Die Existenz ist anderswo

Die Existenz ist anderswo

Der mystische Kern der Kunst

Autor: Ronald Engert
Kategorie: Kunst, Musik & Literatur
Ausgabe Nr: 93

Kunst ist nicht nur eine handwerkliche Fertigkeit, sondern eine tiefe Erforschung der Wirklichkeit, eine radikale und kompromisslose Bestandsaufnahme, ein inneres Ringen der Künstlerin/des Künstlers um die richtige Form, die zur Seele des Betrachters spricht. Echte Kunst ist revolutionär und sprengt den Rahmen des Bekannten. Kunst ist Neu-Sehen. Das hat sie mit dem spirituellen Erwachen gemeinsam, der mystischen Ankunft im Hier und Jetzt. André Breton, Wassily Kandinsky und Walter Benjamin werden hier als ihre Zeugen aufgerufen.

»Ein Kunstwerk zu schaffen,
bedeutet, die Welt zu erschaffen.«

– Wassily Kandinsky (1866–1944)

»Saint-Pol-Roux befestigte, wenn er sich morgens zum Schlafen niederlegte, an seiner Tür ein Schild: ›Le poète travaille – der Künstler arbeitet.‹ Breton notiert: ›Still. Ich will, wo keiner noch hindurchgegangen ist, hindurchgehen, still! – Nach ihnen, liebste Sprache.‹ Die hat den Vortritt.«[1]

Ein wesentliches Element der Kunst besteht darin, noch nie Gesehenes sichtbar oder noch nie Gehörtes hörbar zu machen – und sich von vorgefassten Urteilen und Vorstellungen frei zu machen. Deshalb möchte Breton da hindurchgehen, wo noch niemand hindurchgegangen ist. Und Saint-Pol-Roux möchte schlafen, denn dann taucht er in sein Unbewusstes ab.

Der Surrealismus war nicht nur eine Kunstform (Surrealismus) unter vielen, sondern eine Bewusstseinserweiterung über das Alltagsbewusstsein hinaus in das Geistige oder – wie wir heute sagen würden – in das Spirituelle. Es ging im Surrealismus darum, das Ich zu transzendieren: »Im Weltgefüge lockert der Traum die Individualität wie einen hohlen Zahn.«[2] André Breton bringt in seinem ersten surrealistischen Manifest folgende Definition: »Reiner psychischer Automatismus, durch den man mündlich oder schriftlich oder auf jede andere Weise den wirklichen Ablauf des Denkens auszudrücken sucht. Denk-Diktat ohne jede Kontrolle durch die Vernunft, jenseits jeder ästhetischen oder ethischen Überlegung.«[3] Dies drückt sehr gut das surrealistische Prinzip aus: eine unmittelbare Wahrnehmung ohne rationale Überlegungen, ohne ästhetische Kriterien, ohne ethische Urteile, ja ohne Absicht, denn von dem, was wir wollen, sind wir immer durch die Zeit getrennt.

Sehen in Echtzeit

Benjamin untertitelte seinen großen Aufsatz über den Surrealismus von 1929 mit: »Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz«. Dies kann zweierlei bedeuten: Die europäische Intelligenz ist das Objekt und der Aufsatz ist die letzte Aufnahme von ihr, oder: Die europäische Intelligenz ist das Subjekt und macht eine letzte Momentaufnahme.
Tatsächlich könnte man den Surrealismus als dieses Subjekt verstehen, das ein letztes Mal in der Geschichte eine Momentaufnahme der Wirklichkeit gemacht hat. Das hieße, dass alles, was danach kommt, keine Wahrnehmung der Wirklichkeit mehr ist. Tatsächlich wurde die naive Abbildtheorie in der Philosophie, in der Kunst und auch in der Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts als obsolet erkannt. Man wurde sich bewusst, dass das, was wir sehen, nicht das ist, was da draußen wirklich ist. Vielmehr konstruieren wir eine Art von bedingter Realität durch unsere Wahrnehmung und unseren Geist, die subjektiv ist. In der Philosophie nennt sich diese Richtung »Konstruktivismus« und ist das Haupttheorem der sogenannten Postmoderne. Die allgemeine Verunsicherung führte dazu, dass im Konstruktivismus die Frage thematisiert wurde, ob da draußen überhaupt etwas ist.
Seit dieser Zeit wird die Möglichkeit bestritten, dass man die Wirklichkeit objektiv wahrnehmen kann. Seit dieser Zeit lebt jeder in seinem subjektiven Universum, und die Frage, was die Wirklichkeit – oder gar die Wahrheit – denn sei, wird als unbeantwortbar betrachtet. Deshalb schreibt Benjamin von dieser letzten Momentaufnahme.

Die naive Wahrnehmung der Realität, gleichsam wie ein zeitloses Abbild einer metaphysischen Wahrheit, war damals erstmalig nicht mehr möglich,

denn die Welt wurde zunehmend komplexer und die rasend schnellen Informationsquanten der Technisierung und der Massengesellschaft machten die Wahrnehmung zum Stückwerk. Man konnte es nicht mehr alles überblicken.

Der Surrealismus konnte dieses zeitlose Abbild nicht mehr leisten, aber er konnte etwas anderes: eine Aufnahme des Moments. Ein einzelnes Informationsquantum der Wirklichkeit – der Augenblick – wurde von den Surrealisten noch dargestellt. Es gab noch einen Gegenstand in der Kunst. Erst danach endete dies, und die Kunst begab sich scheinbar ganz in ein Spiel mit Form und Farbe, in die Abstraktion. Der Inhalt löste sich auf, nicht nur in der bildenden Kunst, sondern auch in der avantgardistischen Literatur. Im Poststrukturalismus wird heute noch vielfach die Sinnlosigkeit der Welt behauptet.

Wassily Kandinsky – Gelb, Rot Blau (1925)

Fußnoten:

[1] Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 296f.

[2] Benjamin, ebd., S. 297.

[3] André Breton: Erstes Manifest des Surrealismus, in: Als die Surrealisten noch recht hatten. Texte und Dokumente, Hofheim im Taunus 1983, S. 36 [Erstausgabe 1924].

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Wieso Wassily Kandinsky die abstrakte Kunst als mystisch beschrieb und inwieweit der Surrealismus die Wirklichkeit abbildet, liest du im vollständigen Artikel, der in Tattva Viveka 93 erschienen ist.

Tattva Viveka 93 - Das spirituelle in der Kunst

Tattva Viveka Nr. 93

Inhalt der Ausgabe

Schwerpunkt: Kunst und Spiritualität
Erschienen: Dezember 2022

Ronald Engert – Die Existenz ist anderswo. Der mystische Kern der Kunst • Cambra Skadé – Kunst als magischer Akt. Die Verbindung von Kunst, Magie und Heilen • Mike Kauschke – Werde wach mit allem. Poesie und Mystik im Gespräch mit dem Geheimnis • Dr. Thomas Anton Weis – Teilen als Synthese von Kunst und Spiritualität. Ein Integrationsprozess • Paula Marvelly – Das Leuchtende in der Kunst. Eine Meditation zu Nicolas Roerich • Alice Deubzer – Surrealismus und Magie – verzauberte Moderne. Ein Ausstellungsbericht • Frido Mann – Zwischen Geheimnis und Humanismus. Thomas Manns Verhältnis zur Religion • Alexandra Mann – Weltkloster – Begegnung durch Verbundenheit. Spiritualität als Brücke zwischen den Religionen • Tilmann Haberer – Von Gott und der Welt. Hat das Christentum heute noch Relevanz? • Dr. phil. Thomas Höffgen – Die Verteufelung der Natur. Religiöse Wurzeln unserer ökologischen Krise • Monika Alleweldt – Der Ruf der Erde an uns Menschen. Rückkehr zur Verbundenheit mit unserem blauen Planeten • Walter Benjamin – Die magische Sprache der Kraft. Wirkende Worte • Buchbesprechungen • u.v.m.

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Über den Autor

Tattva Viveka Chefredakteur Ronald Engert

Ronald Engert, geb. 1961. 1982–88 Studium der Germanistik, Romanistik und Philosophie, 1994–96 Indologie und Religionswissenschaften an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. 1994 Mitgründung der Zeitschrift Tattva Viveka, seit 1996 Herausgeber und Chefredakteur. 2015–22 Studium der Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2022 Masterarbeit zum Thema »Mystik der Sprache«. Autor von »Gut, dass es mich gibt. Tagebuch einer Genesung« und »Der absolute Ort. Philosophie des Subjekts«.

Blog: ronaldengert.com

2 Kommentare
  • Miku
    Gepostet am 12:56h, 05 Februar Antworten

    Es füllt sich das Café
    Es füllt sich :Stimmengewirr
    Geschirr klappert und man plappert
    Stühle werden gerückt
    Es wird nicht oft gelacht
    Viele Senioren
    “ als meine Tochter geboren
    Wurde”…Die ersten stehen schon wieder auf
    Das benutzte Geschirr geht in die Anreiche
    Weiche ,Satan, weiche!
    Hier ist der Dschungel unserer grauen Gewohnheiten
    “ das war jammerschade”
    Einatmen ausatmen
    Ein Mann erwähnt die Modelleisenbahn
    “Alte- Leute- Hobby” sagt sein Tischnachbar
    Beleibte blonde Mittvierzigerin mit Doppelkinn
    Sieht nicht zufrieden aus
    ( Von unterbezahlten Leuten soll man kein Lächeln und positive thinking
    Erwarten, ermahnte mich A.)
    Die Blonde redet fast nicht, schmiert sich ein Brötchen
    Einsichten _ Aussichten
    Einrichtung : runde und rechteckige Tische
    Kleine Ledersessel , Holzstühle
    Ein Bilderrahmen ohne Bild
    Deckenlampen, die wie UFOS aussehen
    Ausrichtung : eine Kreuzung in der Bahnhofstraße
    Dort am Fenster sitzt sie:
    Stupsnasige Frau mit Glitzer auf den Ärmeln entledigt sich
    Ihres modischen kleinen Rucksacks
    Nun huschen ihre dünnen Händchen über den Tisch
    Sieben grauhaarige Männer
    “ bin Kaffee nachholen” sagt der mit der dicken Brille
    Die Blonde beißt in ihr Brötchen lustlos
    Das kleine Glas Orangensaft ist halb leer
    “ Strom, Wasser, Steuerrechnung…”
    Die runden Deckenlampen fliegen davon
    “Moslems raus” , stand auf der Innenseite der Toilette
    Es ließ sich gut wegwischen

  • Mind Overmatter
    Gepostet am 20:02h, 28 Dezember Antworten

    “Ein Kunstwerk zu schaffen,
    bedeutet, die Welt zu erschaffen.”

    Ein sehr kraftvolles Zitat. Vielen Dank für den spannenden Beitrag Ronald.

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