30 Aug Die gesellschaftliche Akzeptanz von Achtsamkeit und Spiritualität
Ein Abbild des Bewusstseinsstandes der gegenwärtigen Gesellschaft – Teil 1
Autor: Prof. Dr. Niko Kohls
Kategorie: Bewusstsein
Ausgabe Nr: 96
Die Frage nach dem Bewusstseinsstand der heutigen Gesellschaft wird umso wichtiger, je mehr wir uns vor Augen führen, wie sehr sich unser Leben nach dem Entwicklungsgrad unseres Bewusstseins formt. Wie wichtig Emotionalität, Empathie, Achtsamkeit und Spiritualität in einer auf Effizienz und Leistung basierenden Gesellschaft sind, erklärt Niko Kohls im Interview. Achtsamkeit und Spiritualität erhalten Bedeutung, sobald sich Menschen die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen.
Tattva Viveka: Wir möchten über die Bedeutung der Spiritualität für den Menschen sprechen, und zudem über die Beziehung zwischen Wissenschaft und Spiritualität – die durchaus angespannt ist, bis hin zu beidseitiger Feindseligkeit. Du beschäftigst dich bereits seit langer Zeit mit dem Thema Achtsamkeit, das ein Teilbereich dieser Ebenen – Spiritualität und Wissenschaft – ist, und hast eine Reihe von Forschungen zu Meditation und Achtsamkeit veröffentlicht, gemeinsam mit anderen fachkundigen Wissenschaftlern wie Harald Walach oder Tilo Hinterberger.
Du gehst davon aus, dass etwa Anfang bzw. Mitte der 2000er-Jahre die Demarkationslinie [Grenze] der gesellschaftlichen Akzeptanz bei dem Begriff der Achtsamkeit lag, d.h., es war umstritten, ob diese überhaupt wissenschaftlich erfasst werden könne und seriös sei. In den letzten Jahren hat sich jedoch einiges geändert. Die Themen Achtsamkeit und Meditation sind salonfähig geworden. Sie wurden oft Gegenstand von Studien, bahnten sich ihren Weg in breitere Schichten der Gesellschaft, auch in Unternehmen beispielsweise, die entsprechende Kurse und Programme für ihre Mitarbeitenden anbieten. Der Begriff Spiritualität ist demgegenüber nach wie vor umstritten.
Trotzdem würdest du sagen, dass Spiritualität eine essenzielle Rolle im menschlichen Leben spielt. Am Anfang deines Buches ›Mehr Lebensfreude durch Achtsamkeit und Resilienz‹ trittst du sehr wissenschaftlich auf und gehst von der Physis aus: von der Gehirnphysiologie der Hormone beziehungsweise der Neurotransmitter, der körperlichen Symptomatik von Stress und dergleichen. Dann gehst du zur Komplementarität Achtsamkeit und Spiritualität über und schreibst am Ende des Buches: »Um den Zustand von Kohärenz zu erklären, muss man dabei eine andere, möglicherweise transzendente Dimension von Spiritualität berücksichtigen.
Denn Sinnhaftigkeit und Verbundenheit können vor allem als Resultat von spirituellen Erfahrungen und Überzeugungen angesehen werden.
Wie begreifst du Spiritualität? Wie wichtig ist sie für den Menschen? Wie kann man sie wissenschaftlich aufarbeiten und woran arbeitet die Wissenschaft in der Hinsicht momentan?
Prof. Dr. Dr. Niko Kohls: Vielen Dank erst mal, nun sind wir bereits mitten im Thema. Ich ging 2005 nach England, kam 2008 nach Deutschland zurück und gewann dann den Eindruck, dass die Gesellschaft in Deutschland deutlich offener für das Thema Achtsamkeit geworden ist und was in deren Kielwasser schwimmt. Achtsamkeitsbasierte Programme wurden sukzessive nicht nur im klinischen Bereich eingesetzt, sondern auch in Schulen, im Bildungsbereich. Sie wurden von Unternehmen angefragt, und ich hatte das Gefühl, dass sich etwas in der Wahrnehmung und Einstellung gewandelt hat. Man muss hinzufügen, dass in der angelsächsischen Welt die Themen Achtsamkeit und Spiritualität von der Wissenschaft und der Gesellschaft seit jeher offener betrachtet worden sind. Man kann sicherlich darüber spekulieren, woran das liegt.
Ich glaube, dieses implizierte Verbotsschild, das um die Themen Bewusstsein, Achtsamkeit, Spiritualität gehangen wurde, zumindest in wissenschaftlich/intellektuellen/akademischen Kreisen, hängt stark damit zusammen, dass wir eine spezielle deutsche Vergangenheit haben.
Gerade im Dritten Reich – vor allem auch bezogen auf die Pädagogik und Erziehungswissenschaft der Nationalsozialisten – sieht es nach folgendem Narrativ aus: Ein Individuum gibt sich dem großen Ganzen hin, und das große Ganze ist als Volkskörper gedacht, durchaus in einem metaphysisch aufgeladenen, aber gleichzeitig biologisierten Sinne. Das hat, wie wir alle wissen, eine ziemliche Sprengkraft, und da liegt meines Erachtens ein großer Stolperstein, der es daraufhin in Nachkriegszeiten mit seiner historischen Diskontinuität sehr schwierig gemacht hat, die genannten Themen – zumindest innerhalb des deutschen akademischen Systems – weiter zu bearbeiten.
Man kann etwas vereinfacht sagen, dass
mit der Frankfurter Schule diese Aussage aufkam: Jede Theorie oder jedes Konzept, das für sich in Anspruch nimmt, universalistisch gültig zu sein, ist per Definition faschistoid,
und das kann man ganz klar auch der Spiritualität (was auch immer das ist, darüber ist sich die Wissenschaft ebenfalls uneinig) überstülpen. Damit ist das Thema sofort vom Tisch. Der nächste Punkt ist, dass Spiritualität schwierig zu definieren ist. Ich fing vor vielen Jahren damit an, Definitionen zu sammeln, und hörte bei der etwa 380. Definition auf. Eine sinnvolle Unterscheidung ist die einer vertikalen und einer horizontalen Form der Spiritualität. Die horizontale Spiritualität ist eine humanistische, empathisch-mitfühlend-fürsorgliche, mit der Welt verbundene. Da wäre keine metaphysisch-transzendentale Komponente enthalten. Die Geister scheiden sich stark, ob ein säkularer Humanismus oder ein naturalistisch getragener ethischer Humanismus schon als spirituell zu bezeichnen wäre.
Wer beispielsweise die Diskussionen in Amerika um Steve Pinker, Sam Harris oder Jordan Peterson und weitere Protagonisten verfolgt, der sieht, dass gegenwärtig viele Fragen rund um das Thema »Was ist eigentlich Spiritualität?« und die Sinnhaftigkeit der Existenz bzw. die Frage nach den Kriterien eines erfüllten Lebens kreisen.
Ein Stück weit ist Spiritualität auch ein Black-Box-Thema. Wir können einfach nicht behaupten, eine Definition von Spiritualität gefunden zu haben, über die sich alle einigen könnten und über die menschenbild- und weltanschauungsübergreifend Konsens bestünde.
Fairerweise muss man hinzufügen, dass es selten in der Wissenschaft einen allgemeinverbindlichen Konsens gibt, dem fast alle zustimmen. Dieser besteht ab und zu, beispielsweise in der Medizin, wo es eine feststehende Definition dessen gibt, was ein normaler Blutdruck ist; die Frage, wie viel Abweichung davon hinnehmbar ist, also normative Grenzwerte für den systolischen bzw. diastolischen Blutdruck, wird schon deutlich kontroverser diskutiert.
Aber bei einem so komplexen und facettenreichen Thema wie Spiritualität ist dies äußerst schwierig. Bei der Achtsamkeit ist es ein Stück einfacher, weil sie prägnanter als ein spezifischer Bewusstseinszustand beschrieben werden kann. Deshalb fallen hier zumindest die Deutung und die Definition ein wenig leichter, wobei es nicht unumstritten ist, aus wie vielen Faktoren die Achtsamkeit tatsächlich besteht. Die psychometrischen Messinstrumente gehen von unterschiedlichen Konstrukten mit spezifischen Faktoren aus – im Fall des von unserer Arbeitsgruppe entwickelten Freiburg Mindfulness Inventory (FMI) sind das etwa Präsenz oder Akzeptanz. Der Begriff »Spiritualität« ist jedoch weitaus facettenreicher.
Der zweite Teil des Interviews folgt in Tattva Viveka Nr. 97. Darin mehr zur Resilienz des Menschen und zum spirituellen Faktor in der Wissenschaft.
Das Interview führte Ronald Engert.
Dies ist nur der Anfang des Artikels.
Willst du mehr darüber erfahren, was Spiritualität und Transzendenz eigentlich sind? Das erklärt der Autor im vollständigen Artikel, der in Tattva Viveka 96 erschienen ist.
Tattva Viveka Nr. 96
Wähle: Einzelheft, Abo oder Tattva Members
Schwerpunkt: Bewusstsein
Erschienen: September 2023
Prof. Dr. Niko Kohls – Die gesellschaftliche Akzeptanz von Achtsamkeit und Spiritualität. Ein Abbild des Bewusstseinsstandes der gegenwärtigen Gesellschaft • Prof. Dr. Dr. Hans-Peter Dürr – Das Geistige ist die treibende Kraft. Wie das Bewusstsein die Materie erzeugt • Saskia Baumgart – Von Märchen, Heiligen Büchern & anderen Narrativen. Auf dem Weg zum Bewusstsein des dritten Jahrtausends • Ronald Engert – Wie funktioniert die Wirklichkeit? Die Bedeutung der Quantenphysik für die Philosophie • Marcus Schmieke – Bewusstsein, Leben und Kohärenz. Den Verschränkungen des Lebens auf der Spur • Martin Bertsch – Holistische Bewusstseinsentfaltung • Preethaji – Jenseits des Verstandes das Göttliche erkennen. Der innere Weg als Lösung für die Probleme der Welt • Dr. Heide Göttner-Abendroth – Die Erstentstehung des Patriarchats – einmal oder mehrmals? • Saskia Baumgart – Waters Of Life: Exploring Mythos, Divinity, Beings, and Ecology • Bericht zur Konferenz der Association for the Study of Women and Mythology • Guido Nerger – Die Hermetik als Bindungsglied zwischen Geist und Materie. Ein lebensbejahendes Erkenntnismodell • Dandapani – Konzentration für ein Leben voller Sinn und Freude. Wie wir mit mehr Fokus unsere Ziele erfolgreich erreichen • u.v.m.
Zum Interviewten:
Der Medizinpsychologe Prof. Dr. Niko Kohls beschäftigt sich seit mehr als 30 Jahren wissenschaftlich mit Achtsamkeit, Spiritualität und ihrem Zusammenhang mit Selbstregulationsfähigkeit, Resilienz und Gesundheit. Seit 2013 ist der gebürtige Münchner an der Hochschule Coburg als Professor für Gesundheitswissenschaften mit dem Schwerpunkt Gesundheitsförderung tätig. Im Sommer 2022 ist sein Buch Mehr Lebensfreude durch Achtsamkeit und Resilienz – Gelassener und stärker durch die richtige Balance erschienen. Er unterrichtet seit über 25 Jahren als Dozent an Universitäten und Hochschulen, hat mehr als 100 wissenschaftliche Publikationen verfasst sowie mittlerweile über 500 Keynotes, Vorträge, Seminare und Workshops für Schulen, Hochschulen und Unternehmen abgehalten. Im Jahr 2019 wurde er in die Europäische Akademie der Wissenschaften und Künste zu Salzburg berufen. 2023 hat er mit seinen Kollegen das Institut für Mensch & Ästhetik gegründet (https://www.institutaesthetik.de/).
Weitere Artikel zum Thema
- TV 95: Prof. Dr. Maik Hosang – Ein metamoderner Begriff der Seele
- TV 87: Dr. Sylvester Walch – Transpersonales Selbst. Innere Weisheit und die Sehnsucht nach Befreiung
- TV 87: Dr. Sarah Pohl – Parapsychologie im rationalen Zeitalter.
Außergewöhnliche Erfahrungen in der Psychotherapie - TV 81: Dr. Sylvester Walch – Die transpersonale Dimension des Sterbens. Die Sinnfrage im Leben
- TV 68: Jorg Fuhrmann – Krise als Wachstumschance. Wie wir tiefe Erschütterungen bewältigen
- TV 26: Dipl. Psych. Gisela Belloff – Die Lehre von der Seele. Von der Psychologie zur Spiritualität
- TV 03: Harley Swift Deer – Das Rad des Verlustes der Individualität. Schamanische Psychologie
- OS 17: Mini-Symposium – Potentialentfaltung: biologisch, psychisch, spirituell
- OS 17: Prof. Dr. Niko Kohls – Medizinpsychologie
Bildnachweis: © Adobe Photostock
Keine Kommentare