23 Mai Ein metamoderner Begriff der Seele
Der zentrale Moment von zukunftsfähiger Psychologie und Philosophie, Kultur und Gesellschaft
Autor: Maik Hosang
Kategorie: Philosophie
Ausgabe Nr: 95
In der Neuzeit ist der Begriff der Seele sowohl in der Philosophie als auch in der Psychologie verloren gegangen. Hosang tritt für die Wiedereinführung ein, und zwar als dritte Größe zwischen Materie und Geist. Dabei möchte er die Seele nicht als vom Menschen unabhängige Entität verstanden wissen, sondern als ein Integrationsorgan der Psyche mit dem Weltgrund, letztlich sein Bewusstsein, das zu Sehnsucht, Liebe, Freude und Freiheit fähig ist.
»Uns erschüttern geheime Schauer und dunkle Vorahnungen; aber wir sehen keinen Ausweg, und nur wenige Menschen kommen zum Schluss, dass es diesmal um die lange in Vergessenheit geratene Seele des Menschen geht.« (C. G. Jung)
Die Ursprünge von Psychologie und Psychotherapie und ebenso der Philosophie sind untrennbar mit dem Begriff der Seele verbunden. Abgesehen von alltagssprachlichen oder esoterischen Verwendungen verschwand dieser Begriff jedoch nach und nach aus wissenschaftlichen Diskursen. Ziel dieses Beitrags ist es daher, auf der Basis der dezidierten Seelen-Konzepte von R. H. Lotze und C. G. Jung eine metamoderne Neudefinition dieses Begriffs vorzunehmen. Weiterhin soll verdeutlicht werden, dass einige Lücken moderner Wissenschaft und einige Probleme moderner Kultur ohne die Integration eines transdisziplinären Begriffs der Seele nicht lösbar sein werden. Entscheidende Humanqualitäten wie Bewusstsein, Sehnsucht, Liebe, Intensität und Freiheit lassen sich nur als Potenziale der Seele verstehen und entfalten.
Eine kurze Kulturgeschichte der »Seele«
Der Begriff »Seele« war unter anderem Ausgangspunkt des Wissenschaftszweigs »Psychologie«, verschwand jedoch mit zunehmender Differenzierung dieser Wissenschaft mehr und mehr wieder aus ihr. Ein für die Herausbildung dieses Wissenschaftszweigs in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht unwichtiger Arzt und Philosoph, Rudolf Hermann Lotze (seinerzeit »the most influential philosopher in Germany, perhaps even the world«, Stanford-Encyclopedia 2005), verfasste ein Werk zur »Physiologie der Seele« (Lotze 1852), in dem er die Bedeutung dieses Begriffs gegen jegliche materialistische wie auch geistige Vereinseitigungen verteidigte. Das Buch beginnt mit einem Kapitel dazu, warum der Begriff der Seele notwendig und nicht durch andere, weniger komplexe Begriffe ersetzbar ist (»Von den Gründen für die Bildung des Begriffs der Seele«). Noch heute erscheint die Argumentation Lotzes äußerst differenziert und wirft einmal mehr die Frage auf, warum dieser Integrationsbegriff weitgehend aus der Wissenschaft verschwunden ist.
Blickt man mit kulturkritischer Offenheit und Skepsis auf diese Entwicklung, so lässt sich die Verdrängung der »Seele« aus der Wissenschaft parallel zum Siegeszug der modernen Industriegesellschaft verorten. Die Tendenz ihrer Verdrängung gibt es jedoch bereits seit Beginn moderner Wissenschaft. Bereits weite Teile der griechischen Philosophie blendeten sie aus. Prägnant zeigt sich das am klassischen Satz von Descartes »Ich denke, also bin ich«, der die entscheidende Trennung von Geist und Materie in den sich hieraus entwickelnden Weltanschauungen symbolisiert. Diese Entwicklung setzte sich in der Renaissance und Aufklärung fort. Spätere Denker sehen entweder den Geist (das Denken) oder das Sein (die Materie) als primäre Dimension; die für beider Zusammenspiel
entscheidende dritte Dimension, die traditionell durch den Begriff der Seele erfasst wurde, wird jeweils vernachlässigt.
Vermutlich erfolgte diese Vernachlässigung oder Verdrängung des Begriffs der Seele in der vorwiegend materialistisch orientierten Industriegesellschaft und ihren Wissenschaftssystemen deshalb, weil das kulturelle Bewusstsein einer dritten Dimension zwischen Materie und Geist die effektive Entfaltung der Industriekultur behindert hätte. Nur ohne oder mit wenig »Seele« gelang der Siegeszug naturwissenschaftlicher Wissenschaft und Technik und zumindest für die westlichen Industrieländer auch ein allgemeiner materieller Lebensstandard, wie er zuvor kaum vorstellbar war. Doch die trotz aller materiell-technischen Erfolge ebenfalls
wachsenden ökologischen und seelischen Krisen deuten darauf hin, dass es Zeit wird, diese verdrängte Kategorie menschlicher Existenz wieder mit in den Fokus moderner Wissenschaft zu integrieren.
Denn ihre zwar zunehmende, doch bisher nur populärwissenschaftliche oder esoterische Reaktivierung wird den Ansprüchen zukunftsfähiger Wissenschaft und Kultur nicht gerecht.
Die populären oder esoterischen Seelenbegriffe bleiben nicht nur zu unkonkret, sie reaktivieren oft auch jene Tendenzen von magisch-mythischer Wirklichkeitsflucht, deren kritische Auflösung eine entscheidende Leistung moderner Wissenschaft und Kultur war und ist.
Bevor im Folgenden versucht wird, den Begriff der Seele metamodern zu rekonstruieren, noch einige Bemerkungen zum Begriff selbst. Da das Wort »Seele« oft zur Projektion einer eigenständigen, von menschlichen Individuen und deren Leben unabhängigen Entität verleitet, wäre für das unten Ausgeführte vielleicht ein weniger festes, sondern fließenderes und fragileres Wort besser. Daher gibt es Denker, die stattdessen vom »seelischen Wesen« (Aurobindo Ghose), vom »antizipierenden Bewusstsein« (Ernst Bloch), vom »überschüssigen Bewusstsein« (Rudolf Bahro), vom »Wärmestrom« (Joseph Beuys) oder von existenziellen Grundwerten des Guten, Wahren und Schönen (Ken Wilber) sprechen. Im Sinne begrifflicher Klarheit verwende ich im Folgenden dennoch meist das Wort »Seele« und bitte darum, es als offenen Begriff zu verstehen, der keine feste Entität, sondern ein besonderes menschliches Potenzial bezeichnet.
Dies ist nur der Anfang des Artikels.
Willst du mehr über den Seelen-Begriff bei C. G. Jung und R. H. Lotze erfahren? Dann lies den vollständigen Artikel, der in Tattva Viveka 95 erschienen ist.
Tattva Viveka Nr. 95
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Schwerpunkt: Seele
Erschienen: Juni 2023
Maik Hosang – Ein metamoderner Begriff der Seele. Der zentrale Moment von zukunftsfähiger Psychologie und Philosophie, Kultur und Gesellschaft • Ronald Engert – Seele, Körper und Befreiung in der Bhagavad-gītā. Leben in der göttlichen Ordnung • Dr. Jens Heisterkamp – Die Seelen-Lehre Rudolf Steiners. Von den drei seelischen Dimensionen • Sebastian F. Seeber – Die Seele bei Platon. Über die Selbsterkenntnis des Menschen • Dieter Schnocks – C. G. Jungs Verständnis der Seele. Grundlagen des Modells der Analytischen Psychologie • Samuel Eckhart – Die Ogdoadische Tradition. Rückkehr im Lebendigen Licht des Glorreichen Sterns • Nora Philine Hansing – Die Revolution der Seele. Wegweiser in eine erwachte Kultur der Allverbundenheit • Stefanie Aue – Göttinnen im Tantra. Die zehn göttlichen Erkenntniswege der Dasha Maha Vidyas (Teil 2) • Akambi Oluwatoyin – Charakter ist Spiritualität. Warum die Charakterbildung in der Nago-Tradition die Grundlage für Spiritualität darstellt • Armin Denner – Der esoterische Tarot. Wahrsagerei oder »Die Wahrheit sagen«? • Christiane Krieg – Krafttiere. Spirits der Schamanen • Gerlinde Henriette Stärk – Wieder erinnern lassen. Von meiner erwach(s)enden Liebe zur Erde • u.v.m.
Zum Autor
Maik Hosang ist Philosoph, Sozialökologe und Waldgärtner. Er lehrt Studierenden Ästhetik und Kreativität, erforscht menschliche Transformationspotenziale und gesellschaftliche Transformationsprozesse, gestaltet philosophische Erlebniswelten und schreibt Bücher wie »Die Kunst des Liebens im Tun«, »Der integrale Mensch« und »Die emotionale Matrix«. Mehr zu seinen Forschungen auf cocre.eu.
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