Ja zur Endlichkeit mithilfe der Ahnen

Ja zur Endlichkeit mithilfe der Ahnen

Die Transformation von Trauer zu Dankbarkeit mit einem westafrikanischen Ritual

Autor: Hans-Jochen Müller
Kategorie: Schamanismus
Ausgabe Nr: 82

Ahnen- und Trauerrituale spielen in traditionellen Gesellschaften eine wichtige Rolle. Hier wird der Kreislauf des Lebens gewürdigt wie auch Kontakt zu den Ahnen aufgenommen. Der Autor nahm selbst an einem westafrikanischen Ritual teil und passierte die Schwelle zwischen der hiesigen Welt und der der Ahnen.

Die Präsenz des Todes begleitet uns unser ganzes Leben lang vom Tag der Geburt bis zum letzten Atemzug. In unserer auf Selbstoptimierung ausgerichteten Leistungsgesellschaft werden Verlust, Alter, Krankheit und Tod so weit wie möglich verdrängt, obwohl ausnahmslos jeder im Laufe des Lebens mit der Vergänglichkeit des Daseins konfrontiert wird. Was wäre, wenn wir vorbehaltlos Ja zu unserer Begrenztheit sagen könnten?

Der irische Philosoph John O‘Donohue (2010) formuliert es so:

Wunden werden uns nicht zugefügt, um uns zu erniedrigen und einzuschüchtern; sie werden uns zuteil, damit wir uns öffnen und es der Güte, dem Mitgefühl und der Schönheit ermöglichen, in uns Wurzeln zu schlagen. Wunden halten kostbare Geschenke für uns bereit; doch es erfordert eine harte Lehrzeit, ehe sich die Tür des Segens für uns öffnet.

In meinem Psychologiestudium wurde mir eine gehörige Portion Skepsis antrainiert. Ich erinnere mich gut an die erste Vorlesung über Psychotherapie, in der ich voller Spannung saß, um endlich die Anwendung dieser modernen und wissenschaftlich geprüften Techniken zu erfahren. Die Überraschung hätte kaum größer sein können: Der Professor startete ein Tonband, beschallte uns mit rhythmischen Trommeln und verstörte uns mit der folgenden Aussage:

Die ersten Psychotherapeuten waren die Schamanen!

Viele Jahre später in einem Wald in Nordengland. Es ist Nacht, aber ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Ein Feuer brennt, der nahe Fluss rauscht, ich höre die Trommeln und einen fremdartigen, tragenden afrikanischen Gesang. Ich gehe zu Mike und tippe ihm auf die Schulter, das ist das verabredete Zeichen. Wir betreten gemeinsam die Sphäre der Ahnen. Bis auf Mike und seine Freundin habe ich keine der etwa 20 anwesenden Personen jemals zuvor gesehen, und auch bei den beiden ist es ein Jahr her, dass wir uns zufällig auf der winzigen Insel Iona getroffen haben, um ein Kloster zu besuchen, das dort vor etwa 1400 Jahren gegründet wurde. Eine sehr lange Zeit, und doch ist das Ritual, das wir heute durchlaufen, noch Tausende Jahre älter.

Am Nachmittag wurde der Platz für das Ritual vorbereitet. Die Feuerstelle wurde gegraben, mit Steinen und Ästen, Kerzen und Blumen wurden die Grenzen markiert, ein Eingangsportal für den jenseitigen Bereich wurde gebaut und zwei Schreine wurden aufgebaut.

Ja zur Endlichkeit mithilfe der Ahnen

Am Trauerschrein werden symbolisch der Schmerz und die Trauer abgelegt. Der Ahnenschrein wurde mit persönlichen Objekten, Fotos und Blumen geschmückt, sodass die Ahnen und Hilfsgeister sich an diesem Ort willkommen fühlen. Dorthin gehe ich nun zusammen mit Mike, es brennen Kerzen und ich setze mich für eine Weile auf den Boden. Ein altes Schwarz-Weiß-Foto vor mir zeigt meinen Großvater als ausgelassenen jungen Mann in den 50er-Jahren, balancierend auf einem Baumstamm. Obwohl ich ihm sehr nahe war und im Alter von 17 seine Hand hielt, als er vor Jahren starb, gibt es vieles, was ich gerne noch von ihm erfahren hätte. Daneben ist ein Foto von meiner Großmutter. Alles Leid, was ihr widerfahren ist – Flucht, Armut, Ermordung von Familienangehörigen, Krankheit –, hat sie nicht zu einem verbitterten Menschen gemacht. Das hat mich schon immer inspiriert. Ihre Bestätigung und Zuversicht waren etwas, was mir nach ihrem Tod sehr gefehlt hat. Mit ihrer Lebenserfahrung vermittelte sie mir die Sicherheit, dass alles gut werden kann.

In dieser Zwischenwelt kann ich meinen Ahnen alles sagen, was noch gesagt werden will, ich bedanke mich für die Liebe, die ich empfangen habe, und bitte um Weisheit für schwierige Situationen und Entscheidungen, die auf mich zukommen. Noch ist alles sehr kopflastig, meine Emotionen sind blockiert, bis Mike mit seiner sanften Stimme zu mir sagt: »Es ist okay!«, und mir seine Hand auf die Schulter legt.

Plötzlich kann auch meine Traurigkeit fließen, und mit ihr die Tränen.

Nach einer unbestimmten Weile mit weiteren verstorbenen Familienmitgliedern bin ich bereit, wieder zurückzugehen, zurück in die Welt der Lebenden.

 

Alle Wesen und Elemente sind verwoben in das große Netz des Lebens.

Häufig geht es bei Trauer um mangelnden Gefühlsausdruck, ob Traurigkeit, Wut, Schuldgefühle oder Verlassenheit. Manchmal gibt es Unerledigtes, Ungeklärtes oder eine schlichte Weigerung, den Tod zu akzeptieren. Das kann auf Dauer krank machen. Heute Nacht tragen wir alle zusammen diese kollektive Trauer mit, die unserer rituellen Gemeinschaft und der Erde dient, auf der wir stehen.

Tradition mit afrikanischer Herkunft

Diese Tradition stammt aus der Kultur der Dagara in Burkina Faso und zählt zu den Wasserritualen, die der Versöhnung und Reinigung dienen. Malidoma Somé, ein Dagara-Ältester, definiert ein Ritual als »Verweben individueller Persönlichkeiten und Eigenschaften in eine Gemeinschaft, die mit den Kräften der Natur interagiert. Wir meinen, Zusammenkünfte von Menschen mit klarem Wissen über Heilungsvorgänge und einem felsenfesten Vertrauen auf die Kräfte der unsichtbaren Welt« – während die Grundbestandteile des Rituals festgelegt sind, wie das aufwendige Gestalten des rituellen Raumes, die Anrufung des Göttlichen, der Hilfsgeister und Ahnen, der Heilungsprozess und die Wiederherstellung des Naturzustandes. Aber niemand kann zuvor sagen, was genau passiert und wie lange es dauert. Gerade für den Heilungsvorgang ist es wichtig, die Kontrolle abzugeben, der Intuition zu folgen und sich dem Geschehen anzuvertrauen. Deshalb ist auch die Dauer ungewiss, es ist zu Ende, wenn es zu Ende ist und jeder der Teilnehmer sich mit seinen Anliegen auseinandersetzen konnte.

Nach der Weisheit der Dagara trägt jeder Mensch eine wichtige Gabe (»Medizin«) in sich, die die Gemeinschaft dringend braucht. Bei der Geburt wird aber vergessen, worin diese Bestimmung besteht, und es ist die Aufgabe eines jeden, diese herauszufinden und zu verwirklichen.

Es geht um Verbundenheit mit den Ahnen und den Urenkeln, den Nächsten und den Fernsten, zeitlich und räumlich und über die menschliche Spezies hinweg. Alle Wesen und Elemente sind verwoben in das große Netz des Lebens. Es geht um Achtsamkeit im respektvollen Miteinander und den eigenen inneren Prozessen gegenüber.

Wenn Sie mehr über die afrikanischen Wurzeln dieses Rituals erfahren möchten, können Sie den vollständigen Artikel als Pdf unten bestellen und herunterladen.

Ja zur Endlichkeit mithilfe der Ahnen

Wir alle entstammen aus Wasser und Feuer.

Ziel ist das Loslassen von unnötigem Ballast und das Erreichen einer Grundhaltung von Dankbarkeit. Dies drückt sich in den kleinen Ritualen aus, die wir gemeinsam durchführen, wenn wir uns um die Flammen oder am Flussufer versammeln. Jeden Morgen wird dem Feuer und dem Wasser eine kleine Opfergabe als Anerkennung gebracht, dass wir alle diesen Elementen entstammen. Die Monate vor unserer Geburt verbringen wir im Fruchtwasser, und irgendwann in dieser Zeit bewirkt ein Funke oder elektrischer Impuls unseren ersten Herzschlag.

Immer wieder überrascht es mich, wie natürlich sich alle Rituale anfühlen. Kann es daran liegen, dass wir hier mit unserem archaischen kulturellen Erbe in Berührung kommen, bevor Sprachen, Traditionen, Ideen und Territorien die Menschheit tausendfach zersplittert haben?

Die Teilnehmer haben die verschiedensten Hintergründe und sind alles hellhäutige Westler, was durchaus eine Ironie in sich birgt. Als wir nach den vier Tagen auseinandergehen, ist spürbar, dass auch zwischen uns etwas gewachsen ist, und es fällt schwer, sich zu verabschieden.

Auch wenn das Retreat sehr bereichernd und horizonterweiternd war, hatte ich keine Vorstellung, welche weiteren Folgen es nach sich ziehen würde. Aber genauso wie es Signale gab, die mich zu dieser Erfahrung geleitet haben, gab es auch hinterher immer wieder Aspekte, die mich daran erinnern, das, was ich erfahren habe, wertzuschätzen und zu bewahren!

 

Vom 7.–10.05.2020 wird das Grief & Gratitude Ritual mit Kedar Brown in Portugal zu erleben sein (englisch), Gastgeber ist die Mount of Oaks Community. Mehr Informationen vom Autor unter info@burnoutpraevention.berlin

Der Autor H.-J. Müller

Zum Autor

Hajo Müller ist Diplom-Psychologe und nach einem Berufseinstieg in Wirtschaft und Bildung heute als approbierter Psychotherapeut in einer Klinik im Berliner Umland tätig. Dort leitet er eine achtsamkeitsbasierte Suchtgruppe. Er befasst sich seit einigen Jahren mit Yoga, Meditation, Zenbogenschießen, Naturspiritualität, christlicher Mystik und transpersonaler Psychologie. Er ist davon überzeugt, dass die Wiederentdeckung alter überlieferter Traditionen uns nicht nur individuell enorm bereichert, sondern darüber hinaus auch heilsame Impulse für die Fehlentwicklungen der postmodernen Gesellschaft setzen kann.

Dies sind Ausschnitte aus dem Artikel.

Lesen Sie die vollständige Fassung in Tattva Viveka 82 oder downloaden Sie diesen Artikel einzeln als ePaper für 2,00 € (Pdf, 6 Seiten).

Von Trauer zu Dankbarkeit (PDF)

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H.-J. Müller
Ja zur Endlichkeit mithilfe der Ahnen

Ahnen- und Trauerrituale spielen in traditionellen Gesellschaften eine wichtige Rolle. Hier wird der Kreislauf des Lebens gewürdigt wie auch Kontakt zu den Ahnen aufgenommen. Der Autor nahm selbst an einem westafrikanischen Ritual teil und passierte die Schwelle zwischen der hiesigen Welt und der der Ahnen.
 

 

 
 

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