre Bestimmung zu offenbaren.

Die jüdische Tradition entwickelte diese Verschiedenheit im Kern ihrer Philosophie, so der jüdische Theologe Martin Buber mit seinem »Dialogischen Prinzip: Ich und Du«, oder der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas mit seiner Philosophie des Anderen.

»Das Göttliche Selbst«, schreibt Arthur Green im Vorwort zur Pritzker-Edition des Sohar, »wie es in der Kabbala wahrgenommen wird, ist die Interaktion zwischen diesen sieben Kräften oder inneren Richtungen. In gleicher Weise ist auch jede menschliche Person Gottes Abbild in der Welt. Die heilige Struktur des inneren Lebens von Gott wird im Sohar auch das ›Mysterium des Glaubens‹ genannt und wird von den Kabbalisten durch die Jahrhunderte hindurch in zahllosen Bildern immer wieder verfeinert. ›Gott‹ ist in anderen Worten das erste Wesen, das aus der göttlichen Gebärmutter entspringt, das urerste ›Wesen‹, das Form annimmt in dem Maße, wie die unendlichen Energien des Ein Sof beginnen sich zu verbinden.« (Matt, Sohar, XLVIII)

Vielfalt und Individualität in der jüdischen Mystik

Die sieben Kräfte sind hier die vierte bis zehnte Sefiroth, die aus der dritten Sefira, Binah, hervorgehen, die als die Gebärmutter bzw. das weibliche Prinzip verstanden wird. Keter, die erste Sefira, ist die erste Regung einer Absicht innerhalb des Ein Sof, des Unendlichen. Keter ist die Krone, die Personifikation einer königlichen Identität, die höchste Manifestation des spirituellen Körpers, sowohl Gottes als auch der Seele. Keter bedeutet auch Kreis. Im Sefer Jezira, einer mystischen Schrift des Judentums aus dem 2. Jahrhundert, werden die Sefiroth als große Kreise beschrieben, »deren Ende in ihrem Anfang und deren Beginn in ihrem Ende eingebettet ist« (ebd., XLVII, vgl. Sepher Jezira 2:4). So schließt also Keter, als höchste Sefira, auch mit Malkuth, der untersten Sefira, einen Kreis, wo oben und unten gleich sind. Keter steht für Gott und Malkuth für die Shekhina, die Göttin. Auf diese Weise bilden die zehn Sefiroth auch die heilige Hochzeit von Göttin und Gott, Hieros Gamos. Aus Keter emergiert Chochmah, die zweite Sefira, »der erste und feinste Punkt einer realen Existenz« (ebd., XLVII). Chochmah ist die heilige Weisheit, die als Gegenstück zur weiblichen Binah männlich ist. Dies ist die erste Triade. Die zweite Triade beginnt wieder mit Gott, und faltet sich in die sieben weiteren Sefiroth aus.

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Erfahren Sie mehr über die mystische Tradition des Judentums und ihr Verständnis der Seele.

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Ronald Engert
Das personale Selbst
Vielfalt und Individualität in der jüdischen Mystik

In der jüdischen Mystik der Kabbala finden wir eine hermetische Entsprechung von Transzendenz und Immanenz, von Spirit und Materie. Das Verbindende dieser beiden Sphären ist das personale Selbst, unsere individuelle Seelenidentität, denn Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde. Die Vielfalt in der materiellen Welt hat ihren Ursprung in der Vielfalt der spirituellen Welt. Nur die Absicht ist in beiden Welten eine andere.
 

 

Artikelnummer: TV087e_06 Schlagwort:

 
 

Über den Autor

Der Autor Ronald Engert

Ronald Engert, geb. 1961. Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, später Indologie und Religionswissenschaften an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 2017 Bachelorabschluss in Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Schreibt gerade seine Master-Arbeit zum Thema mystische Sprachtheorie. Autor von »Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung« und »Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts«.

Blog: www.ronaldengert.com

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